Kitabı oku: «Begegnungen»

Yazı tipi:

Kerstin Noëlle Vokinger Matthias Kradolfer Philipp Egli (Hrsg.)

Begegnungen von Kerstin Noëlle Vokinger, Matthias Kradolfer und Philipp Egli (Hrsg.) wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

© 2021 – CC BY-NC-ND (Work), CC BY-SA (Text)

Verlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch) Produktion & Vertrieb: buch & netz (buchundnetz.com) ISBN: 978-3-03805-367-5 (Print – Hardcover) 978-3-03805-366-8 (Print – Softcover) 978-3-03805-427-6 (PDF) 978-3-03805-428-3 (ePub) 978-3-03805-429-0 (mobi/Kindle) DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-367 Version: 1.01-20210506

Dieses Werk ist als gedrucktes Buch, sowie als E-Book in verschiedenen Formaten verfügbar. Weitere Informationen finden Sie unter der URL: https://eizpublishing.ch/publikationen/begegnungen/.

1
Vorwort

Alfred Kölz (1944–2003) schrieb in seinen «Beobachtungen»: «Ein Hemmnis für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis bilden die immer zahlreicher und umfangreicher werdenden Festschriften»[1]. Die Herausgeber dieses Sammelbandes lassen offen, ob die Einschätzung von Kölz zutrifft. Seine Worte waren Mahnung genug, Thomas Gächter, der am 19. Juni 2021 50 Jahre alt wird und zu den akademischen «Schülern» von Kölz zählt, nicht mit einer «traditionellen» Festschrift zu überraschen.

Dieses Buch ist also keine Festschrift – was ist es dann? Es versammelt Beiträge von (ehemaligen) Assistentinnen und Assistenten, die am Lehrstuhl von Thomas Gächter persönliche wie wissenschaftliche Erlebnisse sammeln durften. Gemeinsam ist den Beiträgen, dass sie aus gedanklichen Begegnungen mit Thomas Gächter heraus entstanden sind. Einige Autorinnen und Autoren entwickeln ein gemeinsames Thema weiter, andere spinnen frühere Gedanken fort. Die thematische Klammer des Buches bilden also die Begegnungen mit dem Jubilar. Wir alle erlebten ihn als Lehrer, Förderer und Begleiter. Neben seinem Scharfsinn beeindrucken sein Tatendrang und die unerschrockene intellektuelle Offenheit für Neues. Die in diesem Band versammelte Vielfalt zeigt eindrücklich die thematische Breite des Schaffens von Thomas Gächter.

Dem Konzept dieses Sammelbands entspricht es, dass die einzelnen Beiträge eher kurz und ohne überschwänglichen wissenschaftlichen Apparat gehalten sind. Wenn es dabei gelingt, auch über den Tellerrand der alltäglichen Juristerei hinauszublicken, wäre ein Anliegen der Herausgeber erfüllt.

Die Autorinnen und Autoren mussten einen anspruchsvollen Zeitplan meistern. Die zeitliche Komponente ist verantwortlich dafür, dass nicht alle «Ehemaligen» des Lehrstuhls mitwirken konnten.

Schliesslich danken wir der Hauptbibliothek der Universität Zürich, die einen Teil der Druckkosten übernommen hat.

Die Herausgeber

1 Monika Kölz (Hrsg.), Alfred Kölz (1944–2003) – Beobachtungen, Zürich/St. Gallen 2008, S. 18. ↵

Inhalt

  Vorwort

  Inhalt

  Autorenverzeichnis

  Buchteil I. Sozialversicherungsrecht

  Als die Stunde des Polizeigeistes schlug Gedanken zur frühen Regulierung der betrieblichen Personalvorsorge Philipp Egli Inhalt

  Angehörigenpflege – Jetzt muss etwas getan werden! Martina Filippo Inhalt

  Besteht eine Pflicht des ehemaligen Arbeitgebers zur Sanierung einer Rentnerkasse? Maya Geckeler Hunziker Inhalt

  Von Fledermäusen und Teufeln Wie die Angst vor dem Missbrauch das schweizerische Sozialversicherungsrecht veränderte Michael E. Meier Inhalt

  Invalidität und Justiz – oder warum es für Long-COVID keine Spezialrechtsprechung braucht Eva Slavik Inhalt

