Kitabı oku: «Christlich-soziale Signaturen»

Yazı tipi:

Bettina Rausch / Simon Varga (Hg.)

Christlich-soziale Signaturen

Grundlagen einer politischen Debatte

edition noir

edition noir

Impressum

© 2021 Verlag noir, Wien

2. Auflage

Verlag noir, 1120 Wien, Tivoligasse 73

Redaktion und Lektorat: Christian Moser-Sollmann, Lorenz Jahn

ISBN: 978-3-9504939-4-9

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

I. Grundlagen und politische Fragen

Grundlegungen einer christlich-sozialen Politik

Bettina Rausch

Werte, Demokratie und christlicher Glaube: ein praktisch-theologischer Zugang aus katholischer Sicht

Regina Polak

Der christliche Mensch und das Politische: Christsein und Politik

Clemens Sedmak

Eigenverantwortung in christlich-sozialer Perspektive

Manfred Prisching

„Wohlstand für alle“ – wer finanziert das?

Markt, Staat und christliche Grundlagen in der Sozialen Marktwirtschaft

Philip Plickert

Eigenverantwortung, Solidarität, Wettbewerb, Wohlstand

Grundlagen und Positionen einer christlich-liberal inspirierten Sozialpolitik

Walter Marschitz

Nachhaltige Kreislaufwirtschaft statt schneller Profite

Christian Moser-Sollmann

Erfolgreiche Bezirkspolitik aus christlich-sozialer Perspektive

Silke Kobald / Harald Mader

Politik und Journalismus als zwei Seiten einer Medaille

Rudolf Mitlöhner

II. Theologische Fragen

Christliches Familienbild im Wandel der Zeit

Philosophische und theologische Annäherungen an die Relevanz von Familien für Gesellschaft und Staat

Paul R. Tarmann

Politik für den Menschen braucht weder „christlich“ noch „sozial“ zu sein

Martin Rhonheimer

Ethik- und/oder Religionsunterricht?

Die philosophisch-theologischen Wurzeln einer europäischen Ethik – ihre Entwicklung im Spannungsfeld zwischen säkularem Staat und religiösem Hintergrund

Matthias Beck

Sozialpolitik aus christlich-sozialer Sicht

Das Prinzip caritas in der Demokratie

Benno Elbs

„Christlich-sozial“, „Christdemokratisch“ oder „Christlich“?

Das hohe „C“ im Spannungsfeld von Politik, Ethik und Theologie

Ingeborg G. Gabriel

Die Dynamik des zeitgemäßen Begriffs der Empirie

Christliche Theologie und Journalistik haben ihre Erkenntnishorizonte vernünftig erweitert

Veit Neumann

III. Philosophische Fragen

Christlich-soziale Politik und das Naturrecht im Spannungsfeld von antiker Philosophie, Christentum und säkularem Staat

Geschichte – Gegenwart – Zukunft

Till Kinzel

Das Prinzip Eigenverantwortung

Mensch – Gemeinschaft – Gesellschaft

Simon Varga

Freiheit als in Besonnenheit gelebte Verantwortung

Ein multidimensional bedingter Raum des Dialogs

Emmanuel J. Bauer

IV. Beiträge von Nachwuchswissenschaftlern

Das Christlich-Soziale und die Politik

Reflexionen über ein ambivalentes Verhältnis im Kontext der Digitalisierung

Martina Tiwald

Der Begriff des christlichen Politikers versus den laizistischen Rechtsstaat

Werner Bruck

Welches Ethos braucht es, um eine christlich-soziale Gesellschaft zu verwirklichen?

Welchen Beitrag könnte die Bildung dazu leisten?

