Kitabı oku: «Arbeiten wie noch nie!?», sayfa 2

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Das Unbehagen in der Arbeitswelt

Viele Menschen teilen ein allgemeines Unbehagen, das sich daraus ergibt, dass die Lebensentwürfe unserer Großeltern und Eltern für uns nicht mehr passen. Ihre Lebensplanung war eine Zeit lang um ein Erwerbsleben aufgebaut, das sich als Anstellungsverhältnis mit rund 40 Wochenstunden Arbeitszeit gestaltete; man konnte von einem existenzsichernden Einkommen ausgehen sowie von kontinuierlicher Arbeit mit Aufstiegschancen bei einem Unternehmen oder wenigen Firmenwechseln; Sozial- und Pensionsversicherung waren durch den Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil und eine staatliche Vorsorge abgesichert. Die Stabilität und Planbarkeit des Erwerbslebens bildete das Fundament für die Einrichtung eines eigenen Hausstands, die Versorgung von Kindern und bescherte einer breiten Mittelschicht materiellen Wohlstand auch im Alter. Dies bezieht sich etwa auf die Jahre, in denen der Fordismus blühte und der Wohlfahrtsstaat eingerichtet wurde.

Die Vorteile lagen im breiten Wohlstand und der damit verbundenen Sicherheit für viele – allerdings auf Zeit und auch nicht für alle, weil die Nebenwirkungen nur eine Zeitlang erfolgreich verdrängt werden konnten. Eine Erklärung zu den systemisch angelegten Nebenwirkungen (z. B. Geschlechterdifferenzen und Umweltverschmutzung) folgt weiter unten; bleiben wir vorerst dabei, wie sich die Konstellation aus »Arbeitnehmersicht« darstellt. Die geregelten Arbeitsbedingungen entsprachen der standardisierten Produktionsweise des Fordismus1, der sich nach Ende des Ersten Weltkriegs etablierte. Im Vordergrund stand die industrielle Massenproduktion, die auf einer hohen Arbeitsteilung (Taylorismus) basiert. Sie benötigte teils spezialisierte, teils unqualifizierte, auf jeden Fall verlässliche und disziplinierte Arbeiter. In der Zeit der Ost-West-Systemkonkurrenz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Produktionsweise mit wohlfahrtsstaatlichen Leistungen flankiert und als »Soziale Markwirtschaft« ideologisch überhöht. Die erforderlichen Fertigkeiten wurden im öffentlichen oder betrieblichen Bildungssystem erworben. Eine grundlegende Umschulung und ein Berufswechsel waren möglich, galten aber als Ausnahme nicht als Regel. Für eine kontinuierliche Teilnahme am Arbeitsprozess und am Massenkonsum sorgten relativ hohe Löhne und ein öffentliches Sozialversicherungs­system mit Kranken-, Arbeitslosen- und Pensionsvorsorge. Dieser Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern funktionierte bis in die 1970er zur gegenseitigen Zufriedenheit. Die Unternehmer akzeptierten die von den Gewerkschaften ausverhandelten hohen Löhne, über die das Sozialsystem finanziert wurde, und die Arbeiter fügten sich in den Takt der Fließbandarbeit mit Freizeit- und Familienglück ein; der Produktions-Konsumtions-Kreislauf hielt in der Wiederaufbauphase einigermaßen die Balance.

Die heutige Erwerbsgeneration kann immer weniger auf dieser »traditionellen« Arbeitswelt der Nachkriegsära aufbauen. Einerseits verlagerte sich der Schwerpunkt am Arbeitsmarkt auf Dienstleistungsberufe (aufgrund der weiteren Technisierung und Verlagerung der industriellen Produktion in so genannte Billiglohnländer). Andererseits wurde die fordistische Produktionsweise (Fließband) von der hochtechnologischen (Computer) abgelöst. Sowohl für die verbleibenden Industrie- als auch für die Dienstleistungsarbeitsplätze setzte sich die neue Arbeitsorganisation durch, welche im Sinne der Flexibilisierung und Effizienzsteigerung den Individuen viel persönlichen Einsatz abverlangt (Postfordismus). Gleichzeitig wurden staatliche Absicherungen gekürzt und private Versicherungsangebote forciert.

