Kitabı oku: «a tempo - Das Lebensmagazin»

Yazı tipi:


1 – über a tempo

a tempo - Das Lebensmagazin

a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.

a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.

Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.

2 – inhalt

3 – editorial Is this the feeling von Jean-Claude Lin

4 – im gespräch Wir lenken den Blick auf die positiven Erfahrungen Elke Schilling im Gespräch mit Julia Meyer-Hermann

5 – thema Die Erziehung des Menschengeschlechts von Konstantin Sakkas

6 – augenblicke Den Laden im Dorf lassen von Claus-Peter Lieckfeld

7 – herzräume Sister von Brigitte Werner

8 – erlesen & betrachtet Philipp Stölzl, «Schachnovelle» gesehen von Konstantin Sakkas

9 – mensch & kosmos Die drei Seiten der Persönlichkeit von Wolfgang Held

10 – alltagslyrik – überall ist poesie Eichenbuchstaben im Rosensteinpark von Christa Ludwig

11 – kalendarium September 2021 von Jean-Claude Lin

12 – was mich antreibt Aus der Stille von Bärbel Kempf-Luley

13 – unterwegs Der Wille zur Freiheit von Daniel Seex und Jean-Claude Lin

14 – sprechstunde Wie wir unsere Knochen stärken können von Markus Sommer

15 – blicke groß in die geschichte «Wenn die Zeit kommt für das Unmögliche …» – Dag Hammarskjöld von Andre Bartoniczek

16 – von der rolle Wunderbar gealtert und höllisch cool Der Film «Jackie Brown» von Elisabeth Weller

17 – hörenswert Mehr als nur Begleitmusik … von Thomas Neuerer

18 – wundersame zusammenhänge Zufall? von Albert Vinzens

19 – sehenswert Reise ins eigene Innere. Marina Abramovic in Tübingen von Elisabeth Weller

20 – denken an ... Henning Köhler – Ein Anwalt der Kinder von Andreas Neider

21 – literatur für junge leser Linda Dielemans «Im Schatten des Löwen» gelesen von Simone Lambert

22 – mit kindern leben Drachenfreundschaft von Bärbel Kempf-Luley und Sanne Dufft

23 – sudoku & preisrätsel

24 – tierisch gut lernen Große Sprünge – für Pferd und Mädel von Renée Herrnkind und Franziska Viviane Zobel

25 – suchen & finden

26 – ad hoc Aus der Einsamkeit in die Natur von Jean-Claude Lin

27 – bücher des monats

28 – impressum

3 – editorial

is this the feeling

Liebe Leserin, lieber Leser!

«Show me the meaning of being lonely», singt die schwedische Singer-Songwriterin Anna Ternheim auf ihrem Album For the Young. «Zeig mir welchen Sinn meine Einsamkeit hat», so könnte in etwa der erste Vers des Refrains auf Deutsch heißen. Anna Ternheim, 1978 in Stockholm geboren, spielt dazu eindringlich ruhig Gitarre, betrachtet sich aber vornehmlich als Liedermacherin, nicht als Instrumentalistin.

Doch dieses so berührende Lied, das zwölfte und letzte auf ihrem 2015/16 erschienenen Album «für die Jungen» ist gecovert. Der Songtext stammt vom zehn Jahre älteren britischen Liedermacher Herbert Crichlow, besser bekannt als Herbie, der seit etlichen Jahren in Schweden lebt; und die Musik stammt vom schwedischen Landsmann Max Martin alias Karl Martin Sandberg. Beide haben bereits viele Songs für sehr erfolgreiche Sängerinnen und Sänger sowie Bands komponiert – zumeist ohne den anderen. Dieses Lied Show Me the Meaning of Being Lonely entstand ursprünglich für die Backstreet Boys, eine 1993 gegründete Gruppe von fünf jungen Männern aus Orlando/Florida. Hätte ich mehr als bloß ihren Namen und ihre Popularität gekannt, wäre mir das Lied wohl um einiges früher vertraut gewesen. Aber so wie ich veranlagt bin, lernte ich es erst 2019 kennen, als ich das neue, achte Album Anna Ternheims, A Space For Lost Time, in meinem Plattenladen Einklang in Stuttgart beim Stöbern entdeckte und infolgedessen auch ihre früheren Alben hören wollte. Nun begleitet mich ihre warme, ins Herz dringende, aber auch die Seele streichelnde Stimme oft tief in die Nacht bei der Arbeit, zum Beispiel am Kalendarium dieses Lebensmagazins, beim Bügeln – oder auch auf langen Autofahrten. Und oft setze ich dieses letzte Lied von For the Young auf «Repeat». Wie die Sängerin frage auch ich mich mit dem zweiten Vers des Refrains: «Is this the feeling I need to walk with» – ist dies das Gefühl, das mich begleiten muss?