Doris Dorer

Autorenporträts

Vorwort

Der liberale Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Mit dem Böckenförde-Diktum hat der bekannte Verfassungsrechtler klar umrissen, dass es auch in einer säkularen Gesellschaft für alle Bürgerinnen und Bürger verbindliche Regeln braucht, wenn das politische Zusammenleben langfristig funktionieren soll. Worauf diese Regeln aber aufbauen, und dass diese Regeln mehr sein müssen als Gesetze und Normen, ist vielen Bürgerinnen und Bürgern in unserer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr auf den ersten Blick bewusst. Mit dem vorliegenden Sammelband wollen wir begriffliche Orientierung geben und unterschiedliche Zugänge zu einem wertebasierten Politikverständnis vermitteln.

Die neue Volkspartei baut ihren Wertekosmos auf einem christlich-humanistischen Weltbild auf. Im modernen Sinne versteht man darunter, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oder anderen Merkmalen wie Geschlecht, Ethnie oder Alter denselben Wert haben, da sich alle durch ein dem Menschen einzig gegebenes Merkmal auszeichnen: ihre Würde. Aus diesem Menschenbild leiten wir die Kernwerte christlich inspirierten politischen Denkens und Handels ab: Freiheit, Verantwortung, Nachhaltigkeit, Leistung, Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit.

Warum wir auch in einer säkularisierten Gesellschaft am christlich-humanistischen Menschenbild festhalten, und wie vielfältig die Herangehensweisen an den Begriff „christlich-sozial“ sein können, zeigen wir mit diesem Buch. Namhafte Theologen, Wissenschaftler und Politologen diskutieren, warum und wie die christlichen Traditionen den politischen und demokratischen Diskurs bereichern können. Zusätzlich haben wir auch junge Autorinnen und Autoren im Rahmen eines Wettbewerbs eingeladen, ihre Gedanken zum Thema einzubringen. Die besten drei Beiträge sind im Sammelband abgedruckt.

Als Herausgeber freuen wir uns, dass so intensiv und leidenschaftlich über christlich-soziale Politik diskutiert wird – uns ist die ständige Reflexion in der öffentlichen und akademischen Diskussion wichtig. Die Kernfrage lautet, wie wir im 21. Jahrhundert das Leitbild einer Gesellschaft freier und verantwortlicher Menschen verwirklichen können. Auf diese Frage versucht der Sammelband umfassende und fachlich fundierte Antworten zu geben.

Bettina Rausch und Simon Varga


Grundlegungen einer christlich-sozialen Politik

Bettina Rausch

Seit den 1990er-Jahren gibt es länderübergreifende Veränderungen in der Sozialpolitik, die häufig mit Begriffen wie „Eigenverantwortung“, „Teilhabegerechtigkeit“ und „Generationengerechtigkeit“ begründet werden. Sozialpolitik braucht ein theoretisches Fundament, das insbesondere das Wesen des Menschen an sich klären und erklären muss. Eine solche theoretische, aber nicht teleologische Grundlegung für Sozialpolitik bietet die christliche Soziallehre.

„Sozial ist, was stark macht“, hat Sebastian Kurz klar die Grundsätze der Sozialpolitik der neuen Volkspartei umrissen. Sozialpolitik muss dabei Grundsätze aufgreifen, die die Politik theoretisch legitimieren und auf die man in Übergangszeiten zurückgreifen kann. Eine solche theoretische Grundlegung für die Sozialpolitik der neuen Volkspartei bietet die christliche Soziallehre. „Soziallehre“ versteht sich für uns nicht als Heilslehre mit innerweltlichem Erlösungsanspruch, sondern schöpft ihre Grundlagen aus einem Menschenbild und einer Anthropologie, die das „Mängelwesen Mensch“ (Gehlen) in seiner Gesamtheit beschreibt und ernst nimmt. Gerade Sozialpolitik benötigt eine theoretische Grundlegung, da sie ansonsten Gefahr läuft, sich in unfinanzierbarem Populismus zu erschöpfen. So zeugt die gegenwärtige Hochkonjunktur der sozialen Frage nicht unbedingt vom ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl der Akteure, vielmehr folgen viele Vorschläge dem schlichten Motto „links, weil’s bequem ist“. Die Debatte um Mindestlöhne, so die Schlussfolgerung eines „Zeit“-Leitartikels, sei kein Indiz dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sozialer würden, sondern dass das Elektorat lediglich mehr Geld und weniger Zumutungen wolle. Wer heute als Anwalt der sozialen Frage auftritt, vermischt dabei nur allzu oft Altruismus, Bigotterie und Eigennutz. „Sozial“ wird dabei missdeutet als eine Politik, die dem Einzelnen weniger abverlangt und mehr zukommen lässt. Nur ist langfristig populäre Politik nicht immer die sozialste, denn am Ende des Tages gilt immer noch: There is no such thing as a free lunch.