Für viele Arbeitnehmer bedeutete das eine Entwertung ihrer bisherigen Fähigkeiten, Umschulungen kamen auf die Tagesordnung. Diejenigen, die den Umstieg nicht schaffen, nennt man »Modernisierungsverlierer«. Eine noch tiefere Wunde schlägt die Destabilisierung des existenzsichernden Einkommens. Die Erosion fand und findet über die Ausweitung von Teilzeitbeschäftigungen und »Minijobs« statt und indem Anstellungsverhältnisse umgangen werden. Zeitarbeiter werden über Personalagenturen angemietet, solange sie gebraucht werden; herrscht Auftragsflaute müssen sie nicht entlassen werden, sondern sie kehren zur Agentur zurück, werden als Arbeitssuchende gemeldet und erhalten staatliche Arbeitslosengelder (die in Zeiten der Haushaltsdefizite und Sparpakete ebenfalls gekürzt werden). Wieder andere machen sich selbstständig; sie gründen aber keine Firma mit Mitarbeitern, sondern bleiben Ich-AGs; Scheinselbstständige, die einer bestimmten Branche oder nur einem Betrieb zuarbeiten. Damit einher geht die Privatisierung des Risikos; sie sind selbst für die Absicherung im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedarf und Pension/Rente verantwortlich. Die Prekarisierungsspirale, die damit in Gang gesetzt wurde, führt dazu, dass Menschen in diesen so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr von ihrem Einkommen leben können. Nur rund einem Drittel gelingt das; im Vergleich dazu können das fast alle mit Vollzeitanstellung. Der Rückschritt besteht darin, dass die Menschen zwar arbeiten, aber verstärkt auf die Unterstützung durch Fami­lienangehörige angewiesen sind. Sie werden arm trotz Arbeit, wenn Lohn, Sozialtransfers und Familienrückhalt nicht mehr reichen.

In Anbetracht dieser Tatsachen ist es nicht verwunderlich, dass die prekär gewordenen Verhältnisse für die Betroffenen einen schmerzlichen Verlust von lebenswerten Perspektiven bedeutet, die sie sich noch unter anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Vorzeichen erhofft hatten. Arbeitsbiographien werden brüchig, sie sind mit Zeiten von Einkommensausfällen, Berufswechseln und Umzügen verbunden; die Erfüllung des Wunsches vom Eigenheim, Kindern und einem stabilen Leben wird weniger planbar und zufälliger. Die Betroffenen kämpfen mit der raschen Anpassung an wechselnde Anforderungen, denen sie sich mangels Alternativen unterordnen. Selbst die Gewerkschaften bieten kaum noch Schutz vor Sozialabbau. Die Konkurrenz am Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz zwingt die Menschen zu einer Art der Selbstinszenierung, welche durch fehlende Solidarität und ständigen Konkurrenzkampf ihre Würde verletzt – als unbegrenzt flexible Mitarbeiter zeigen sie Unternehmergeist und sind immer zu allem bereit, was dem Unternehmen und angeblich auch ihnen selbst nützen soll.

Als Folge öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für Millionen Menschen sind Arbeitslosigkeit und damit einhergehender sozialer Abstieg, Kontaktverluste und Ausgrenzung bereits Realität (z. B. für Sozialhilfeempfänger oder Ein-Euro-Jobber nach der Hartz IV-Reform). Für viele schwebt eine »Ansteckungsangst« (vgl. Bude 2008, 113ff) wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen und sie versuchen, statt die Ursachen anzugehen, sich von den Betroffenen zu distanzieren, um das »normale Leben« aufrechtzuerhalten. Der Sicherheit, die wir aus dem Normalarbeitsverhältnis und der Kleinfamilie bezogen, wurden wir beraubt auf dem Weg zur Individualisierung unseres Glücks am Arbeitsmarkt (vgl. Malli 2005; zur allg. sozialen Situation und Ungleichheit vgl. Bourdieu 1997).