Tell me why I can’t be there where you are

There’s something missing in my heart

Dreimal wird dieser vierzeilige Refrain in diesem bemerkenswert berührenden Lied gesungen. «Sag mir, warum ich nicht dort sein kann, wo du bist / Es fehlt mir etwas in meinem Herzen.»

Ja, immerzu fehlt uns im Herzen «etwas», jemand, den wir lieben. Aber das ist gut so. Dann machen wir uns auf einen Weg zu ihm, zu ihr – in Gedanken, manchmal über die Schwelle des Todes, manchmal glücklicherweise zu Fuß oder eben auf einer langen Autofahrt …

Mögen auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, immer Ihre Wege zu Ihren Lieben finden!

Von Herzen grüßt Sie

Ihr




4 – im gespräch

Wir lenken den Blick auf die positiven Erfahrungen

Elke Schilling im Gespräch mit Julia Meyer-Hermann

Fotos: Wolfgang Schmidt

So viel wie in den letzten Monaten hat Elke Schilling noch nie telefoniert. Dabei ist die 76-Jährige ohnehin eine Frau, die ständig an der Strippe hängt. Das Telefon ist ihr Arbeitsgerät. Die Berliner Mathematikerin hat eine Hotline ins Leben gerufen, die ältere Menschen ein Stück weit aus ihrer Einsamkeit erlöst: Beim Silbernetz, einem kostenlosen Telefonservice, finden Über-Sechzigjährige einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin für ihre Sorgen – oder auch einfach zum Plaudern. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat die Zahl der Anrufe sich vervielfacht. Auch wir führen das Interview telefonisch.


Julia Meyer-Hermann | Liebe Frau Schilling, bevor Sie 2015 das Silbernetz gegründet haben, waren Sie jahrelang für die Telefonseelsorge tätig. Sie haben also schon viel an Ängsten, Ärgernissen und Kummer zu hören bekommen. Mit welchem Gefühl nehmen Sie inzwischen den Hörer ab?

Elke Schilling | Ich empfinde diese Telefon­gespräche nach wie vor als ein großes Geschenk, als eine Bereicherung. Das ist vermutlich die Arbeit, bei der ich am meisten über das Leben und auch über mich selbst lerne – und das, obwohl ich das Glück hatte, viele verschiedene Berufs­felder kennenlernen zu können. Ich war zuvor als Programmiererin, Mathematikerin, Orga­ni­ationsentwicklerin und Politikerin tätig. Je älter ich wurde, desto mehr habe ich mich menschlichen Zusammenhängen zugewandt. Nach meiner Politik-Laufbahn hatte ich den Eindruck, ich bräuchte ein wenig Training im Zuhören und habe deshalb die Ausbildung zur Telefonseelsorgerin gemacht.

JMH | Und warum haben Sie dann zusätzlich zu diesem seelsorgerischen Angebot auch noch das Silbernetz entwickelt?