  Buchteil II. Gesundheitsrecht

  Leistungsaufschub nach KVG bei Kindern und Jugendlichen Brigitte Blum-Schneider Inhalt

  Das «weisse Blut» und weitere Erzählungen Caroline Brugger Schmidt Inhalt

  Auswirkungen der sich in Revision befindenden Spitalplanungsgesetzgebung auf die ärztlichen Vergütungssysteme von Listenspitälern des Kantons Zürich Silvio Hauser Inhalt

  Mehr Organe braucht das Land Dania Tremp Inhalt

  Informed Consent in der Medizin – Quo vadis? Kerstin Noëlle Vokinger Inhalt

  Buchteil III. Öffentliches Recht

  Prinzipien und Grundsätze als Hilfestellung für die Praxis ‒ am Beispiel des Hungerstreiks im Gefängnis Meret Baumann Inhalt

  Covid-19: Schlaglichter auf das Verhältnis zwischen «Recht» und «Wissenschaft» Kaspar Gerber Inhalt

  Staatliche Schutzpflichten gegenüber künftigen Generationen? Matthias Kradolfer Inhalt

  Die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsordnung im Lichte der Covid-19-Pandemie Jürg Marcel Tiefenthal Inhalt

  Buchteil IV. Lehrstuhlleben

  Häppchen aus dem Sozialversicherungsrecht und Delikatessen aus dem Lehrstuhlleben Matthias Appenzeller, Petra Betschart-Koller, Danka Dusek, Sarah Hack-Leoni, Michael E. Meier, Thuy Xuan Truong, und Dominique Vogt Inhalt

2
Inhalt

 SozialversicherungsrechtAls die Stunde des Polizeigeistes schlug – Gedanken zur frühen Regulierung der betrieblichen Personalvorsorge 000Philipp EgliAngehörigenpflege – Jetzt muss etwas getan werden! 000Martina FilippoBesteht eine Pflicht des ehemaligen Arbeitgebers zur Sanierung einer Rentnerkasse? 000Maya Geckeler HunzikerVon Fledermäusen und Teufeln – Wie die Angst vor dem Missbrauch das schweizerische Sozialversicherungsrecht veränderte 000Michael E. MeierInvalidität und Justiz – oder warum es für Long-COVID keine Spezialrechtsprechung braucht 000Eva Slavik

 GesundheitsrechtLeistungsaufschub nach KVG bei Kindern und Jugendlichen 000Brigitte Blum-SchneiderDas «weisse Blut» und weitere Erzählungen 000Caroline Brugger SchmidtAuswirkungen der sich in Revision befindenden Spitalplanungsgesetzgebung auf die ärztlichen Vergütungssysteme von Listenspitälern des Kantons Zürich 000Silvio HauserMehr Organe braucht das Land 000Dania TrempInformed Consent in der Medizin – Quo vadis? 000Kerstin Noëlle Vokinger

 Öffentliches RechtPrinzipien und Grundsätze als Hilfestellung für die Praxis ‒ am Beispiel des Hungerstreiks im Gefängnis 000Meret BaumannCovid-19: Schlaglichter auf das Verhältnis zwischen «Recht» und «Wissenschaft» 000Kaspar GerberStaatliche Schutzpflichten gegenüber künftigen Generationen? 000Matthias KradolferDie verfassungsrechtliche Zuständigkeitsordnung im Lichte der Covid-19-Pandemie 000Jürg Marcel Tiefenthal

 LehrstuhllebenHäppchen aus dem Sozialversicherungsrecht und Delikatessen aus dem Lehrstuhlleben 000Matthias Appenzeller/Petra Betschart-Koller/ 000Danka Dusek/Sarah Hack-Leoni/Michael E. Meier/ 000Thuy Xuan Truong/Dominique Vogt

3
Autorenverzeichnis

Matthias Appenzeller, BLaw, wissenschaftlicher Hilfsassistent am Lehrstuhl Gächter, Universität Zürich

Meret Baumann, Dr. iur., Rechtsanwältin, Generalsekretärin Sicherheits­direktion Kanton Zug

Petra Betschart-Koller, MLaw, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Gächter, Universität Zürich

