Kitabı oku: «a tempo - Das Lebensmagazin»
1 – über a tempo
a tempo - Das Lebensmagazin
a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.
a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.
Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.
2 – inhalt
3 – editorial Wahre Geschichten von Jean-Claude Lin
4 – im gespräch Wo kommen wir her? Wo gehören wir hin? Kirsty Gunn im Gespräch mit Jean-Claude Lin
5 – thema Dante Alighieri – Dichter und Seher von Mario Betti
6 – augenblicke Der See meiner Träume von Christian Kaiser
7 – herzräume Wolkengeflüster von Brigitte Werner
8 – erlesen «Frauen / Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache.» gelesen von Christian Hillengaß
9 – mensch & kosmos Das Leben verstehen lernen von Wolfgang Held
10 – alltagslyrik – überall ist poesie Tadellos von Christa Ludwig
11 – kalendarium Juli 2021von Jean-Claude Lin
12 – was mich antreibt Wenig sagen, ganz viel erzählen von Sanne Dufft
13 – unterwegs Sich öffnen von Daniel Seex und Jean-Claude Lin
14 – kindersprechstunde Gesundheit wächst im Wald von Alfred Längler
15 – blicke groß in die geschichte Europas Camelot. Von Burgund aus wuchs das moderne Europa von Konstantin Sakkas
16 – von der rolle Die Kunst zu überleben. Der Film «Das geheime Leben der Worte» von Elisabeth Weller
17 – eine seite lebenskunst Sommer – Sonne – Salat von Claus Meyer
18 – wundersame zusammenhänge «Zeugen himmlischer Vergnügen» von Albert Vinzens
19 – sehenswert Morgenröte der Neuzeit von Konstantin Sakkas
20 – weiterkommen Der Mensch und sein Garten von Michael Ladwein
21 – literatur für junge leser Iain Lawrence «Skeleton Tree» gelesen von Simone Lambert
22 – mit kindern leben Erdbeerzeit von Bärbel Kempf-Luley und Sanne Dufft
23 – sudoku & preisrätsel
24 – tierisch gut lernen Kira coacht von Renée Herrnkind und Franziska Viviane Zobel
25 – suchen & finden
26 – ad hoc 51 Jahre danach von Jean-Claude Lin
27 – bücher des monats
28 – impressum
3 – editorial
wahre geschichten
Liebe Leserin, lieber Leser!
Der Morgen, als sie hinaustrat, war wie neu aufgelegt, als wäre alles, was es zum Tag brauchte, frisch geprägt.» So beginnt Helen ihre Geschichte, in der letzten der Kurzgeschichten Kirsty Gunns in ihrem Band Untreuen. Wie diese letzte Geschichte selbst hat auch die Geschichte, die die Erzählerin Helen schreibt, den Titel «Untreue». Mit diesem Titel und dem eingangs zitierten Satz beginnt sie. Als Mutter dreier Töchter und eines Sohnes, die inzwischen alle so alt sind, dass Helen etwas freie Zeit für sich hat, geht sie einer lang gehegten Neigung nach, nämlich zu schreiben. Ihr Mann, Richard, hat sie dazu ermuntert, wie auch zur Teilnahme an einem Schreibkurs bei der Professorin Louisa. Wir als Leserin oder Leser dieser Kurzgeschichte der sehr versierten Schriftstellerin Kirsty Gunn erfahren, wie Helen sich anschickt, selbst eine Kurzgeschichte zu verfassen, und was sie nach und nach zu Papier bringt.
«Lasst euch von den Details leiten», ist die nachdrückliche Empfehlung ihrer Professorin Louisa. «Kümmert euch nicht so um den Ablauf. Lasst euch von den wesentlichen Details leiten, lasst sie sich verdichten. Die ergeben nach und nach schon eine Geschichte. Ganz natürlich, organisch.» Und wir erfahren zudem, wie Louisa ihren strebenden angehenden Schreibenden «jede Menge Grace Paley und Carson McCullers und Virginia Woolf zur Lektüre» empfiehlt, «zur Inspiration – die Kurzkurzgeschichten».