ES | Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass speziell älteren Menschen ein Angebot fehlt, bei dem sie sich austauschen können – auch unabhängig von seelischen Nöten. «Einfach mal reden», ist ja das Motto von Silbernetz. Die meisten Anruferinnen und Anrufer suchen nämlich genau das! Mit zunehmendem Alter steigt die traurige Wahrscheinlichkeit, häufig allein zu sein und sich isoliert zu fühlen. Unseren Schätzungen nach leiden in Deutschland rund acht Millionen Menschen zwischen 60 und 99 Jahren – zumindest teilweise – unter ihrer Einsamkeit. Ich habe sieben Jahre lang als Senioren-Vertreterin in Berlin-Mitte gearbeitet und bin in dieser Zeit immer wieder darauf aufmerksam geworden, wie schwer man diese Menschen erreicht, die aus den sozialen Netzen gefallen sind. Und da ich Informatikerin und Netzwerkerin bin, wollte ich mit einem niedrigschwelligen Angebot Abhilfe schaffen. Dazu kamen dann noch zwei Ereignisse, die mich sehr beschäftigt haben.


JMH | Was waren das für zentrale Ereignisse, die schließlich zur Gründung von Silbernetz geführt haben?.

ES | Bei der Telefonseelsorge hatte ich eines Nachts ein Gespräch mit einem alten Herrn, der seinen Lebensmut verloren hatte. Der sagte zu mir: «Wissen Sie was, junge Frau, ich bin jetzt 85, die Reihen um mich sind leer geworden. Ich rede oft Tage lang mit niemandem. Können Sie mir sagen, warum ich noch leben soll?» Das war das eine Initial­ereignis. Der zweite Auslöser war der Tod meines Nachbarn in Berlin. Der hatte mir bei meinem Einzug noch geholfen, er war ein vitaler älterer Mann. Dann sah ich ihn mit der Zeit immer weniger und sprach ihn an: «Wenn Sie Unterstützung brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen.» Das lehnte er aber ab. Ein paar Monate später hatte ich plötzlich viele Fliegen und Speckkäfer in meiner Wohnung, war besorgt und benachrichtigte den Vermieter. Da war es dann schon zu spät. Mein Nachbar wurde im Leichensack aus seiner Wohnung getragen.

JMH | Aber Sie haben sich vorher doch darum bemüht, Ihren Nachbarn zu unterstützen. Was hätte eine Hotline da besser machen können?

ES | Vielleicht war ich als Nachbarin auch zu nah dran mit meinem Angebot. Da kann die Befürchtung aufkommen, dass einem jemand auf die Pelle rückt. Wenn mein Nachbar die Möglichkeit gehabt hätte, sich aus der sicheren Distanz eines Telefons zu informieren, hätte er das wohlmöglich getan. Vielleicht hätte er dann den passenden Rat und auch Hilfe gefunden. Meine Überlegungen wurden auch dadurch befeuert, dass ich den Krimi der britischen Autorin Minette Walters gelesen hatte, in dem es um eine Hotline für ältere Menschen ging. Ich habe dann herausgefunden, dass es in Großbritannien tatsächlich so eine «Silver Line» gibt – und dieses Konzept für Deutschland adaptiert. Nach einigen Kämpfen zur Finanzierung und zu Fördergeldern haben wir schließlich losgelegt.

JMH | Was waren die Schwierigkeiten bei der Finanzierung?

ES | Das ist eine sehr lange Geschichte über Projektkonzepte, Anträge und Absagen. Zusammengefast kann man sagen, dass es ungeheuer mühsam war, möglichen Investoren und zuständigen Behörden klar zu machen, wie wichtig dieses Projekt ist. Irgendwann haben wir in unserer Verzweiflung unsere GEIA-Aktion gestartet: GEIA steht für «Gemeinsam gegen Einsamkeit im Alter». Wir haben eine Petition gestartet, eine Pressekonferenz gegeben und ab dem 24.12.2017 für acht Tage ein Feiertags­telefon angeboten. Das wurde förmlich überrannt! Weil wir dadurch so viel mediale Öffentlichkeit bekommen haben und der Druck auf die zuständigen Ämter und Ministerien wuchs, haben wir schließlich doch Fördergelder bekommen. Wir arbeiten seither konstant weiter daran, dass Einsamkeitsprävention als Gesundheitsprävention anerkannt und betrieben werden muss!


