Kitabı oku: «a tempo - Das Lebensmagazin»

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1 – über a tempo

a tempo - Das Lebensmagazin

a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.

a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.

Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.

2 – inhalt

3 – editorial Wo kommst du her? von Jean-Claude Lin

4 – im gespräch Vom Gegenglück des Denkens Barbara Bleisch im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

5 – thema Leben mit dem Schöpferischem von Jean-Claude Lin

6 – augenblicke Offene Mauern von Lou Bertalan (Text & Fotos)

7 – herzräume Kurz woanders von Brigitte Werner

8 – erlesen Michael Krüger «Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch» gelesen von Christa Ludwig

9 – mensch & kosmos Denken wie ein Wassermann von Wolfgang Held

10 – alltagslyrik – überall ist poesie – Die Ofenkachel und das Sieb von Christa Ludwig

11 – kalendarium April 2021 von Jean-Claude Lin

12 – was mich antreibt Glückskeksantrieb von Christa Ludwig

13 – unterwegs Werde ein Mensch mit Initiative von Daniel Seex und Jean-Claude Lin

14 – kindersprechstunde Gesund bleiben in einer veränderten Welt von Dr. med. Karin Michael

15 – blicke groß in die geschichte Der ewige Empereur. Zum 200. Todestag von Napoleon von Konstantin Sakkas

16 – von der rolle Romeo und Julia außer Atmen. Der Film «Du mich auch» von Elisabeth Weller

17 – hörenswert Charles Ives: Ein Pionier der US-Musik von Thomas Neuerer

18 – wundersame zusammenhänge In den Fallstricken der Sprache von Albert Vinzens

19 – literaratur für junge leser Ulf Stark «Die Ausreißer» gelesen von Simone Lambert

20 – mit kindern leben Aprillaune von Bärbel Kempf-Luley und Sanne Dufft

21 – sehenswert «Neues aus der Welt» von Konstantin Sakkas

22 – eine seite lebenskunst Geblümte Eier von Kathrin Bender

23 – sudoku & preisrätsel

24 – tierisch gut lernen Wenn's das Leben fordert ... von Renée Herrnkind und Franziska Viviane Zobel

25 – suchen & finden

26 – ad hoc Ein neues Schiff von Karin Kontny

27 – bücher des monats

28 – impressum

3 – editorial

Wo kommst du her?

Liebe Leserin, lieber Leser!

Am Vorabend meiner Einbürgerung ging ich durch die Stuttgarter Innenstadt und ertappte mich nachsinnend über die Fragen: Wo kommst du her? Wo willst du hin? Wo bist du zu Hause?

Die erste Frage stelle ich gerne, wenn ich gelegentlich im Taxi fahre. Es ist zwar eine Frage, die nicht mehr so ohne Weiteres gestellt werden darf, aber, da ich selbst ein Einwanderer und nur zur Hälfte ein Weißer bin, erlaube ich mir, sie dem Fahrer – es sind ja zumeist Fahrer, die mich befördern – zu stellen. Es interessiert mich, wie einer, der augenscheinlich oder hörbar nicht ursprünglich Deutscher ist, nach Deutschland gekommen ist – so wie ich, der ich in London geboren und aufgewachsen bin, der Liebe wegen nach Deutschland kam. Seit vierzig Jahren lebe ich nun in Stuttgart, hatte aber bereits einige Jahre zuvor bei meinem ersten Besuch in dieser Stadt, oben auf der Haußmannstraße stehend mit dem Blick hinunter auf die Innenstadt, die Empfindung: Hier würde ich auch gerne leben!