Helen will eine «wahre Geschichte» schreiben, eine «richtige Geschichte», und für die Details beginnt sie bei einem Ereignis, das sie tatsächlich vor siebzehn Jahren hatte. Sie war, frisch verheiratet, mit ihrem Mann Richard für ihre Flitterwochen zu einem einsamen Cottage an der Westküste Schottlands gereist, in unmittelbarer Nähe eines kleinen Flusses. Als sie morgens nach der Hochzeitsnacht sehr früh aufwacht und das helle Sommerlicht wahrnimmt, will sie raus, ohne ihren Mann zu wecken, «und hatte sich ein Kleid übergestreift, ohne sich um Unterwäsche oder Schuhe zu scheren». – Über diesen ersten Tag nach ihrer Hochzeit will Helen schreiben – ihn als Ausgang ihrer ersten Kurzgeschichte wählen.
«Untreue. Der Titel war plötzlich da gewesen, als könnte es vielleicht nicht bloß eine Geschichte, sondern eine ganze Sammlung von Kurzgeschichten werden. Ein Zyklus sogar mit einem roten Faden, nämlich Geheimnisse, die Menschen haben, die verschwiegenen heimlichen Dinge, die sie tun.» Und als sie zum schönen Fluss gelangt, sieht Helen diesen anderen Mann beim Angeln, der ihr zuruft, um eilends zu ihr zu gelangen. «‹Mir ist, als hättest du auf mich gewartet›, hat sie geschrieben. Und – ‹Tut mir leid, dass ich Sie so überfalle –› könnte er gesagt haben. Jetzt hat sie es hingeschrieben, dass er das gesagt hat.» Das erfahren wir von Helen, die ihre eigene Geschichte aus ihrem Leben wie über ihr Schreiben erzählt – und einiges andere mehr …
Und das Ganze schreibt Kirsty Gunn zum Abschluss ihres so hintersinnigen Bandes mit Kurzgeschichten, der den Titel Untreuen trägt. – Das Leben eines jeden Menschen ist voller Geschichten, die wir nur sehr partiell wahrnehmen. Wenn sie erzählt werden, offenbaren sie das Verborgene in unserem Leben und lassen uns dadurch noch reicher und lebendiger werden.
Mögen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, immer wieder solche wahren Geschichten kennenlernen und entdecken!
Von Herzen grüßt Sie
Ihr
Jean-Claude Lin
4 – im gespräch
WO Kommen wir her? Wo gehören wir hin?
Kirsty GUNN im Gespräch mit Jean-CLAUDE LIn
Fotos: Millie Graham
Die Schriftstellerin Kirsty Gunn wurde in Wellington/Neuseeland geboren. Die Familie der Mutter gehörte zu einer jener Familien, die mit den vier ersten Schiffen das neu entdeckte Land der Maori britisch besiedelten. Sie empfand sich durch und durch als Neuseeländerin. Der Vater kam aus Schottland. Er und seine Familie nannten Schottland ihre Heimat. Mit neunzehn Jahren verließ Kirsty Gunn Neuseeland, um in Oxford zu studieren. Seitdem wohnt sie teils in London, teils in Sutherland, in den Highlands im Norden von Schottland. Ihr erstes Buch, die Novelle Rain / Regentage erschien 1994 (1995 auf Deutsch) und wurde 2001 von Christine Jeffs verfilmt. In der renommierten Literaturzeitung
The Times Literary Supplement wurde Kirsty Gunn unlängst zusammen mit Ali Smith und Nicola Barker als eine der drei bemerkenswertesten zeitgenössischen experimentellen Schriftstellerinnen Großbritanniens genannt. Im letzten Herbst erschienen ihre Kurzgeschichten Untreuen bei Oktaven. In diesem Sommer ist ihr hintersinniger, anspielungsreicher Liebesroman Carolines Bikini erschienen. Wir trafen sie leider weder in einem Londoner Pub noch mit Blick auf einen der geheimnisumwitterten Bergseen der Highlands (die hier wenigstens im ersten Foto von ihrer Tochter Millie für uns eingefangen wurden), sondern bloß digital – und dennoch heiter und vergnügt.