Brigitte Blum-Schneider, Dr. iur., Helsana Versicherungen AG

Caroline Brugger Schmidt, lic. iur., EMSS, Bezirksrichterin, Rechtsberatung diabetesschweiz und selbständig tätige Juristin

Danka Dusek, Sekretärin, Universität Zürich

Philipp Egli, Dr. iur., Rechtsanwalt, Dozent und Leiter des Zentrums für Sozialrecht, ZHAW

Martina Filippo, Dr. iur., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialrecht, ZHAW

Maya Geckeler Hunziker, Dr. iur., Stabsmitarbeiterin Geschäftsleitung Erziehungsdepartement Kanton Schaffhausen

Kaspar Gerber, Dr. iur., LL.M., wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Lehrstuhl Gächter, Mitglied des Kompetenzzentrums Medizin – Ethik – Recht Helvetiae, Universität Zürich

Sarah Hack-Leoni, MLaw, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Gächter, Universität Zürich

Silvio Hauser, Dr. iur., Stadtspital Waid und Triemli, Zürich

Matthias Kradolfer, PD Dr. iur., Rechtsanwalt, Oberrichter, nebenamtlicher Bundesrichter

Michael E. Meier, Dr. iur., Rechtsanwalt, Oberassistent an der Universität Zürich

Eva Slavik, Dr. iur., Dozentin an der ZHAW, Richterin am Sozialversicherungsgericht Zürich

Jürg Marcel Tiefenthal, Dr. iur., Richter am Bundesverwaltungsgericht, Lehrbeauftragter an der Universität Zürich

Dania Tremp, Dr. iur., Rechtsanwältin, Projektleiterin / Rechtsdienst GDK

Thuy Xuan Truong, MLaw, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Gächter, Universität Zürich

Dominique Vogt, MLaw, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Gächter, Universität Zürich

Kerstin Noëlle Vokinger, Prof. Dr. iur. et Dr. med., LL.M., Rechtsanwältin, Universität Zürich

I

Als die Stunde des Polizeigeistes schlug
Gedanken zur frühen Regulierung der betrieblichen Personalvorsorge
Philipp Egli
Inhalt

1  Schreckgespenster

2  Verborgener Sozialstaat

3  Sozialgesetzgebung im Aktienrecht

4  Jäger und Paten des Polizeigeistes

Schreckgespenster

Wer wie Thomas Gächter die Ruhe der Nacht zum Arbeiten schätzt, wird sich von einer Geisterstunde nicht schrecken lassen. Einen klaren und kühlen Kopf zu bewahren, empfiehlt sich dabei nicht nur zur mitternächtlichen Stunde, sondern auch beim Blick in die Sozialgesetzgebung. Sie kennt ihre eigenen Schreckgespenster, wie sich beispielhaft an jener Zeit vor gut 70 Jahren zeigt, als die Stunde des Polizeigeistes schlug: Mit seinen Vorentwürfen zu einem Spezialgesetz über die betriebliche Personalvorsorge schuf der Bund in den Augen manch kritischer Beobachter ein bürokratisches Schreckgespenst. Was äusserlich als «kleines Spezialgesetz»[1] daherkam – 22 Paragraphen auf 7 Druckseiten –, erregte damals die Gemüter derjenigen Kreise, die vor dem Polizeigeist und damit vor der Gesinnung einer staatlichen Einmischung und Kontrolle erschauderten.[2]

Konkret richtete sich der Widerstand von Arbeitgebervertretern, Verbänden der Personalfürsorge und Teilen der Rechtslehre gegen den Vorentwurf zu einem Bundesgesetz über die Personalfürsorge privater Unternehmen vom 20. Juli 1951.[3] Der aus heutiger Sicht schlanke Vorentwurf sah eine einheitliche Regelung für alle Personalkassen privater Unternehmen vor.[4] Er zielte namentlich auf eine Stärkung der Rechtsstellung des Personals, indem den Arbeitnehmenden ein Recht auf Mitwirkung in der Verwaltung der Personalkassen sowie ein Anspruch auf die satzungsgemässen Leistungen eingeräumt worden wäre.[5] Vorgesehen war weiter eine Rückzahlung der eigenen Beiträge (zzgl. Zins) bei Auflösung des Dienstverhältnisses sowie eine Regelung des Rechtsmittelweges.[6] Stiftungsurkunde und Statuten wären vor der Eintragung auf ihre Gesetzeskonformität zu prüfen gewesen und das Vermögen der Personalkasse wäre vom Geschäftsvermögen des Unternehmens zu trennen gewesen.[7] Personalkassen wie auch Zuwendungen an Personalkassen blieben nach dem Vorentwurf von den direkten Steuern des Bundes befreit.[8]