Und eben hier liegt der wunde Punkt aktueller sozialpolitischer Debatten. Nicht zu wollen heißt hierzulande nunmehr vor allem eines: Reduktion von Politik auf Sozialhilfe. „Sozialpolitik“ wäre schon zu viel gesagt. Die Bismarck’sche Sozialpolitik, Geburtshelfer der heutigen, diente ja dem Zweck, die Arbeiter zu befrieden, um dafür umso mehr den Willen Bismarck’scher Politik durchsetzen zu können. Es war gewissermaßen die Zweiteilung zwischen denen, die fragen „Was wird uns geschehen?“ und denen, die fragen „Was können wir tun?“. Die Frage nach dem, was uns geschehen wird, ist die Frage der Dekadenz, zu der Bismarck die Arbeiterschaft überreden wollte, während er selbst den Willen zur Macht exerzierte. Gehen wir taktvollerweise nicht dem Verdacht nach, inwiefern die Sozialpolitik der 1930er- und 1940er-Jahre zum Modell für die heutige geworden ist. Die vorangegangene Amoral jedenfalls sollte die aktuellen Führer der Sozialdemokratie eigentlich abschrecken, ihren Willen zur Sozialhilfe so ganz ohne sonstige Ambitionen zu verklären.

Aus diesem falsch verstandenen Pragmatismus – gepaart mit einem Mangel an außermaterialistischen Überzeugungen und dem Fehlen eines positiven Menschenbilds – entsteht für Alois Mock, den Vordenker eines ganzheitlichen christlich-sozialen Politikstils, inhaltliche Beliebigkeit, schlimmstenfalls sogar politische Orientierungslosigkeit. Mock hielt ein christliches Menschenbild für den wesentlichen Bestandteil von Sozialpolitik: „Ich wage zu behaupten, dass es allein die christdemokratischen Parteien sind, die nach einem gesellschaftlichen Modell Politik machen. Wer vertritt denn heute noch einen der acht bis zehn Grundsätze, die zur Gründung der sozialistischen Parteien geführt haben? Wahlen gewinnen sie nur, wenn sie den Sozialismus verstecken.“1

Die neuen sozialen Fragen lassen sich nicht mit dem überlieferten Instrumentarium der Sozialpolitik der Nachkriegszeit befriedigend beantworten. Zu oft beschränkt sich Sozialpolitik auf die Alimentierung der aus dem Erwerbsprozess Herausgefallenen. Eine neu entstandene, im Feuilleton mit einer Mischung aus Ekel und distanziertem Entsetzen beschriebene Unterschicht hat schmerzhaft aufgezeigt, dass die Logik der passiven Transferzahlung langfristig alles andere als sozial verträglich ist. Vielmehr entlässt sie die Menschen in die Unmündigkeit und schürt eine Unzufriedenheit, die nur allzu oft zu Gewalt und anderen sozialen Problematiken führt.