Empirische Krisendiagnosen & methodische Irrtümer

Die sozio-ökonomische Ungleichheit lässt sich empirisch messen. Im Querschnitt lassen sich wachsende Unterschiede beim Haushaltseinkommen von Bevölkerungsgruppen nachweisen; im Längsschnitt lassen sich Schwankungen bei der konjunkturellen Gewinnentwicklung und -beteiligung feststellen. Z. B. können wir für Deutschland belegen, dass die 10 % der Höchstverdienenden zwischen 1992 und 2007 ihr Einkommen noch einmal um 40 % erhöhen konnten. Demgegenüber haben die 10 % derer mit dem geringsten Einkommen noch einmal 15 % verloren (Wolf 2010, 73). Arbeitsmarktexperten sprechen von einer steigenden Lohnspreizung; umgangssprachlich kann man sagen, die Reichen werden reicher, die Armen noch ärmer. Für Österreich fällt die Auseinanderentwicklung geringer aus, lässt sich aber wie der allgemeine Trend auf die Zunahme von geringfügigen, kurzfristigen und Teilzeitbeschäftigungen zurückführen (Guger/Marterbauer 2007, 266). Die Daten lassen sich nach Gruppen (Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungsstand) weiter ausdifferenzieren und interpretieren. An dieser Stelle sei auf die Frauen hingewiesen, die häufiger Teilzeitbeschäftigungen nachgehen als Männer, weswegen zu erwarten ist, dass der geschlechtsspezifische Lohnunterschied wieder zunehmen wird. Davor konnten die Frauen zumindest aufholen aber nicht gleichziehen (ebd. 272)2.

Bleiben wir bei den ökonomischen Daten, so bringt die Lohnquote die systematische Ungerechtigkeit am deutlichsten zum Ausdruck. Die Anpassung der Lohnquote drückt die Gewinnbeteiligung aus – demzufolge müsste die Quote in der Konjunktur steigen und in der Rezession fallen. Aber obwohl wir in den letzten Jahrzehnten – zwar mit Schwankungen – fast ausschließlich wachsende Volkswirtschaften hatten (gemessen am Bruttoinlandsprodukt; vgl. Wolf 2010, 23 und 25), ist die Lohnquote seit Mitte der 1970er Jahre nur gesunken und die Arbeitslosigkeit gleichzeitig gestiegen3 – ein Trend, der sich für alle westlichen Industrienationen nachzeichnen lässt (vgl. Wolf 2010, 70f). Daraus kann man schließen, dass zwar die Produktivität steigt (ein anderer Ausdruck dafür, dass mit weniger menschlicher Arbeitskraft produziert werden kann), die Gewinne aber nicht als Löhne an die Arbeitskräfte weitergegeben werden. Theoretisch könnte die aufgrund gesteigerter Effizienz frei werdende Zeit auch als Arbeitszeitverkürzung weitergegeben werden, um den Beschäftigungsstand zumindest gleich zu halten. Der Verbleib der Gewinne ist bei Unternehmern und Aktionären zu suchen.

Die hier herausgegriffenen Indikatoren – Bruttoinlandsprodukt (BIP), Lohnquote und Arbeitslosigkeit – sind auch generell Gradmesser für Wirtschaftskrisen. In Anbetracht der zahlenmäßigen Entwicklung ist man sich einig, dass wir spätestens seit 2009 eine Rezession haben – also kein Wachstum, sondern rückläufige Bruttoinlandsprodukte. Ferner ist man sich über den Auslöser weitgehend einig: das Platzen der Immobilienblase in den USA 2007. Die Aktienkursabstürze griffen rasch auf die globalen Finanzmärkte über und rissen die weltweit vernetzten Wirtschaften mit sich. Dann brach die Realwirtschaft (Güter- und Dienstleistungsproduktion und deren Handel) ein, Kurzarbeit und Entlassungen folgten. Wir können von einer Weltwirtschaftskrise sprechen. Bis auf die noch stark aufholenden Länder China und Indien bilanzierten alle industrialisierten Länder 2009 negativ (Wolf 2010, 25), in Island kam es sogar zu einem Staatsbankrott. Griechenland steht kurz davor.