In die zwei Städte meiner Kindheit und Jugend, London und Paris, fahre ich immer wieder gerne, wenn sie auch für mich kein Zuhause mehr sind oder gar sein könnten. In die Stadt meiner Tante und des Klosters San Marco mit den Fresken Fra Angelicos, Florenz, fahre ich auch gern und wäre auch gern auf den Spuren Giovanni Bellinis in Venedig oder El Grecos in Toledo unterwegs. Spanien wie auch Portugal, insbesondere angeregt durch die sprachmächtigen, sehnsuchtsvollen Dichtungen des niederländischen Schiffsarztes Jan Jacob Slauerhoff, der sich in Portugal so zuhause fühlte, bleiben mir noch Fernziele. Zuhause fühle ich mich zunächst tatsächlich in Stuttgart. Hier arbeite ich. Hier wurden meine Kinder geboren. Hier lebte ich vierunddreißig Jahre lang mit meiner in­­zwischen verstorbenen Frau Susanne. Aber auf einer anderen Ebene muss ich feststellen, dass ich mein noch länger währendes Zuhause in der Waldorfschule und bei meinen französischen, Literatur liebenden Großeltern entdeckte: in den vielen Geschichten, die erzählt oder durch Bücher vermittelt wurden. Und solange ich mich mit der Möglichkeit der Vertiefung in Romane und Geschichten, durch die um mich versammelten Bücher, umgeben kann, werde ich ein Zuhause haben. Das Gefühl davon ist allerdings so stark, dass ich mich wieder mal nachsinnend ertappe, etwas bangend auf das Leben nach dem Tod zu blicken, denn dort werde ich keine Bücher mehr um mich haben. – Welche Geschichten werde ich dann hören oder «lesen» können …

Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, wünsche ich im Monat des Welttags des Buches noch viele vergnügliche Stunden im Zuhören oder Lesen einer Geschichte!




4 – im gespräch

Vom Gegenglück des Denkens.

oder «Nachher ist man immer klüger …»

Beate Bleisch im Gespräch mit Doris kleinau-Metzler

Fotos: Wolfgang Schmidt

Frühling ist’s. Mehr als sonst hebt es meine Stimmung, wenn ich raus in die Natur gehe, dem Hamsterrad der Gewohnheiten entkomme, die neuesten Nachrichten über Corona nicht kommentiere. Am besten klappt’s, wenn ich statt des Pauschalen «Frühling, das Wachsen und Werden …» genau hinschaue, was da aus dem Boden kommt, sich an kahlen Ästen zeigt, im Himmel bildet … So vorausträumend (der Beitrag entstand ja noch im ausklingenden Winter) bin ich mitten in den Themen, die ich mit der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch besprochen habe. Philosophierend schaut sie hinter die Kulissen – statt von Weisheit spricht sie lieber von der «Liebe zur Klarheit, zur Genauigkeit». Sie schwebt nicht über dem Alltag, sondern hat die Fähigkeit, Fragen, die uns alle mehr oder weniger beschäftigen, versiert und verständlich zu erklären. So ist sie auch eine genaue Fragestellerin und gute Zuhörerin in der SRF- und 3sat-Sendung «Sternstunde Philosophie», zudem im Internet zu erleben und als Autorin zu erlesen. www.barbarableisch.ch

Doris Kleinau-Metzler | Liebe Frau Bleisch, warum studierten Sie eigentlich Philosophie? Ihre für eine Philosophin eher ungewöhnlichen Buchthemen über Weltarmut und Ethik, Warum wir unseren Eltern nichts schulden und Kinder wollen verwundern auf den ersten Blick.

Beate Bleisch | Zunächst habe ich einen anderen Studienweg eingeschlagen, aber im dritten Studienjahr in Tübingen wurde mir klarer, dass mich die Philosophie und Ethik am allermeisten interessieren. Vielleicht hängt es mit meinem Großvater zusammen, der Augenarzt war, aber mit 50 be-gann, Philosophie zu studieren. Auch wenn ich das als Kind wohl nicht so richtig mitbekommen habe, war er doch sehr faszinierend für mich – in seinem Zimmer stand ein Skelett, es gab Versteinerungen, ein Teleskop und eine Riesenbibliothek. Er war an so vielem interessiert, konnte ganz in Büchern versinken. Als ich später selbst Philosophie studiert habe, ist er immer mehr in eine Demenz abge­glitten – und unsere Gespräche drehten sich nun fast immer im Kreis. Irgendwie war es auf eine ganz spezielle Art und Weise auch interessante Philosophie. In der Demenz kommen ja viele uns selbstverständliche Wirklichkeiten abhanden.