Jean-Claude Lin | Willkommen in unserer virtuellen Realität, Kirsty Gunn! Während der Vorbereitung auf unser Gespräch in Zeiten immer noch komplizierter Reisemöglichkeiten und eingeschränkter Kontakte kam mir der Gedanke, dass diese Art virtueller Realität Ihnen als Erfinderin von Geschichten eigentlich nicht so fremd vorkommen dürfte, da Sie ohnehin darin geübt sind, intensiv in anderen Wirklichkeiten zu leben – intensiver vielleicht sogar als in unserer alltäglichen Wirklichkeit.
Kirsty Gunn | Das ist tatsächlich so. Bei jedem Buch, das ich schreibe, braucht es immer eine ganze Weile, bis sich ein sicheres Gefühl für einen Charakter oder eine Handlung entwickelt – ich weiß erst, was geschehen wird, wenn eine Geschichte voll im Gange ist. Zu Beginn habe ich aber wohl eine sehr gegenwärtige, wahrnehmbare Welt, in die ich mich mit allen Sinnen imaginativ einlebe. Aus dieser vorgestellten Welt kommen mir nach und nach die Protagonisten entgegen, beginnt die Geschichte sich zu entfalten, sodass ich in der Tat das Erlebnis habe, mit diesen inneren Bildern einen eigenen Ort schöpferischen Wirkens zu bewohnen. Also ja, Sie haben ganz recht, es fühlt sich ebenso real an, wenn nicht sogar noch realer als in unserem alltäglichen Tun und Lassen.
JCL | Es ist insbesondere die äußerst bedachte Art, wie Sie Ihre Worte und Wendungen wählen, und deren hervorgerufenen Stimmungen, die mich beim Lesen Ihrer Erzählungen und Romane in eine andere, intensiv empfundene Wirklichkeit führen. Lese ich Sie «richtig»?
KG | Das strebe ich in der Tat so an, und ich denke, das kommt daher, dass diese Orte und Welten, in die ich eintauche, ihre ganz eigene sprachlich-tonale Atmosphäre, ihren eigenen Klang haben. Bei Carolines Bikini beispielsweise fing der Roman als Kurzgeschichte an. Ich fühlte die Atmosphäre eines Schwimmbads, eines Gartenfestes mitten oder zu Beginn eines Sommers in London, bevor die Schulferien beginnen und alle die Stadt verlassen – die steigende Hitze in den letzten Schultagen. Das war mir alles gegenwärtig, aber auch, wie mich das langweilte. Es fühlte sich an wie eine Geschichte, die John Cheever hätte schreiben können – nur dass er daraus etwas viel Vollkommeneres hätte machen können. Für mich aber war klar: Das ist es noch nicht, das ist nicht die Geschichte, die mich interessiert, von einem Pool im Garten und einem Fest sowie einer verwirrten Caroline mit ihrem nassen Bikini als Zeugnis eines fast in Trance verbrachten Tages … Aber der Titel «Caroline’s Bikini» ließ mich nicht los, sein Klang wie auch die Atmosphäre: diese Welt der großen Häuser und Gärten in Richmond im Westen Londons und Caroline. Ein Jahr lang blieben sie bei mir, spielten mit meinen Gedanken – und dann kam Emily Stuart und setzte sich geradewegs zu mir! Emily wusste alles über diese Welt durch ihren Freund aus Kindheitstagen, Evan Gordonston, der aus Amerika zurückgekehrt war. Dank Emilys Hilfe hat er in Richmond bei Caroline ein Zimmer finden können. Und PENG! – ich konnte losschreiben! Für den Roman brauchte ich die Protagonistin Emily wie eine Übersetzerin. Sie hat einen wunderbaren Humor. Ich habe bisher noch nie so viel Freude gehabt wie beim Schreiben dieses Romans.
JCL | Interessanterweise las ich in Ihrer Vita, dass Sie selbst eine Weile in einer Werbeagentur als Texterin gearbeitet haben, so wie Emily auch.