Die Gretchenfrage lautet nun: Wie konnte es passieren, dass das Wirtschaftswachstum so rasch in eine Rezession (Schrumpfung) umschlug und das, obwohl Löhne zurückgehalten und Sozialleistungen eingespart wurden? Wurde damit nicht alles Erdenkliche unternommen? Und warum ging es so plötzlich? War die Entwicklung nicht vorhersehbar?

Was ich mit den empirischen Daten und den folgenden Theorieexkursen veranschaulichen möchte, ist, dass anscheinend gute Wirtschaftsdaten (allem voran Wachstumszahlen gemessen am BIP) nicht zwingend auf eine gesunde Volkswirtschaft schließen lassen; geschweige denn garantieren sie die Gleichverteilung des Wohlstands unter der Bevölkerung. Nun haben alle volkswirtschaftlichen Theorien das zentrale Ziel, eine Lösung für die Verteilungsfrage der Ressourcen im vorherrschenden Wirtschaftssystem, dem Kapitalismus, zu finden. Bei der Herleitung der wirtschaftstheoretischen Modelle und den daraus gefolgerten Rückschlüssen für politische Empfehlungen gehen die akademischen Meinungen aber weit auseinander. Daher möchte ich die unterschiedlichen Denkrichtungen zwar mit Auslassungen, aber komprimiert auf ihre Hauptargumente skizzieren.

Beginnen wir in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, weil damals die Grundsteine für eine neue Wirtschaftsordnung gelegt wurden. Bis dahin basierte die ökonomische Grundlage auf einer einfachen Landwirtschaft, und die in Europa vorherrschende Gesellschaftsform war der Feudalismus, eine anscheinend natürliche, gottgegebene Ordnung von adeligen Grundherren und unfreien, leibeigenen Bauern. Motor und Voraussetzung für die Befreiung aus den feudalen Verhältnissen waren das Wachstum der Städte, die Herausbildung des freien, städtischen Bürgertums, die zunehmende Bedeutung des Handwerks, der Zünfte und Manufakturen sowie der Geldwirtschaft, die wiederum Voraussetzung von Märkten war und dem Handel Auftrieb gab. Adam Smith (1723–1790) fasst als Erster die Charakteristika der neuen Ordnung zusammen, die wir heute Kapitalismus nennen4.

In seinen zentralen Schriften zur Nationalökonomik legt er nicht nur eine Beschreibung sondern auch ein normatives und bis heute prägendes Leitbild vor. Smith arbeitet die Vorteile der Arbeitsteilung für die Produktivitätssteigerung heraus und beschäftigt sich mit den Austauschverhältnissen auf freien Märkten. Er führt die Unterscheidung zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert von Waren ein und ist der Ansicht, dass sich Angebot und Nachfrage durch Gestaltung von Löhnen und Preisen das Gleichgewicht halten. Eines seiner zentralen Anliegen ist es, damit zu zeigen, dass eigennütziges Handeln von Individuen nicht zu Chaos und Anarchie führe, sondern zu Wohlstand für die ganze Gesellschaft. Weil jeder ein Interesse daran habe, seine Lage stetig zu verbessern, fördere er indirekt auch das Gemeinwohl, indem er seine Profite wieder investiert und die Gesamtproduktivität steigert. Smith begründet das »einfache System der natürlichen Freiheit« auf ­einem universellen Freiheitsgedanken und geht davon aus, dass die Wirtschaftssubjekte intuitiv – von einer »unsichtbaren Hand« geleitet – zum Wohle aller das System im Gleichgewicht halten könnten. Damit liefert er eine verständlicherweise attraktive aber auch widersprüchliche Grundlage für die Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise: Er weist die herrschaftlichen Privilegien und staatlichen Monopole in ihre Schranken und verschafft dem von feudalen Zwängen freien Bürgertum und dessen Privatbesitz der Produktionsmittel Legitimation. Er verschiebt den Fokus auf »freie Märkte« und marginalisiert, dass nicht alle freie Wirtschaftssubjekte und Eigentümer von Produktionsmitteln, Fabriken, Werkzeugen und Rohstoffen sind und dementsprechend Preise und Löhne nicht mitbestimmen können.