DKM | Vereinfacht oder beruhigt die Philosophie nicht unser Alltagsleben mit seinen Hochs und Tiefs, wenn wir uns damit beschäftigen?

BB | Viele Leute denken, die Philosophie hätte etwas Tröstliches. Aber sie ist eigentlich in erster Linie ein skeptisches Unterfangen, ein Zweifeln an scheinbar Selbstverständ­lichem. Weil sie hinter die Phänomene blickt und alles hinterfragt, ist sie auch die Kunst der Genauigkeit. Genau zu sein kann alles noch komplizierter machen, weil man immer mehr Unterschiede bemerkt. Die Dinge denkend zu ordnen, schenkt aber auch Klarheit. Der Dichter Gottfried Benn verwendet dafür den Begriff «Gegenglück Geist». Gegen die Komplexität der Welt, gegen das Ausgeliefertsein an all das, was wir nicht verstehen, setzt er das eigene Denken. Manchmal prasselt das Elend der Welt auf uns herein, die Welt scheint uns verworren, dunkel – gerade in dieser Zeit der Pandemie. Philosophieren kann dabei helfen, die Dinge auf Distanz zu bringen, indem wir sie durchdenken. Der Philosoph Helmuth Plessner hat den Menschen als «Exzentriker» beschrieben: Während andere Wesen ihr Leben einfach zubringen, geht der Mensch zu diesem Leben auf Distanz. Er denkt also über sich und sein Leben nach und sorgt so dafür, dass er nicht einfach durchs Leben stolpert. Aber nicht immer hilft Nachdenken weiter. Nehmen wir zum Beispiel Candide des französischen Philosophen Voltaire: Der Held der Geschichte reist durch die Welt und versucht sie zu verstehen. Vieles bleibt unfassbar für ihn, auch das furchtbare Erdbeben, das 1755 Lissabon zerstörte und bis zu 100.000 Todesopfer forderte. Die Frage nach der Theodizee – wie Gott gerechtfertigt werden kann, wenn er so etwas zulässt – ist das eigentliche Thema des Buches. Candide scheitert in seinem Ansinnen, die Welt vernünftig zu begreifen. Das Buch schließt mit der Einsicht: Man muss seinen Garten pflegen.


DKM | Und damit etwas im Garten wächst, sind regelmäßige Pflege und der richtige Zeitpunkt wichtig, aber auch Warten-Können. Doch die andere Realität holt uns oft ein, täglich in den Nachrichten lesen und sehen wir viel Not, Flüchtende, Hungernde, Kriege. Wie sollen und können wir damit umgehen, außer resignierend den Kopf zu schütteln?

BB | Das resignierte Kopfschütteln, das Sie beschreiben, ist unter anderem Ausdruck unserer «Verantwortungsdiffusion». Wir sehen die Not und sind überzeugt, dass diese Menschen ein Anrecht auf Hilfe haben. Doch unser eigener Beitrag scheint uns wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Die meisten teilen das diffuse Gefühl, man sollte etwas tun, aber niemand fühlt sich wirklich in der Pflicht. Ganz anders bei Elend und Unglück in unserer nahen Umgebung. Wenn beispielsweise jemand vor unseren Augen stürzt, versuchen wir zu helfen und fühlen uns selbstverständlich verantwortlich. Aber wenn es um globale Armut oder um den Klimawandel geht, fehlt dieser konkrete anschauliche Bezug. In meinem Buch Pflichten auf Distanz bin ich diesem Problem auf den Grund gegangen und habe für einen Pflichtenpluralismus argumentiert: Wir sollten uns durchaus zur Hilfe verpflichtet fühlen und, wenn wir können, etwas von unserem Reichtum abgeben. Außerdem können wir unsere Macht als Konsumenten nutzen und nachhaltigen fairen Handel unterstützen. Vor allem aber haben wir eine Pflicht, uns für eine Reform der politischen Institutionen zu engagieren, sodass sich die Verantwortungsdiffusion in eine klare Arbeitsteilung wandelt. Der moderne Sozialstaat hat genau dies geschafft: Die Verantwortungsdiffusion wurde reduziert, weil wir die Hilfspflicht an den Staat delegierten.