KG | (lacht): Als das Buch in England erschien, gab es eine Buchpräsentation in der Buchhandlung der London Review of Books, zu der auch meine Tochter Katherine und mein Mann kamen. Als die Fragerunde eröffnet wurde, hob meine Tochter ihre Hand und fragte, wie denn Kirsty Gunn, die Schriftstellerin, sich von ihrer Protagonistin Emily Stuart unterscheide. Nun, Emily Stuart ist viel lustiger, antwortete ich – und sie ist außerdem viel geduldiger.
JCL | Ihre früheren Bücher haben in der Tat nicht die Leichtigkeit und den Humor wie Carolines Bikini …
KG | … wie auch den Klang nicht. Jedes meiner Bücher hat einen eigenen Klang – und eine ganz eigene Welt. Katherine Mansfield pflegte von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit wie vom Cello-Üben zu erzählen, wie sie übte, genau den richtigen Ton zu treffen, den sie haben wollte. Das entspricht auch meiner Art zu schreiben. Ich kann einen ganzen Nachmittag damit verbringen, einen einzigen Satz richtig hinzubekommen – und oft spreche ich ihn mir laut vor, um ihn auch besser hören zu können
.
JCL | Am Ende einer Ihrer Kurzgeschichten in Untreuen heißt es: «Denn heute weiß ich altes Mädchen, dass nicht so sehr enträtselte Geheimnisse eine Person ausmachen als verstehen, wo die Wörter herkommen.» Das klingt so, als ob wir alle aus Sprache bestünden. Dass Sprache unser aller Herkunft bildet: die Sprache selbst, die wir sprechen, das Wort.
KG | Dieses Verständnis von Sprache beschäftigt mich sehr, dass in dem Moment, in dem Sprache in uns wohnt und wir in der Sprache wohnen, ein Geschehen, eine Darstellung, ja eine Performance im tiefsten wie auch elementarsten Sinne stattfindet. Es ist, als ob wir auf eine Bühne menschlicher Interaktion träten, aber auch an einer Art Ritual der Verwandlung teilnähmen, die die Kunst, das Wort erst möglich macht. Das sind Ideen, die mich zurzeit immens beschäftigen, die ich zudem im Zusammenhang mit einem Essay über Henry James versuche darzustellen. Denn während des langen Lockdowns habe ich all seine Romane gelesen. Obwohl ich früher Henry James nie so gemocht habe, lernte ich ihn nun wirklich lieben. Ich verstehe jetzt, dass seine Geschichten nicht einfach von gierigen Menschen handeln, die bloß nach Häusern, Ehen oder sozialem Aufstieg trachten. Nein, was ihn interessierte, war, wie jedes seiner Bücher ein eigenes Experiment darstellen kann mit dem, was Sprache zu erzeugen vermag. Die Handlungen seiner Geschichten ähneln sich zwar, aber jeder Roman findet eine ganz andere Behandlung. Die goldene Schale beispielsweise, dieser späte Roman von ihm, ist ein genau komponiertes Kabinettstück über vier Personen und wie sie durch Sprache alles verhüllen, um ihr Begehren in Erfüllung zu bringen. Er handelt von der Ehrlichkeit, die kein Tor zum gegenseitigen Verständnis oder zur Intimität ist, sondern diese sogar verbergen oder verhindern kann.
JCL | Und wie kann es gelingen, dass wir uns gegenseitig verstehen?
KG | Das ist das tiefe Erlebnis von Henry James. Als Autor seiner Bücher empfindet er sich ganz auf sich allein gestellt, von der Welt getrennt. Nach der Lektüre seiner Romane kommt es mir so vor, wie wenn er erst in Die Gesandten selbst anwesend ist. Er ist der Protagonist Lambert Strether, der aus dem Mittleren Westen Amerikas nach Paris kommt, in die vornehme, mondäne Welt des Raffinements mit einem für ihn unbegreiflichen Wortschatz, sodass er immer ein Außenseiter bleibt. Es scheint so, als dringe er ins Innere, bleibt aber doch außen vor. Ich habe den Eindruck, als sei dies das einzige Mal, dass er sich persönlich zeigt – mit dem pochenden Herz eines Schriftstellers. Ansonsten bleibt er draußen, immerzu fragend. Gibt es irgendeine Möglichkeit, uns gegenseitig zu verstehen, intim miteinander zu sein, wahre, anregende, private, phantasievolle Beziehungen miteinander zu haben? Nein, denke ich, antwortet er schließlich. Das ist ungeheuer traurig – und doch auch so aufregend, dass einem der Atem stockt. Er hat mein Verständnis für unsere Art, miteinander zu sprechen, verändert. Selbst jetzt, während wir miteinander kommunizieren, werden mir bestimmte Redensarten auf eine Art bewusst, die mir vor der Lektüre von Henry James nicht geläufig waren.