Eine erste logische Konsequenz der Verschiebung gesellschaftlicher Steuerungsmechanismen auf freie Märkte lag im Abbau von Zöllen und Zollschranken und im Ausbau des Freihandels, der eine Internationalisierung der Arbeitsteilung und eine Verschärfung des Wettbewerbs mit sich brachte. Die Durchsetzungskämpfe verliefen jedoch nicht widerspruchsfrei, und es gab Argumentationsbedarf für die Abschaffung von Handelshemmnissen wie z. B. von Schutzzöllen. Aufbauend auf Smith arbeitet David Ricardo (1772–1823) die komparativen Kostenvorteile heraus, nach der die relativen Kosten der produzierten Güter im Austausch mit anderen Ländern wichtiger sind als die absoluten Produktionskosten; seine Außenhandelstheorie besagt, dass jedes Land profitiere, wenn es seinen Güterertrag bestmöglich steigere, indem es die Lohnkosten niedrig halte und die restlichen Güter über den Austausch beziehe. John Stuart Mill (1806–1873) übernimmt ebenfalls viele Grundgedanken von Smith und schreibt mit »Principles of Political Economy« (1848) das für den klassischen Liberalismus unumstrittene Standardwerk. Mill präzisiert die Freiheit des Individuums. Er unterscheidet nicht zwischen formal unterstellter und materiell ausgestatteter Freiheit, spricht sich jedoch für ein allgemeines Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln aus, weil »jeder« Mensch einen Anspruch auf den Ertrag seiner Arbeit und Sparsamkeit haben solle und in der Verwertbarkeit seiner Leistungen auch sein Ansporn läge. Mit der Rechtfertigung, Eigentum rechtmäßig vererben zu können und in der Darstellung von Eigentum als Mittel zum Zweck der gesellschaftlichen Wohlstandsproduktion verfestigt Mill die neuen Herrschaftsverhältnisse. Mill erkennt zwar die Interessensgegensätze zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, denkt aber, dass sie durch Bildung und Arbeiterassoziationen (heute Gewerkschaften) auszugleichen seien.

Der springende Punkt ist, dass die idealtypischen Annahmen unmittelbar auf die Politik übertragen wurden und aufgrund ihrer Auslassungen (Machtungleichheiten, anderen Bedürfnis- und Motiva­tionsstrukturen) erneut für Ungleichheiten (Arbeiterklasse und Bourgeoisie) sorgten und Konflikte (Klassenkampf) auslösten. Ihren Siegeszug startete die industrielle Revolution in England, wo der von den oben skizzierten Theorien untermauerte Manchester-Liberalismus in eine ­Laissez-faire-Politik mündete.

Dort wurden die enormen technischen Innovationen der Zeit (Dampfmaschine, Eisenbahn, Fabrikmaschinen, Telegraph) mit den rechtlichen Voraussetzungen des Freihandels gepaart. Diese Kombination führte explosionsartig zu Modernisierung und mehr Reichtum der Volkswirtschaft. Ebenso massiv fiel aber auch die Verelendung des vom Land in die Städte vertriebenen Arbeiterproletariats aus. Dies ist der historische Ausgangspunkt für alle weiteren Auseinandersetzungen, die uns bis heute (wenn auch in anderen Ausprägungen, aber in der Grundproblematik gleich) beschäftigen.