DKM | Um ein Spannungsfeld rund um Verantwortung, aber auch Freiheit, geht es in den letzten Monaten im Zusammenhang mit staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie.

BB | Freiheit ist kein Freipass, zu tun und zu lassen, was uns beliebt. Dazu ein Beispiel: Ihr Auto gehört allein Ihnen. Wenn ich kein Auto habe, mein Kind aber verunfallt und ich dringend ins Krankenhaus mit ihm muss und Sie frage: «Darf ich kurz Ihr Auto benutzen?», dann haben Sie als Besitzerin des Autos selbstverständlich das Recht zu sagen: «Nein!» Moralisch gesehen wäre das aber ein höchst kritikwürdiger Gebrauch Ihrer Freiheitsrechte. Anders gesagt: Freiheitsrechte gehen immer einher mit der Aufgabe, diese Rechte auch verantwortlich zu nutzen. Übertragen auf die Pandemie und Frage etwa nach der Impfung: Es ist natürlich Ihr gutes Recht zu entscheiden, was mit Ihrem Körper gemacht werden darf und was nicht. Es gehört zum Recht auf körperliche Integrität, dass Sie niemand zu einer Impfung zwingen darf. Moralisch dagegen glaube ich durchaus, dass es richtig ist, sich zu fragen: Was schulde ich meinen Mitmenschen? Sollte ich nicht zu einer Impfung bereit sein, auch wenn ich selbst nicht zur Risikogruppe gehöre, und zwar deshalb, weil sich das Virus mutmaßlich weniger überträgt, wenn auch ich geimpft bin? In einem liberalen Rechtsstaat legen wir viel Wert darauf, dass der Staat sich nicht in unsere intimsten Dinge einmischt. Zu Recht! Das heißt aber nicht, dass wir, moralisch gesehen, alles tun dürfen, was wir wollen. Freiheit entlastet nicht davon, Verantwortung zu übernehmen. Ganz im Gegenteil: Freiheit verpflichtet!


DKM | Moral hat so einen «sauertöpfigen Beigeschmack» für manche Menschen …

BB | Ich stimme nicht ein in dieses Lied eines grassierenden Moralismus, mit dem behauptet wird, man dürfe heute nichts mehr und müsse dauernd die Moralkeule fürchten. Wir leben in so freiheitlichen Zeiten wie kaum je zuvor. Es herrschen weitgehend Redefreiheit und Religions­freiheit. Menschen können das Leben leben, das sie wollen: mit Partner oder ohne, mit Kindern oder ohne, auf dem Land, in der Stadt. Teilweise hat sich zugegeben eine Überempfindlichkeit etabliert, die nicht mehr angemessen ist. Die Freiheit von Satire und Kunst ist möglicherweise tatsächlich bedroht. Die meisten haben aber ein Ausmaß an Wahlmöglichkeiten, dass sie ihre Freiheit fast überfordert. Das dürfen wir ja auch nicht vergessen: Freiheit birgt die stete Aufgabe, die Räume, die sie bietet, auch zu gestalten.