Die Selbstgenügsamkeit der traditionellen Sozialpolitik mit ihren abstrakten Solidaritätsgesten vergaß dabei, den notwendigen Beitrag jeder einzelnen Person für das Gemeinwohl einzufordern. Jetzt geht es darum, „Narrative des Sozialstaates“ (Meyer) zu finden, die die Interessenkonflikte zwischen Individuum und Gemeinwohl sowie zwischen Kapital und Arbeit zum Wohle der Gesamtgesellschaft minimieren. Eingelernte Verhaltensmuster, beliebte Sündenböcke und altgediente Feindbilder müssen hinterfragt werden. Es ist beispielsweise nicht sozial, wenn der Mittelstand in Österreich knapp 42 Prozent der Lohn- und Einkommensteuer entrichten muss, weshalb die neue Volkspartei klar für Steuerentlastungen eintritt. Es ist beispielsweise nicht sozial, wenn die gesellschaftliche Durchlässigkeit in Österreich erschreckend gering ist. Und schließlich: Es ist generell nicht sozial, wenn Partikularinteressen als bedeutender als Gesamtinteressen angesehen werden. Um den Sozialstaat neu zu denken, braucht es also einen theoretischen Überbau, der Sozialpolitik nicht in eigentlich zynischer Art und Weise mit der Auszahlung von Geld zur Befriedigung kurzfristiger Konsumanreize verwechselt. Das Ziel von Sozialpolitik muss sein, Menschen langfristig bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen und sie zu befähigen, selbst ihr Leben zu finanzieren und zur Gemeinschaft beizutragen.

Nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus verbleiben die christliche Soziallehre, die „soziale Demokratie“2 und die liberale Demokratie als politische Weltanschauungen, die sich mit unterschiedlicher Gewichtung an der sozialen Frage abarbeiten. Während im rein liberalen Diskurs die soziale Frage oft zu einschränkend als Folgeprodukt der Marktwirtschaft betrachtet wird, ist sie für die christliche Soziallehre und die soziale Demokratie eine zentrale Begrifflichkeit, um die Gesellschaft in all ihrer Widersprüchlichkeit zu denken. Während die soziale Demokratie aber materialistisch und immanent argumentiert, fordert die christliche Soziallehre auch nicht-materialistische und transzendente Werte und Begrifflichkeiten ein.

Solche Grundwerte können von Parteien ebenso wenig wie in Verfassungen letztbegründet werden – wie es auch der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem Diktum, wonach „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“3, formuliert. Gemeinsame Werte können zwar von der Gesamtgesellschaft anerkannt werden, aber begründen kann diese Werte in pluralistischen Gesellschaften nur der Einzelne. Oberste und letztendliche Wahrheiten kann eine demokratische Politik nicht liefern; politische Parteien begnügen sich mit vorletzten Begründungen und überlassen es dem Gewissen des und der Einzelnen, Entscheidungen schlüssig zu begründen. Stimmige Letztbegründungen für soziale Homogenität und nachhaltige Sozialpolitik findet der Bürger beim Rückgriff auf die großen Weltreligionen und die klassischen philosophischen Ethiken. Neben der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik haben auch der Islam (z. B. mit der Zakat) und das Judentum komplexe Vorschriften für ein sozial verträgliches Miteinander entwickelt.

Christliche Zugänge zum Sozialen

Die katholische Soziallehre fußt auf bestimmten philosophischen Überzeugungen und Prämissen und erhebt daher auch den Anspruch, von jedem, also auch von Nichtchristen, Atheisten und Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften akzeptiert werden zu können. Im Unterschied zur katholischen stellt die evangelische Sozialethik auch ihre theologischen Grundlagen dar und stellt die Frage „Was soll ich tun?“ in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Die evangelische Sozialethik verzichtet auf leitende Prinzipien und bietet dem Einzelnen keine vorgefertigten Handlungsanleitungen an. Vielmehr besinnt sich die evangelische Sozialethik auf den Kern der christlichen Botschaft und fordert den Einzelnen auf, bei der weltlichen Gestaltung aktiv mitzuarbeiten. Als Leitfaden und Einstieg in die Grundfragen der evangelischen Ethik bietet sich die „Barmer Theologische Erklärung“ des Jahres 1934 an.