Praktisch wurde mit Arbeiterkampf, Streiks, Sabotage und Bummelei geantwortet und punktuell wurden auch bessere Arbeitsbedingungen erkämpft. Theoretisch gehen die Argumentationslinien jedoch weit auseinander bzw. widersprechen sich. Grob lassen sich drei Richtungen unterscheiden: Die Marxisten kommen zu dem Schluss, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem zwar ungeheuren Fortschritt bringe, aufgrund seiner inneren Widersprüche aber in ständige Krisen bis zur Barbarei stürze und daher zu überwinden sei. Die Vertreter des Keynesianismus haben das Ziel, den Kapitalismus aufrechtzuerhalten aber mit staatlichen Regulierungen zu zähmen. Die neoklassischen Theoretiker gehen davon aus, dass staatliche Störungen auf an sich funktionsfähigen Märkten das Ungleichgewicht verursachen und die Markfreiheiten noch weiter ausgebaut werden müssten. Bevor die Wechselwirkungen zwischen Theorien und Realwirtschaft skizziert werden, soll die marxsche Kritik der Politischen Ökonomie umrissen werden, weil sie Schlüsselkriterien für die Analyse liefert.

Der Philosoph und Jurist Karl Marx (1818–1883) erlebte die erste Hochblüte und das Elend des industriellen Kapitalismus in England. Er setzt der Rechtfertigungslehre der Politischen Ökonomie eine dialektisch verfasste Kritik entgegen und macht deren theoretische Widersprüche sichtbar, die praktisch schon verheerende Wirkung zeigten. Im Gegensatz zu den Nationalökonomen geht er nicht von eigennützigen Wirtschaftssubjekten aus, die auf anonymen Märkten ausschließlich rational handeln, sondern von gesellschaftlich verankerten und schöpferisch ausgerichteten Wesen. Die Verbindung zu den Mitmenschen und den Produkten der eigenen produzierenden Tätigkeit als natürliche Notwendigkeit geht jedoch durch die Zerlegung des Arbeitsprozesses in Teilverrichtungen und durch den Austausch der Waren auf anonymen Märkten verloren. Marx spricht von Entfremdung. Weil menschliche Arbeit als Arbeitskraft gedacht und von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt bestimmt wird, scheint es legitim, die Löhne möglichst niedrig zu halten, um den Profit maximieren zu können. Der Gewinn kann aber nicht von allen angeeignet werden, sondern fließt den Unternehmern als Profit zu. In seiner Arbeitswertlehre zeigt Marx den Doppelcharakter entfremdeter Arbeit auf. Die von den Arbeitern in den Fabriken hergestellten Waren haben einen Gebrauchswert und einen Tauschwert. Ihre Widersprüchlichkeit macht es möglich, dass die Arbeiter über die Löhne (den Tauschwert ihrer Arbeitskraft) weniger rückvergolten bekommen als sie an Wert produzieren. Die Differenz ist der Gewinn des Unternehmers. Darin steckt auch die schon bei Smith formulierte Erkenntnis, dass letztlich jede Wertproduktion auf menschlicher Arbeit beruht. Aus Kapital kann nicht mehr Kapital werden ohne menschliche Arbeit, auch wenn es an den Börsen so aussieht. Trotzdem haben die Arbeitskräfte, die den Wert schaffen (egal wie weit die Produktion ausgelagert wurde), eine schlechte Verhandlungsposition, weil sie nicht Eigentümer der Produktionsmittel sind und weil immer auch Menschen ohne Erwerbsmöglichkeiten für potenziell niedrigere Löhne zur Verfügung stehen. Marx bezeichnet die Arbeitslosen als industrielle Reservearmee (vgl. Stichwort industrielle Reservearmee, HKWM 6/II). Sie spielt eine wesentliche Rolle zur Steuerung der Preise, weil sie als Repressalie dient, die Löhne immer wieder zu drücken. Mit den Arbeitslosen bekommt die Kehrseite des kapitalistischen Profitstrebens ein Gesicht. Die Ungerechtigkeit ist nicht nur moralisch zu verurteilen, sie stellt auch einen Krisenfaktor dar. Marx bettet seine Überlegungen zur Lohnarbeit in den für den Kapitalismus typischen Akkumulationsprozess ein, die zwingend notwendige Anhäufung und Re-Investition von Kapital in profitträchtige Wirtschaftssektoren. Die Triebfeder dafür ist die Konkurrenz auf den Märkten; sie führt zu Spekulation und unersättlichem Profitstreben. Daher ist die kapitalistische Produktionsweise auf Profit und Gewinnmaximierung ausgerichtet. Um die Produktivität zu steigern sehen sich die Kapitalisten gezwungen, die Produktionskosten zu senken (z. B. durch Ersetzung lebendiger Arbeit durch Maschinen, die langfristig preisgünstiger sein sollen). Durch die Automatisierung produziert der Kapitalismus jedoch für ihn »überflüssige« Esser, die erhalten werden müssen; noch dazu fallen sie als Konsumenten aus. Das Dilemma stellt sich so dar, dass diejenigen, die als Konsumenten für die Profite sorgen sollten, nun aus- und zur Last fallen (vgl. Das Kommunistische Manifest, MEW 4). D. h. die sich immer wieder auffüllende Reservearmee hat kurzfristig Vorteile für das Kapital, weil sie hilft, die Lohnkosten niedrig zu halten. Kippt der Wachstumsprozess jedoch aufgrund von Unterkonsumtion, weil den Arbeitslosen das Geld für den Konsum fehlt, werden die Nachteile als allgemeine Wirtschaftskrise sichtbar. Im Widerspruch der Entwicklung der Produktivkräfte und der Konsumkraft der Massen liegen eine zentrale Erklärung der periodischen Wiederkehr von Krisen und ein selbstzerstörerisches Moment des auf Wachstum angewiesenen Kapitalismus. Darüber hinaus greifen andere Faktoren (wie sinkende Profitraten und Geldentwertung) in Krisenzeiten rasch ineinander. Von Marx können wir lernen, dass Wachstum nie linear und störungsfrei verläuft. Da einzelbetriebliche Planung und maximiertes Profitstreben letztlich immer zu Über- und Fehlproduktion führt, können Krisen auch als Selbstreinigungsprozess des Kapitalismus interpretiert werden. Nach der Vernichtung von Kapital in Form von mit Firmenschließungen verbunden Entlassungen kann die Profitrate wieder steigen, und die Wachstumsspirale beginnt von vorne. Von Selbstregulationsfähigkeit der Märkte im Sinne einer gerechten Verteilung kann aber nicht gesprochen werden; sie wurde bis heute nicht eingelöst. Am meisten spüren zyklisch vorprogrammierte Konjunkturschwankungen und Krisen jedoch die Arbeiter, an die sie als Lohnkürzungen oder Entlassungen weitergegeben werden.