DKM | Manchmal ärgert es mich aber auch, wenn andere andere Standpunkte vertreten, anders handeln als ich …

BB | Freiheit ist nicht denkbar ohne ein großes Ausmaß an Toleranz. Und Toleranz ist kostspielig, denn wir müssen anderen zugestehen, dass ihre Sichtweise auch berechtigt sein kann. Die schlimmsten Fesseln legt uns übrigens meist gar nicht der Staat an, sondern wir einander. Der Philosoph John Stuart Mill schreibt in seinem Buch Über die Freiheit, dass wir geknechtet werden von einer «Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens». Wir sind besessen davon, zu vergleichen, zu bewerten und einander im schlimmsten Fall den Mund zu verbieten. Damit droht eine «Tyrannei der Mehrheit», eine Art eingemittete Gesellschaft, in der die Menschen zur Herde degradiert werden, weil keiner auffallen will. Für Mill war deshalb klar, dass wir gerade die exzentrischen Personen in unserer Mitte brauchen.

DKM | Dazu kommt unsere Neigung, viel über die Vergangenheit zu sprechen im Sinne von «die hätten das doch wissen müssen, man hätte anders handeln können, dann wäre …». Lässt sich da gerade heute noch hoffnungsvoll in die Zukunft blicken?

BB | An meinem Schrank hängt eine Karte, auf der steht: «Nachher ist man immer klüger. Man sollte gleich nachher leben.» Fehler und Irrtum gehören zum Leben dazu, es gibt keine Abkürzung zum Nachher. Vieles haben wir über das Corona-Virus nicht gewusst und wir tappen weiter im Dunkeln. Das ist mühsam, gerade weil wir gewohnt waren, dass alles wie am Schnürchen lief und planbar war. Jetzt stecken wir in einer Krise. Mich stört, dass diese Krise gleich wieder pädagogisch ausgeschlachtet wird: Werden wir nun die Wirtschaft umkrempeln, die Klimakrise lösen, weil wir gesehen haben, dass es anders geht? Wir sind an einem falschen glühenden Punkt, um bereits übers Danach zu sprechen. Und die Philosophie lehrt auch, dass Krisen manchmal auch einfach ertragen werden müssen, ohne gleich das Gute in ihnen sehen zu wollen. Ich glaube dennoch, wir können auf bessere Zeiten hoffen. Das heißt nicht, optimistisch zu sein. Der Literaturwissenschaftler Terry Eagleton sagte einmal, Optimisten wie Pessimisten litten unter einer moralischen Hornhautverkrümmung. Optimisten glauben, es werde ohnehin alles gut, ohne wirklich einen Grund für diesen Glauben zu haben. Pessimisten denken, es gehe ohnehin schief, weil sie nicht mit der Gestaltungsmacht des Menschen rechnen. Zu hoffen heißt demgegenüber, gerade nicht zu wissen, ob es gut kommt, und sowohl mit der Möglichkeit des Glückens wie des Scheiterns zu rechnen. Wer hofft, weiß, dass mit der Hoffnung eine Aufgabe einhergeht, nämlich unserer Sehnsucht nach dem Besseren Grund zu verleihen. Ernst Bloch, der große Theoretiker der Hoffnung, hat dazu den schönen Satz geschrieben: Der Hoffende ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.

5 – thema

Leben mit dem schöpferischem

von Jean-Claude Lin


Unser Leben in der Zeit ist so wunderbar wie wunderlich. Es gibt Tage, die zäh und mühevoll sind, an denen wir mit einer Aufgabe kaum voranzukommen scheinen. Andere Tage sind dagegen so erfüllt von Entscheidungen und Ereignissen, dass wir uns am Ende eines solchen Tages wundern, wie wir alles geschafft haben, ja überhaupt uns im Ansturm der Anforderungen haben halten können.

Jede und jeder von uns hat wohl als Kind erlebt, wie mancher Sonntagnachmittag aus purer Langeweile sich wie endlos in die Länge zog. Oder wir spielten so intensiv mit unseren Nachbarn, dass der Ruf zum Abendbrot uns wie aus einem Traum in die Zeit zurückholte. Nach Stunden gezählt konnte es sich in beiden Fällen um die gleiche Zeit, die gleiche Anzahl von Stunden handeln: von vierzehn bis achtzehn Uhr. Aber wie verschieden fühlten sich diese «vier Stunden» an! Handelte es sich wirklich um die «gleiche» Zeit?