JCL | Sie unterrichten «Creative writing» an der Universität von Dundee und anderen Universitäten. Kann man das Schreiben eines Romans oder eines Gedichtes wirklich jemandem beibringen? Oder ist das schlicht eine andere Bezeichnung für ein Literaturstudium?
KG | Als ich vor der Berufungskommission der Universität saß, sagte ich allen dreizehn Mitgliedern klipp und klar, dass ich nicht an eine lernbare Disziplin des «Creative writing» glaube. Ich teilte aber auch mit, dass ich von einer lernbaren Disziplin des Lesens überzeugt bin und dass das Lesen uns als Schreibende anregen kann – ja, uns auch zu besseren Schriftstellerinnen machen kann. In meinen Seminaren wird auch das Schreiben geübt, vor allem aber wird das Lesen studiert. Vor dem Schreiben kommt das Studium.
JCL | In Neuseeland werden Sie als neuseeländische Schriftstellerin verehrt; in Schottland sind Sie als schottische Autorin hoch anerkannt. Als was sehen Sie sich selbst? Wo liegt für Sie Ihre Heimat, bzw. zu welchem Land fühlen Sie sich zugehörig?
KG | Zu keinem. Meine Heimat ist nirgends und überall. Einmal beschrieb mich jemand bei einer literarischen Veranstaltung als eine, die am Rande existiere, im fließenden Übergang zwischen allen Orten – und das finde ich sehr zufriedenstellend. Dennoch bin ich stolz darauf, dass eines meiner Bücher als bestes schottisches Buch des Jahres ausgezeichnet wurde (The Boy and the Sea / Der Junge und das Meer) und ein anderes (The Big Music) als bestes neuseeländisches Buch des Jahres. Und derjenige, der mir die Auszeichnung des besten neuseeländischen Buches des Jahres übergab, war ein Maori, ein Leser und Autor, der mir sagte: Wir verstehen deinen Roman ganz und gar. Diesen Roman über piobaireachd (sprich: pie-bröhh), der von der klassischen schottischen Tradition des Musizierens mit dem Dudelsack und darin den großen variierenden Themen von Sehnsucht, Verlust, Anerkennung und Abschied handelt, verstand er als Maori tatsächlich. Das ist doch aufregend!
JCL | Einiges in Carolines Bikini, insbesondere in den Zugaben, scheint Autobiografisches zu enthüllen, wie etwa die Passage über die diversen Pubs, in denen sich die beiden Protagonisten Evan Gordonston und Emily Stuart treffen, um über den Fortgang seiner Liebe zu Caroline zu sprechen: «Carolines Bikini, das Werk einer Stuart über einen Gordonston, arrangiert von einer Gunn, war nie anders gedacht denn als Prosaversuch im Geiste einer schottischen Moderne mit Wurzeln in der petrarkischen Liebesdichtung der Frührenaissance, literarischen Vorbildern verpflichtet wie Katherine Mansfield und Virginia Woolf. Emily Stuart drückt es so aus: ‹Der zeitgenössische realistische Roman ist mir latte.›» – So steht es im Roman. Könnte also pure Fiktion sein. Und dennoch …
KG | Leben ist Fiktion – oder nicht?
Kirsty Gunn Carolines Bikini Roman Aus dem Englischen von Uda Strätling. 380 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, Fadenheftung mit Schutzumschlag € 24,– (D) | ISBN 978-3-7725-3026-5 Auch als eBook erhältlich | Jetzt neu im Buchhandel!