Verwunderlich ist jedoch, dass wir spätestens seit Marx von der Instabilität und Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise wissen müssten. Dennoch scheint jede Krise wie ein unerwartetes Ereignis über uns hereinzubrechen bzw. wurden bis heute nur unzureichende Lösungen entwickelt. Da sich die kapitalistische Logik inzwischen auf alle Teilbereiche unserer Gesellschaften ausgeweitet hat, wo Waren oder Dienstleistungen hergestellt werden – ­also auch die Bereiche Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, staatliche Verwaltung usw. (die Privatisierung und »Vermarktlichung« wird auch Kommodifizierung genannt) – und sich der Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks auf fast alle Länder ausgeweitet hat, hat sich auch der Krisenzyklus zu multidimensionalen Krisen ausgewachsen: als Folge und Prinzip des Wachstumszwangs. Was als Krise der Arbeitsgesellschaft bezeichnet wird, ist nur eine Sichtweise auf die Gesamtproblematik kapitalistischen Wirtschaftens. Die heutige Erwerbsgeneration müsste sich zumindest an die Vorboten der aktuellen Weltwirtschaftskrise erinnern können, die in Gestalt der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre die sozialen und ökologischen Wachstumsgrenzen deutlich vorführten. Auch Spekulationen sind an sich nichts Neues, allerdings ist das Ausmaß der Blasen durch die Risikoanlagen (z. B. Hedgefonds, Leerverkäufe) seit den 1980er Jahren vermutlich größer als das in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre der Fall war5.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
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270 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783867549462
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