JMH | Seit knapp vier Jahren ist die Silbernetz-Hotline nun täglich von 8 bis 22 Uhr erreichbar. Sie hatten seitdem über 250.000 Anrufe. Wer kontaktiert Sie?

ES | 60 Prozent unserer Anrufer sind über 70 Jahre alt. Abgesehen vom Alter sind sie sehr verschieden und auch das Spektrum der Themen ist weit gesteckt. Wir haben unter anderem einige sogenannte «Daueranrufer», die uns mehrmals in der Woche oder sogar mehrfach täglich anrufen und sich über Alltägliches austauschen wollen. Da geht es manchmal nur um etwas wie: «Ich habe mir jetzt einen Kaffee gemacht und setze mich damit in die Sonne. Schön, dass ihr da seid.» Oder: «Schneit es bei euch auch so verrückt?» Das sind Menschen, die einfach den Bedarf haben, die Leere ihrer Wohnung mit einem kurzen Kontakt zu füllen. Oft bekommen wir von diesen Menschen ein wunderbares Feedback auf unsere Arbeit. Wir haben zum Beispiel eine Anruferin, die mit uns inzwischen schon lange und regelmäßig kommuniziert und uns zum Dank oft Gedichte schickt. Das ist natürlich sehr berührend.

JMH | Vermutlich sind aber leider nicht alle Kontakte so nett?

ES | Es gibt auch immer mal wieder Anrufer, die bei uns ihren Frust ablassen wollen. Die haben selbst so viel Missachtung und Abwertung erfahren, dass sie nur auf dieser Wellenlänge reden können. Aber wir sind darauf trainiert, auch damit sachlich und konstruktiv umzugehen. Und das sind Einzelfälle. Viel häufiger sind Anrufe von Menschen, die sich lange, intensiv und wertschätzend über ein bestimmtes Thema unterhalten wollen. Und es gibt andere Anrufer, die ein organisatorisches Problem haben. Die haben zwar unsere Nummer auf einem Flyer, wissen aber nicht, wie sie eine bestimmte Information bekommen können. Wir hatten beispielsweise viele Anrufe zu Corona-Fragen, bei denen wir dann die entsprechenden Kontakte benannt haben.

JMH | Welchen Effekt hatte und hat Corona auf Ihre Arbeit?

ES | Mit dem ersten Lockdown haben sich die Anrufe vervierfacht. Das ist trotz der Lockerungen nicht abge­rissen, sondern kontinuierlich gewachsen. Ich habe im Lauf der Zeit gut 40 Ehrenamtliche hinzugewinnen können. Das war zum Glück möglich, weil so viele ihre Hilfe angeboten haben. Sonst hätten wir das nicht bewältigen können.

JMH | Wer sind die neu dazugekommenen Anruferinnen und Anrufer?

ES | Mit Beginn des Lockdowns hatten wir viele ältere Menschen am Telefon, die normalerweise gut in ihren Netzwerken eingebunden sind. Die waren vor der Pandemie sehr aktiv, viel unterwegs und haben Freundschaften gepflegt. Sie waren bis zum Ausbruch der Pandemie nicht isoliert. In den Gesprächen mit ihnen ging es oft um das große Bedauern, dass so vieles wegfällt. Sie wollten mit uns ihre Verlust­gefühle teilen. Man darf nicht vergessen, dass angesichts der begrenzten Lebenszeit eines älteren Menschen auch die Angst dazukommt, ob man jemals wieder normale Zustände erleben wird. Das ist eine er­­schreckende Perspektive.


JMH | Wer nimmt bei Ihnen eigentlich die Gespräche an?

ES | Wir haben am Silbertelefon inzwischen 22 hauptamtliche und etwa 40 ehrenamt­liche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die aus dem gesamten Bundesgebiet kommen. Unsere Hauptamtlichen sind Menschen, die sonst auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen hätten, etwa weil sie beispielsweise wegen einer Behinderung langzeitarbeitslos sind. Unsere Initiative ist also in doppelter Hinsicht ein soziales Projekt, weil sie auch diesen Menschen einen Job anbietet. Bei unseren Ehrenamtlichen gibt es oft ein persönliches Verständnis für die Situation jener, die uns anrufen. Sie treten an uns heran mit der Haltung: «Ich bin Rentnerin und habe Zeit.» – «Bei euch kann ich als Rentner etwas Sinnvolles tun.» Die loggen sich dann von Zuhause ein und sitzen in der Woche vier oder auch 15 Stunden am Telefon. Für einige ist das eine Lebensaufgabe geworden.