Die Gegner der Vorlage sahen im Vorentwurf eine unnötige Reglementierung und drohenden Staatszwang in Gestalt von zahlreichen Zwangsvorschriften, die der bisherigen, auf Freiheit und Freiwilligkeit beruhenden privatrechtlichen Ordnung widersprachen:[9]

«Die Privatwirtschaft wird bevormundet (…) Wir haben hier ein Beispiel des Staatsinterventionismus vor uns, einen weiteren Schritt zur Bürokratisierung.»

Das war starker Tobak. Der Zürcher Zivilrechtsprofessor August Egger, der selbst an den Vorentwürfen mitgewirkt hatte, verwies nicht nur auf den «gereizten Ton» der Debatte, sondern vor allem auch auf die Defizite des damals geltenden (Stiftungs-)Rechts.[10] Bei einer gewöhnlichen Stiftung – so Egger – komme die Leistung der Stiftung über die Destinatäre wie eine Schenkung. Ganz anders sei dies bei Wohlfahrtseinrichtungen, bei denen die Destinatäre auf die Leistungen zählen, da sie Teil ihres Lebensstandards bilden. Was bei gewöhnlichen Stiftungen etwas Unerhörtes wäre – die Heranziehung der Destinatäre zu eigenen Beitragsleistungen –, bedeute hier eine höher entwickelte Form der Wohlfahrtsinstitution. Leistungen von Wohlfahrtseinrichtungen seien keine reine Liberalität, sondern ein besonders gestaltetes zusätzliches Entgelt für geleistete Arbeit.[11]

Nachvollziehbar war daher für Egger das starke Interesse des Personals an den Wohlfahrtseinrichtungen, an der Verwendung der Mittel, an der eigenen Rechtsposition. Das Personal empfinde das Bedürfnis nach Rechtssicherheit, wie es unser ganzes rechtsstaatliches Denken erzeuge: «Warum dann nicht dem offenkundigen Bedürfnis des Personals Rechnung tragen?»[12] Der autoritäre Charakter der Stiftung – die dauernde Beherrschung durch den Stifterwillen – bedürfe bei Wohlfahrtseinrichtungen der Milderung durch die Ausrichtung auf die Interessen der Betriebsgemeinschaft von Unternehmen und Personal, auf die «human relations». Egger ermahnte, man dürfe sich durch Doktrinarismus weder leiten noch schrecken lassen.[13]

Das primäre Anliegen von Egger war also eine Stärkung der Rechtsstellung des Personals und weniger eine Stärkung staatlicher Bevormundung. Egger war durchaus skeptisch gegenüber der «Tendenz, den Schwierigkeiten des Wirtschafts- und Soziallebens in raschem Zugriff mittelst der Gesetzgebungsmaschine zu begegnen».[14] Doch sein differenziertes Votum blieb ungehört: Die Vorarbeiten versandeten und es sollten noch Jahrzehnte verstreichen, bis eine Spezialgesetzgebung zur beruflichen Vorsorge mehrheitsfähig wurde.[15] Zu stark dachten die Gegner der Vorlage in der allzu einfachen «doktrinären» Gegenüberstellung von staatlichem Zwang und freiheitlicher Wirtschaft. Daraus ergab sich beinahe zwangsläufig ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen den privaten Interessen an einer freiheitlichen Ordnung und den öffentlich-rechtlichen Interessen an der sozialen Sicherstellung des Arbeitnehmers.[16]

Und so sahen die Gegner Geister: Das Spezialgesetz erschien ihnen als Bevormundung durch den Staat und als Zersetzung der Zivilrechtsordnung[17] – oder eben: als Schreckgespenst und Polizeigeist. Zweifelhaft erscheint mir, ob diese Kritik berechtigt war. Allenfalls jagten die Gegner der Vorlage Geister, für die sie selbst die Mitverantwortung trugen: Waren die Jäger des Polizeigeistes womöglich auch seine Paten? Bevor auf diese Frage zurückzukommen sein wird (IV.), lohnt es sich, einige Streiflichter auf die frühe Regelung der betrieblichen Personalvorsorge im Steuerrecht (II.) und im Aktienrecht (III.) zu werfen.