Die katholische Kirche hat neben dem Primat des Gewissens als menschliche Leitinstanz zusätzlich eine Soziallehre entwickelt. Unter dem Begriff „katholische Soziallehre“ versteht man kirchliche und päpstliche Schriften zu sozial relevanten Themen und Fragestellungen. Die erste Abhandlung aus dem Jahre 1892 verfasste Papst Leo XIII. unter dem Titel „Rerum novarum“, wo der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sowie die Ausbeutung der Lohnarbeiter thematisiert wurden. Sie ist vor allem eine Erwiderung an den damals entstehenden Sozialismus. Eine Vielzahl weiterer Sozialenzykliken4 folgte und zum 100. Jubiläum des sozialen Lehramts der Kirche veröffentlichte Papst Johannes Paul II. mit „Centesimus annus“ eine Jubiläumsenzyklika. In diesen hundert Jahren haben sich auch die bleibenden Prinzipien der katholischen Soziallehre herausgebildet und weiterentwickelt. Die grundlegenden Prinzipien der Soziallehre bilden „den wahren und eigentlichen Angelpunkt“5 und erheben den Anspruch, die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit deuten zu können. Damit behaupten und reklamieren sie einen „allgemeinen und grundlegenden“ Charakter für sich und verstehen sich als philosophisches System, das sich sowohl aus den Quellen der Bibel als auch aus Erkenntnissen der Sozialethik speist.

Die katholische Soziallehre ist ein philosophisch-logisch argumentierendes Ordnungssystem, das mit seinen Prinzipien und Axiomen explizit auch Gläubige anderer Konfessionen und Agnostiker ansprechen und vertreten will. Im Unterschied zu den vorletzten Begründungen von Politik und Interessenvertretungen beanspruchen die vier Grundprinzipien eine a priori für jeden Menschen moralische Bedeutung, da sie „auf die letzten und Richtung gebenden Grundlagen des sozialen Lebens verweisen. […] Die Prinzipien bilden in ihrer Gesamtheit jene ersten Formulierungen der Wahrheit, die jedes Gewissen dazu aufrufen und einladen, in Freiheit und voller Mitverantwortlichkeit mit allen und für alle zu handeln.“6 In diesem universalen Geltungsanspruch steckt auch die Rückbindung an die moralische Verpflichtung jedes Einzelnen, diese Prinzipien aktiv zu leben und zu befolgen, um gemäß dem göttlichen Schöpfungsauftrag zu handeln. Das klingt in säkularen und aufgeklärten Gesellschaften bisweilen fremd und unverständlich, wird aber durch das Diktum der Gottesebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen klarer: Wenn ich meinen Mitmenschen – gleich ob gläubig oder ungläubig – als Gottes Ebenbild betrachte, werde ich ihn respektvoller behandeln, als wenn ich ihn als „arrivierten Affen“ oder noch „nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche) sehe. Mit dem sich ebenfalls als universaler Geltungsanspruch anmeldenden Kant’schen kategorischen Imperativ und den Menschenrechten, die jedoch ohne transzendente und überzeitliche Versprechungen auskommen müssen, bietet die katholische Soziallehre Leit- und Richtlinien für sozial verträgliches Zusammenleben an. Dabei formuliert sie im Unterschied zu anderen katholischen Lehrbereichen keine Dogmen, sondern möchte mit den Prinzipien konkrete Hilfestellungen für alltägliche Situationen anbieten.

Die vier Grundprinzipien der katholischen Soziallehre

Der Begriff der Personalität ist breiter als der des Individuums angelegt und bildet das Fundament der Soziallehre. Jeder Mensch ist einmalig und individuell geschaffen; jeder Mensch ist eine Einheit aus Leib und Seele. Als Abbild Gottes besitzen Mann und Frau dieselbe Würde und sind gleichwertig, aber nicht jedes Individuum ist gleich an Talenten und Fähigkeiten. Die einzelne Person erschöpft sich nicht in ihrer Individualität, sondern jeder Mensch ist seinem Wesen nach sozial und strebt nach Gemeinschaft. Menschliche Gemeinschaften sind dabei nicht einförmig, sondern pluralistisch. Damit die Entfaltung der Persönlichkeit sich nicht in Egoismen erschöpft, sondern dem Wohle aller dient, folgt aus dem Personalitätsprinzip in naturgemäßer Konsequenz das Gemeinwohlprinzip. Um das Gemeinwohl in der Gesellschaft zu verwirklichen, ist jede und jeder Einzelne in die Pflicht genommen, muss sich individuellen Anlagen gemäß beteiligen. Das Gemeinwohl wird in der katholischen Soziallehre im Unterschied zum historischen Materialismus weder ausschließlich historisch noch ausschließlich materialistisch definiert, es verfolgt vielmehr eine transzendente Zielsetzung, die nicht auf bloße sozioökonomische Kennzahlen verkürzt werden kann. Schließlich lebt der Mensch nicht von Brot allein. Wohlstandsverwahrlosung ist ein sicheres Indiz dafür, dass menschliche Armut nicht nur in ökonomischen Begriffen gedacht und argumentiert werden darf.