JMH | Sind Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alle geschult, um mit den Bedürfnissen am anderen Ende des Telefons umgehen zu können? Welche Kriterien muss jemand erfüllen, der beim Silbernetz arbeitet?

ES | Alle im Team brauchen einen kommunikativen Background, sie müssen zum Beispiel eine gewisse Erfahrung in Gesprächsführung mitbringen. Sie müssen natürlich Interesse an alten Menschen haben und Empathie zeigen können. Viele bei uns bringen eine therapeutische Ausbildung mit, einige waren in der Altenhilfe oder der Sozialarbeit tätig. Den Rest bringen wir ihnen bei. Sie bekommen eine Einführung, danach Mentoring durch erfahrene Kolleginnen und Kollegen und sie erhalten Fortbildungen. Unsere Ehrenamtlichen rufe ich außerdem einmal im Monat an, um zu hören, wie es ihnen geht.

JMH | Wie geht es Ihnen oder den anderen, wenn jemand anruft und etwas sagt wie «Ich bin es leid»? Das ist für Sie schließlich auch eine mentale und seelische Be­lastungs­probe.

ES | Wenn die Gespräche zu belastend sind, haben alle bei Silbernetz die Möglichkeit, sich bei der Supervision darüber auszusprechen. Wir alle machen ohnehin Fortbildungen zum Thema Suizidankündigung, dafür gibt es eine Art Handlungsleitfaden. Wir können im Gespräch mitunter Ent­lastung geben und auch an qualifizierte Stellen weiter­vermitteln. Letztendlich können wir aber niemanden davor behüten, über sich selbst zu bestimmen. Diese Haltung müssen wir verinnerlichen. Unsere Verantwortung hält sich in den Grenzen dessen, was wir tun können.

JMH | Was tun Sie, um Ihren Anrufern Kraft zu geben?

ES | Was wir können, ist dem Kummer eines Anrufers mit Empathie zu begegnen. Unsere Aufgabe ist es, sich nicht im destruktiven Gefühl des anderen zu verlieren. Wir können etwas sagen wie «Ich höre, dass es Ihnen schlecht geht. Was können wir beide miteinander tun?» Wir können das Gespräch ganz gezielt zu positiven Erfahrungen hinführen. Jeder Mensch, der so lange gelebt hat, hat auch schöne Erlebnisse gehabt. Wir richten dann den Blick auf diese Erinnerungen oder auf hilfreiche Perspektiven. Wenn das gelingt, ist so ein Gespräch wie ein Geschenk, das auch bei mir immer wieder Freude auslöst.

Das Silber-Telefon Unter 0800 4 70 80 90 ist deutschlandweit zwischen 08:00 und 22:00 Uhr die kostenfreie Hotline für Sie da, um «einfach mal zu reden». Informieren Sie sich auch über das Angebot «Silbernetz-Freundin, -Freund» für ein wöchentliches persönliches Telefongespräch. Und die «Silber-Info» bietet Information zu den Angeboten für Ältere vor Ort. www.silbernetz.org

5 – thema

Die Erziehung des Menschengeschlechts

Was Bildungsbürgerlichkeit heute bedeuten kann

von Konstantin Sakkas


Das Wort «Bildungsbürgertum» hat heute keinen attraktiven Klang. Es klingt nach Leserbriefschreibern, pensionierten Oberstudienrätinnen, AfD wählenden Mittelständlern … Doch diese Assoziation ist irreführend. Sie hängt damit zusammen, dass die eigentlichen Bildungsbürger, nämlich Intellektuelle und Kreative, heutzutage ihre eigene Bürgerlichkeit verleugnen. Doch das ist ein bedauerlicher Fehler.