Es ist zwar wichtig und wohltuend, dass wir das Leben zeitlich der Quantität nach ordnen und begrenzen, dass wir beispielsweise einen Arbeitstag auf acht Stunden begrenzen, statt tagein, tagaus auf sechzehn Stunden zu kommen. Aber noch wichtiger und heilsamer ist es, das Leben zeitlich der Qualität nach zu gestalten. Denn erst im qualitativen Erleben der Zeit werden wir schöpferisch. Dann bringen wir Neues hervor, dann wachsen wir, entwickeln wir uns.

Wenn wir uns ganz mit dem eigenen Tun verbinden, dann leben wir in einer «Qualität» von Zeit, die ihre «Quantität» wie aufzuheben scheint. Die Zeit des Schöpferischen ist immer Gegenwart.

Mehl und Butter, Zucker und Salz, und Äpfel und Hitze füge ich am Morgen in wohl geordneter Weise zusammen, um einen Applecrumble am Nachmittag meinen Freundinnen bei Kaffee und gemütlichem Plausch zur Pause bei unserem monatlichen Literaturkreis anbieten zu können – das Schöpferische liegt aber im Moment des Ersinnens und Tuns selbst. Das mag eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen – je nach Übung und Temperament – aber tun wir etwas aus Freude zum Tun, spüren wir diese Zeit während des Tuns nicht. Und fragen wir uns, in welcher Welt wollen wir leben?, dann sicherlich in einer, in der wir uns nach Herzenslust «erschöpfen» können. Denn: Im schöpferischen Tun ist es, wie wenn wir voller Freude ausrufen würden: Hier bin ich! Jetzt lebe ich! – Das ist das Leben mit dem Schöpferischen.

Wie wunderlich mag uns zunächst der letzte der 52 Sprüchen des Anthroposophischen Seelenkalenders Rudolf Steiners vorkommen, wenn wir bedenken, dass dieser letzte Wochenspruch für die Zeit der Karwoche geschrieben ist. Da in diesem geisteswissenschaftlich-künstlerischen Zyklus von 52 Sprüchen jeder Spruch für eine der 52 Wochen eines Jahres gedacht ist, deren erste Woche mit Ostersonntag beginnt, entspricht der 52. Spruch der Vor-Osterwoche, also der Karwoche, in der die Christenheit die Passion, die Kreuzigung und den Tod Christi gedenkt, bevor seine Auferstehung am Ostersonntag gefeiert werden kann. In diesem 52. Spruch ist aber gar nicht von Leiden und Tod die Rede, sondern von Leben und Kraft:

Wenn aus den Seelentiefen

Der Geist sich wendet zu dem Weltensein

Und Schönheit quillt aus Raumesweiten,

Dann zieht aus Himmelsfernen

Des Lebens Kraft in Menschenleiber

Und einet, machtvoll wirkend,

Des Geistes Wesen mit dem Menschensein.

Es gibt Zeiten in unserem Leben, da wir uns wie ausgebrannt empfinden, in denen alle Kraft zum Schöpferischen uns unwiederbringlich verloren vorkommt. Dann können wir uns diesem 52. Spruch des Seelenkalenders zuwenden und eine ganz andere Seite des Geschehens der Karwoche innewerden. Wir können uns selbst so wenden, dass neues, schöpferisches Leben in unser Dasein hier auf Erden einzieht. Ja, auch dieses Wunder können wir erleben im Garten der Zeit.

Das Foto zeigt das «Zeitfeld», ein Kunstwerk von Klaus Rinke im Düsseldorfer Volksgarten. «Gepflanzt» zur Bundesgartenschau 1987. Auch in der Kunst gehen nicht alle Uhren gleich …

Foto: birdys / photocase.de

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