Das dritte Grundprinzip, die Subsidiarität (von lat. „subsidium“: Hilfe, Reserve), setzt Selbstverantwortung vor staatliches Handeln. Was der einzelne Bürger in Vereinen, in der Familie, in der Nachbarschaft, in seiner Gemeinde, in seiner Region selbstständig schaffen, produzieren und verwalten kann, soll er nicht an den anonymen staatlichen Verwaltungsapparat delegieren. Verantwortungsgefühl entsteht durch räumliche Nähe, individuelle Betroffenheit und persönliche Taten, und nicht durch Anonymität und rhetorisch-abstrakte Gesten. Subsidiarität will die ursprünglichen und natürlichen gesellschaftlichen Ausdrucksformen und örtliche territoriale Besonderheiten und Gegebenheiten schützen, sie politisch und gesetzlich fördern und unterstützen. Der bürgerliche Leitsatz der Hilfe zur Selbsthilfe findet darin seinen Ursprung: „Wie das, was von einzelnen Menschen auf eigene Faust und in eigener Tätigkeit vollbracht werden kann, diesen nicht entrissen und der Gemeinschaft übertragen werden darf, so ist es ein Unrecht und zugleich ein schwerer Schaden und eine Störung der rechten Ordnung, das auf eine größere und höhere Gemeinschaft zu übertragen, was von kleineren und niedrigeren Gemeinschaften erreicht und geleistet werden kann; denn jede gesellschaftliche Tätigkeit muss ihrem Wesen und ihrer Natur nach den Gliedern des gesellschaftlichen Leibes Unterstützung leisten, darf sie aber niemals zerstören und aufsaugen.“7

Für die Verwaltung bedeutet dies, dass Körperschaften höherer Ordnung (zum Beispiel der Bund) gegenüber der nachgeordneten „eine Haltung der Hilfestellung – also der Unterstützung, Förderung und Entwicklung – einnehmen“.8 Der Staat muss also dem Individuum helfen, seine Potenziale optimal auszuschöpfen. Bürgerliche Mitbeteiligung am politischen Willensprozess sind die Eckpfeiler der Subsidiarität. Um dieses Prinzip glaubwürdig zu vertreten, müssen Gesellschaften etwa attraktive Aufstiegsmöglichkeiten für unterprivilegierte Menschen und Migranten schaffen; eine subsidiär organisierte Gesellschaft muss sozial durchlässig sein und innergesellschaftliche Mobilität ermöglichen.

Im vierten Prinzip, dem Solidaritätsprinzip, kommt die wechselseitige Abhängigkeit von Individuen und Gruppen (seien es Völker, Schichten, Institutionen) zum Ausdruck; zwischen solidarischem Handeln und Gemeinwohl besteht also ein kausaler Zusammenhang. Christlich verstandene Solidarität ist aktiver als der sozialdemokratische Solidaritätsbegriff angelegt, der Solidarität passiver und abstrakt-delegatorisch als Recht des Einzelnen definiert, sich im Notfall auf die Hilfe der anderen (staatliche Hilfe, Solidargemeinschaft) verlassen zu können. Der christliche Solidaritätsbegriff ist umfassender: einerseits als soziales Prinzip, andererseits auch als moralische Tugend.

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