5 – thema
Dante alighieri
dichter und Seher
von Mario Betti
Friedrich Schiller lässt in seinem lyrischen Spiel Die Huldigung der Künste die Poesie sagen:
Mich hält kein Band, mich fesselt
keine Schranke,
Frei schwing’ ich mich durch alle Räume fort.
Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke,
Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.
Der Dichter schildert hier das Wesen der Poesie wie eine beflügelte Göttin der Freiheit, die keine Grenzen kennt und sich im unendlichen Raum der Gedanken bewegt. Ihre Geistesräume können also leichte, fröhliche, aber auch tiefsinnige Lebenspoesie erfassen – wie auch Ernst und Tragik des Seins. Wer schon im Pariser Louvre vor der Nike von Samothrake stand, wird bei diesen Zeilen unwillkürlich an sie erinnert und an den mächtigen Schwung ihrer breiten Flügel, die alle Räume überflügeln könnten.
Im Dichter und Philosophen Dante Alighieri, dessen Todestag sich in diesem September zum 700. Mal jährt, finden wir gewissermaßen beides: den fröhlichen dichterisch begabten Florentiner im Freundeskreis der tiefsinnigen «Getreuen der Liebe», der fedeli d’amore, mit ihrem «süßen» neuen Stil, dem dolce stil novo, und später den ernsten Dichter der Göttlichen Komödie, die bei weitem keine «Komödie» im herkömmlichen Sinn ist.
In der Göttlichen Komödie lesen wir anfangs, wie Dante, begleitet von Vergil, ins Reich der nachtodlichen Welt durch die hoffnungslosen Kreise der Hölle wandelt und durch die Ringe des Läuterungsberges.
Im dritten Teil der Dichtung, dem Paradies, darf ihn der Heide Vergil nicht weiterhin führen, damit die früh verstorbene und von ferne innig geliebte Beatrice im strahlenden Glanze der Sophia, der göttlichen Weisheit, ihm die Sphären des Himmels erklären kann.
Dante (geboren im Mai oder Juni 1265 in Florenz; verstorben am 14. September 1321 in Ravenna) muss eine faustische Natur gewesen sein, dem Himmel und Hölle gleichermaßen nahe waren – und zudem auch ein weitblickender Politiker. Er verband in sich die klare, nüchterne Sicht des begabten Diplomaten im Dienste seiner Heimatstadt Florenz mit einer Anlage zu tiefer, mystisch-spiritueller Vertiefung. In seiner markanten Physiognomie kommen gleichermaßen Tatenwille und Beschaulichkeit, Leidenschaft und Sanftmut, Stolz und Demut zum Ausdruck.
Bei Dantes Geburt war Florenz ganz anders als heute. Es war noch eine mittelalterliche enge und düstere Stadt, noch fern vom späteren Glanz eines «Athen der Renaissance» unter der Herrschaft der Familie Medici. Auch ein Michelangelo, ein Brunelleschi, ein Marsilio Ficino und andere hatten der Stadt am Arno noch nicht den Glanz späterer Zeit verliehen.
Italien bestand damals aus zahllosen Kleinstaaten und Stadtstaaten, die vielfach von Fremden – Franzosen und Spaniern – regiert wurden. Es tobten dort noch immer die alten Parteienkämpfe zwischen den Welfen, den Anhängern des Papstes, und den Ghibellinen, die dem Kaisertum staufischer Prägung die Treue hielten.
Nachdem die Ghibellinen nach dem Tod von Kaiser Manfred im Jahre 1266 dem Namen nach verschwunden waren, hatte sich die Siegerpartei der Guelfen in zwei Lager gespalten. Zu den «Bianchi», den Weißen, die die Regierung der Stadt innehatten, gehörten die auf Unabhängigkeit bedachten Kaufmannsfamilien, und unter den «Neri», den Schwarzen, fand man die Vertreter des alten Feudaladels, mit dem sich das einfache Volk aus Hass zu den reichen Bürgern verbündet hatte.
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