Verborgener Sozialstaat

Als sich die eben erwähnten Geisterjäger vor gut 70 Jahren berufen fühlten, gegen das Schreckgespenst einer Spezialgesetzgebung anzukämpfen, förderte der Staat bereits seit über 30 Jahren mit Hunderten von Millionen Franken die privaten Wohlfahrtseinrichtungen. Dies geschah allerdings nicht über ein Spezialgesetz oder direkte Geldzahlungen, sondern über die Befreiung von den kriegs- und krisenbedingten Steuern der ersten Jahrhunderthälfte.[18] Diese später auch in das ordentliche Steuerrecht von Bund und Kantonen überführten Regelungen trugen massgeblich zum Aufblühen der privaten Wohlfahrtseinrichtungen bei.

Ab dem Jahr 1916 liess der Bund Wohlfahrtszuwendungen der Unternehmen als Steuerabzüge bei der Kriegsgewinnsteuer zu. Im Ergebnis leistete der Bund nach eigener Einschätzung «gewaltige Beiträge» durch die Steuerbefreiung der Wohlfahrtszuwendungen.[19] Mitunter wurden die Steuerprivilegien gar als einer der «allerwichtigsten» Beschlüsse bezeichnet, die der Bundesrat im Rahmen der Vollmachten (pleins pouvoirs) des Ersten Weltkrieges getroffen hatte.[20] In der Tat: Bis ins Jahr 1921 belief sich das Total der (definitiv oder provisorisch) steuerbefreiten Zuwendungen bereits auf CHF 200 Millionen, bei Gesamteinnahmen durch die Kriegsgewinnsteuer von rund CHF 790 Millionen.[21] Im Laufe der folgenden Jahrzehnte sollten es die einleitend erwähnten «Hunderten von Millionen Franken» werden.[22]

Selbstredend war der Fiskus darum bemüht sicherzustellen, dass diese «gewaltigen Beiträge» zweckentsprechend verwendet wurden. Deshalb verlangte die eidgenössische Steuerverwaltung bereits früh, «dass die Zuwendung mit selbständiger juristischer Persönlichkeit ausgestattet werden müsse».[23] Im Alltag fiel die Durchsetzung und Kontrolle der Zweckbindung allerdings schwer – «ein etwas heikles Thema», wie der Bundesrat bald einmal in aller Zurückhaltung einräumen musste.[24]

Allzu verlockend war für die Unternehmen die Steuerfreiheit: Möglicherweise ging es ihnen bisweilen «weniger um das Wohl ihrer Angestellten und Arbeiter, als vielmehr um die Reduktion ihrer Kriegsgewinnsteuerpflicht».[25] Eigennutz hinderte die Errichtung der Stiftung indes nicht.[26] Allerdings fehlte es den Unternehmen nicht selten am Willen oder an den Mitteln (oder an beidem), um die geforderte Sicherheit in Form einer tatsächlichen Ausscheidung und Überführung der Mittel in verselbständigte Stiftungen zu leisten. Selbst der Fiskus musste sich in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg damit begnügen, dass sich die Aktiven einer verselbständigten Wohlfahrtseinrichtung in einer ungesicherten Forderung gegenüber dem Unternehmen erschöpften.[27] Die Stiftungen dienten damit auch der steuerbegünstigten Selbstfinanzierung der Unternehmen.[28]

In der Neuen Zürcher Zeitung war später zugespitzt von «Potemkinschen Stiftungen» die Rede,[29] das heisst von Stiftungen, deren Aktiven nur auf dem Papier Geldwert hatten. Heute würde man sie vielleicht als Zombie-Stiftungen bezeichnen – also Stiftungen, «die nicht leben, aber auch nicht sterben können».[30] Solche Stiftungen konnten nur beschränkt zur sozialen Fürsorge beitragen.