Denn in Wahrheit ist die intellektuelle und kreative Klasse Trägerin der liberalen Bürgerlichkeit und damit die vielleicht wichtigste Stütze der liberalen Demokratie. Dieses Bildungsbürgertum ist insbesondere gegen das kleine und große Wirtschafts­bürgertum und dessen Ideologie des Transaktionalismus («alles im Leben ist ein Deal») abzugrenzen, das aus intellektueller Unbeholfenheit und nacktem Egoismus zum Verschwörungsdenken neigt.

Das Bildungsbürgertum dagegen denkt nicht transaktional, sondern wertegeleitet. Damit ist es Minderheit und Elite zugleich. Fundament seiner Bildung ist eine bürgerliche (nicht zwingend reiche oder auch nur vermögende) Lebensweise, und Basis seiner spezifischen Bürgerlichkeit ist die Bildung. Und das heißt: Die geistige Welt ist das Alpha und Omega dieser Gesellschaftsschicht. Sie verbindet seine Angehörigen über alle Einkommensklassen und über alle ethnischen und kulturellen Grenzen hinweg.

Bildungsbürgerlichkeit definiert sich über dreierlei: Kultur, Menschenrechte, Religion. Geistesgeschichtlich wurzelt sie im Humanismus, politisch im Liberalismus. Sie geht nicht auf in der Revolutionserfahrung wie die Linke, aber auch nicht im ewigen Ankämpfen gegen die Revolution (sei es 1789 oder 1968) wie die Rechte. Der Leitstern ist die Idee des Guten.

Die drei großen Gegenmächte der Bildungsbürgerlichkeit heißen Sozial­darwi­nismus, Machiavellismus und Transaktionalismus. Die Welt ist für den Bildungs­bürger eben kein Dschungel und kein Kampf aller gegen alle. Denn fast immer gibt es einen Weg, sich der Erfüllung eines Bedürfnisses zu entziehen, wenn Voraussetzung zu seiner Erfüllung wäre, sich zu korrumpieren und die moralische Ordnung dieser Welt unverzeihlich zu verletzen. Das Denken Hannah Arendts ist eine reiche Illustration dieser bildungsbürgerlichen Grund­haltung.

Die Bildungsbürgerin stellt sich gegen das Böse, aber auch gegen die Verabsolutierung des Bösen. Für sie ist der Mensch weder Herr noch Knecht. Der Bildungsbürger stellt sich gegen die Matrix von Dominanz und Submission, aber auch gegen Relativismus und Konstruktivismus. Humanismus und Universalismus sind ihm – anders, als es der gerade kulturell dominierende Poststrukturalismus will – keine trojanischen Pferde einer verlogenen «herrschenden Klasse», sondern ewige Prinzipien, die freilich je nach historischer Situation soziopolitisch anders implementiert werden.

Die Bildungsbürgerin glaubt zu sehr an das Gute im Menschen und in der Geschichte, als dass sie die Weltgeschichte auf eine dualistische Auseinandersetzung zwischen gegnerischen Lagern reduziert. Das mag man naiv oder blasiert nennen. Das Bildungsbürgertum ist auch zu fort­schrittlich, um in der hysterischen Be­­schwörung einer «Fake-Vergangenheit», eines erfundenen «Goldenen Zeitalters» aufzugehen, aber auch zu traditionsbewusst für linken Antitraditionalismus, der alles aus wirtschaftlichen oder biologischen Zusammenhängen erklärt und damit das rechte Narrativ von der Weltgeschichte als Kampf um Dominanz einfach auf links (sic) dreht.

Eine Signatur der Bildungsbürgerlichkeit ist, dass sie linke Werte auf eher konservative Weise überträgt. Gleichberechtigung und Menschenrechte wurden oft in der sonntäglichen Predigt oder der elterlichen Privatbibliothek gelernt. Das hat Bildungsbürger gegen den relativistischen, alles unter Generalverdacht stellenden Negativis­mus von links in gleicher Weise impräg­niert wie gegen den hässlichen Identitarismus von rechts.

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