Kontrolle tat also Not. Stiftungsrechtlich war eine behördliche Aufsicht zur Sicherung des Stiftungszwecks schon damals gesetzlich vorgeschrieben;[31] die staatliche Aufsicht ist bei Stiftungen «von alters her» bewährt.[32] Weiter gingen die Steuerbehörden von Bund und Kantonen im Laufe der Jahrzehnte dazu über, detaillierte Regelungen zu den Voraussetzungen der Steuerbefreiung aufzustellen. Die beinahe 800-seitige (!) Dissertation von Hans Wirz aus dem Jahr 1955 zur Stellung der Wohlfahrtseinrichtungen im Steuer- und Aufsichtsrecht mit einer umfassenden Darstellung der damaligen Steuerpraxis von Bund und Kantonen lässt Detailliertheit und Dichte der steuerlich motivierten Regeln erahnen.[33] Die Themen der steuerlichen Regeln waren vielfältig und nahmen diejenigen des geplanten Spezialgesetzes vorweg.

Angesichts dieser zunehmenden Regulierung der Wohlfahrtseinrichtungen durch das Steuerrecht sprach Wirz kritisch von einer kalten Revision der zivilrechtlichen Strukturen:[34] Das öffentlich-rechtliche Steuerrecht überformte zunehmend das privatrechtliche Stiftungsrecht. Diese «expansive Kraft» des Steuerrechts geriet dort an rechtliche Grenzen, wo die Kantone mit ihrem Steuerrecht allzu stark in zivilrechtliche Strukturen eingriffen.[35] Die damit einhergehenden Spannungen zwischen Stiftungsrecht und Steuerrecht zeigten sich etwa dann, wenn Steuerbehörden eine Ausscheidung oder Sicherstellung des Stiftungsvermögens einforderten[36] oder die Steuerbefreiung von Anpassungen in den Stiftungsurkunden abhängig machten, die Stiftungsaufsicht aber vom Grundsatz der Unabänderlichkeit der Stiftungssatzungen ausging[37].

Lehre und Praxis fanden zwar Wege, um die beiden Rechtsordnungen aufeinander abzustimmen.[38] Auch drängte der Bundesrat die kantonale Stiftungsaufsicht geradezu zur Kontrolle: «Die steueramtliche Kontrolle allein führt … nicht zum Ziel, wenn sie nicht durch eine ernsthafte, zeitlich unbegrenzte Kontrolle der Aufsichtsbehörde ergänzt wird.»[39] Doch die Gesetzgebung der Kantone blieb unterschiedlich, die kantonale Rechtspraxis uneinheitlich und die Rechtslage entsprechend unübersichtlich.

Auffallend ist, dass durch die «Hintertür» des Steuerrechts schon früh eine staatliche Regulierung der betrieblichen Personalvorsorge einsetzte.[40] In den Sozialwissenschaften wurde eine solche staatliche Sozialpolitik über das Steuerrecht auch schon als unsichtbarer oder verborgener Sozialstaat (hidden welfare state) bezeichnet.[41] Möglicherweise war es diese «Unsichtbarkeit», die es Max Huber in seinem Geleitwort zur immerhin 800-seitigen Dissertation von Hans Wirz erlaubte, mit Blick auf die Wohlfahrtseinrichtungen ein Hohelied auf die private Initiative, die freie Wirtschaft und die betriebliche Sozialpolitik anzustimmen.[42]

Eine spezialgesetzliche Regelung im Sinne von August Egger wäre allenfalls die Möglichkeit gewesen, dieses zunehmend unübersichtliche Dickicht von mehr oder weniger verborgenen steuerlichen (und stiftungsrechtlichen) Regeln durch klare und transparente (zivil-)rechtliche Grundsätze obsolet zu machen.[43] In dieser Lesart wäre die Spezialgesetzgebung sogar ein Beitrag gegen den staatlichen Bürokratismus und für eine Stärkung der zivilrechtlichen Rechtsstellung des Personals gewesen – aber um dies so zu sehen, hätte man Privatrecht nicht einfach mit der Freiheit und Freiwilligkeit der (Aktien-)Gesellschaft gleichsetzen dürfen.

₺1.087,93

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
261 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9783038054283
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi: