Kitabı oku: «Das Anthropozän lernen und lehren», sayfa 19

Yazı tipi:

Was soll ich tun?

Immanuel Kant fokussiert seine zweite Frage nicht nur auf die Moral alleine, vielmehr bezieht er Recht, Politik, Kultur, Geschichte und vor allem Gesellschaft mit ein. Die Wirklichkeit der Welt wird aus der Sicht des selbst Erlebten, der Selbsterfahrung angesehen, Ethik und Recht werden aus dem Prinzip der Vernunft betrachtet und gedeutet. Kants Lobeshymne auf Platons Welt der Ideen mündet in der Verbindung von Freiheit und Gesetz insofern, als er die größte menschliche Freiheit darin sieht, sich an Gesetzen so zu orientieren, dass die Freiheit des Einen mit der Freiheit des Anderen eben nicht kollidiert, insofern sie nicht als Freiheit von, sondern als Freiheit für verstanden wird. Wie gebraucht man Wissen? Die Frage Kants, wie sich der Mensch auf seine Naturbeziehungen konzentriert, inwieweit er sich als Naturwesen in sozialen Beziehungen verantwortlich fühlt, wirft wohl schon hochmoderne Fragen der Anthropozän-Diskussion in der Sprache seiner Zeit auf. Die Weltaussage des „kategorischen Imperativs“ erfährt heute mehr denn je an aktualisierter Bedeutung für Individuum, Schulgemeinschaft und Gesellschaft. Nicht mehr aus der Befolgung von Gesetzen entsteht das Gewissen, sondern umgekehrt, aus dem Handeln nach eigenem Gewissen mögen allgemeingültige Gesetze entstehen.

Die Assoziationsbrücken reichen von den zur Zeitgeschichte gewordenen Fragen zur Individual- versus Kollektivschuld bei den Untaten des Dritten Reichs bis hin zum schulisch bedingenden individuellen Umgang mit Natur und Kultur in einer endgültigen Weise, wie sie eben durch den Typus des Anthropozäns ihre Ausdrucksform gefunden hat. Es hätte die Covid-19-Dramatik nicht gebraucht, um erkennbar zu machen, dass heute demokratische Entwicklungen die Politik bestimmen und nicht mehr umgekehrt. Daraus ergeben sich Fragen zum gesellschaftlichen Umgang im Zeitalter von Big Data: Selbstlenkende Autos etwa reduzieren die individuelle Verantwortung auf den künftigen Autobahnen. Ist jene mitverantwortliche Freiheit, welche die Aufklärung gebracht hat, angesichts der künftigen Algorithmen und ihrer neuen Normen gefährdet? Data locuta, causa finita? Mutiert Überwachung von hierarchischer Kontrolle zur gläsernen Gefahr? Ist das je Eigene nur gut, so lange das Ganze ungefährdet bleibt? Wird die vom Menschen gestörte Natur zur Störung des Menschen?

Auf die Führung von Schule zurückwirkend ergibt sich die Frage, wie Wissenstransfer und Kundenorientierung in Einklang zu bringen sind. Dahinter aber steht die These, dass ihre Beantwortung nicht durch organisationale Prozesse, sondern nur durch eine dialogische Kultur erfolgen kann. Schon für Kant war klar, dass der Friede kein Naturzustand ist, sondern vom Menschen erworben und gestaltet werden muss. Schulische Führung wird zur Kulturaufgabe (Rauscher, 2020). Nicht mehr Ökonomie, nicht mehr nur Ökologie, nicht bloß Soziologie sind die strukturellen Träger von Schulleitungshandeln, sondern Gewissenskategorien wie Vertrauen, Güte, Würde und eben der kantische Mut des sapere aude, sich seines Verstandes zu bedienen.

Was darf ich hoffen?

Immanuel Kant fokussiert seine dritte Frage schließlich von der Unmittelbarkeit der Gegenwart in Richtung einer Zukunft, die, historisch bedingt, mit dem christlichen Unsterblichkeitsaxiom religiösen Kontext ausweist, heute freilich Religion und Kunst ins gesellschaftlich Horizontale transzendiert. Wie und wohin sind die individuellen Fähigkeiten zu entfalten? Wohin geht der vielzitierte Wechsel der Generationen? Dabei geht es Kant nicht um eine entfernte Zukunft voll Erlösung von oben oder außen im Sinn einer Heilserwartung, vielmehr darum, dem „Leben durch Handlungen einen Wert zu geben“ (Kant, 1965, S. 62), durch Handlungen freilich, die jetzt oder in allernächster Zukunft getätigt werden sollen. Die Bewältigung der Gegenwart steht im Mittelpunkt! Hoffnung also hat einen aktuellen Bezug darauf, hier und jetzt die Welt besser zu machen. Dabei sind die Handlungen des Menschen naturgesetzliche Erscheinungen, die Natur selbst agiert als geschichtlicher Akteur. „Die im Menschen selbst wirksame Natur legt den Grund, gibt den Anstoß und setzt das Ziel der menschlichen Geschichte.“ (Erhardt, 2020, S. 248).

In unserer Zeit digitaler Erkenntnisvielfalt stehen Glauben und Wissen in einem anderen Verhältnis zueinander: Auswahlalgorithmen und Informationsfülle scheinen die Zukunft vorherbestimmbar zu machen.

Daraus aber resultiert für die Schulleitung eine andere Herausforderung: Erst wenn Lernen und Lehren als Formen der persönlichen Weiterentwicklung erkennbar gemacht und als sinnstiftend erlebbar werden, erhält das schulische Tun einen Antrieb. Nicht also Kontrollmechanismen jedweder Art, vielmehr Stimulation, Sinnstiftung, Leitzielvermittlung, Wegweisung, Ausrichtung bündeln Energie in eine gewollte Richtung. „Der einzig wahre Realist ist der Visionär.“2 Hoffnung geben ist, zu Visionen anzustiften, um das Bessere zu wollen. Darin unterscheidet sich die Utopie von der Vision wie das Wollen vom Wünschen: Ich kann mir das Blaue vom Himmel herunter wünschen, ohne bereit zu sein, dafür auch nur geringfügig etwas von mir selbst zu investieren. Etwas zu wollen, verbindet dagegen das Bedürfnis mit der Bereitschaft, dafür aus sich selbst etwas, oder gar ganz sich selbst zu investieren. Visionen also sind Hoffnungen naher Zukunft als Ideen, die gleichzeitig sowohl tiefe Sehnsucht wecken als auch unter definierten Bedingungen realisierbar sind. Und sie rufen Bedürfnisse hervor, deren Verwirklichung als Ziele erkennbar werden.

Was ist der Mensch?

Diese vierte kantische Frage als Summary der drei eigentlich gestellten Leitfragen der Philosophie müsste, konsequent formuliert, vermutlich lauten: Wer bin ich? Kant aber bezieht sie auf einen größeren Zusammenhang von Natur und Kultur, von Gesetz und Freiheit, von Wirklichkeit und Möglichkeit, von Welt und Gott.3

Hyper-aufgeklärt könnte man in digitaler Zeitrechnung antworten: Der Mensch ist ein Teilspeicher eines gesamten Speichers. Das aber mag für die Schule zwar utopisch klingen, bleibt aber eher irrelevant.

Für die Schulleitung stellt sich die Frage eher als eine zwischen dem Ganzen als kollektiver Aufgabe im aristotelischen Sinn des Menschen als ζῷον πολιτικόν, als zoon politikon4, also soziales und gesellschaftsbestimmtes Wesen, und der kantischen Individualisierung innerhalb einer Gemeinschaft, einfacher formuliert: zwischen Welt und Wir. Führung braucht den Sprung ins Neue als Beschreiten neuer Wege, dem berühmten Zielparagraphen des österreichischen Schulorganisationsgesetzes5 folgend, ebenso wie den kantischen Anspruch, die Freiheit eigener Selbst- und Mitverantwortung zu übernehmen. Daraus lassen sich die kantischen Fragen transkribieren zu:

1. Was kann ich wissen? Was kann Schule (und Schulleitung) tun, um den Anthropozän-Diskurs erkenntnistheoretisch im Schulunterricht zu thematisieren und sich den damit verbundenen Fragen faktenbasiert zu stellen?

2. Was soll ich tun? Welche Aufgaben stellen sich der moralischen Erziehung und der ethischen Verantwortungsübernahme in Schule und von Schüler/innen, um personales Betroffensein und solidarische Beteiligung zu wecken, wachzuhalten und einzuüben?

3. Was darf ich hoffen? Wie kann Schule und Schulleitung die Verantwortung für ihre jungen Menschen übernehmen und Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit ebenso hintanstellen wie Resignation und nihilistischen Pessimismus?

4. Was ist der Mensch? Wenn Schule und Schulleitung sich den Herausforderungen des Anthropozäns stellen, wie kann sich das in einer daraus resultierenden Schulkultur zeigen?

Der wenigstens perspektivischen und partiellen Beantwortung dieser transkribierten kantischen Fragen widmen sich die folgenden vier Zugänge. Die vier Antworten fokussieren (1) Faktenorientierung, (2) Solidarität, Identifikation und Subsidiarität, (3) Kulturoptimismus und (4) Führung als Kultur. Dahinter stehen gezielter Dialog sowie die Ambivalenz von Vertrauen und Zutrauen in schulische Aufgaben und in die und zu den mit ihnen beschäftigten Menschen. Denn „was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann“ (Arendt, 2011, S. 12).

1. Erkenntnistheorie und Schulpraxis

In meiner Bestürzung sagte ich: Die Menschen lügen alle.

Psalm 116,11

Was ist Wahrheit?

Joh 18,38

Die lapidare Botschaft des Psalmisten ist 2500 Jahre alt, jene akzentuierte des Pilatus bloß ein halbes Jahrtausend jünger. Seine Gegenfrage an Jesus auf dessen Aussage, er sei „dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“ (Joh 18,37), ist wohl einer der meistzitierten Sätze der Weltliteratur geworden, aber auch seit je her eine der wesenhaften Anleitungsformeln und damit Aufgabenstellungen schulischen Unterrichts.

„Wo lernen wir“?, fragt Erich Fried, und setzt sein berühmtes Gedicht zum Leben-Lernen wenige Zeilen später mit der Frage fort: „Wo lernen wir klug genug sein | die Fragen zu meiden | die unsere Liebe nicht einträchtig machen | und wo lernen wir ehrlich genug sein | trotz unserer Liebe | und unserer Liebe zuliebe | die Fragen nicht zu meiden?“6

Seit je her ist es eine Aufgabe von Schule, aus Kenntnissen Erkenntnis zu erlangen, Information von Interpretation zu unterscheiden: Schon in jeder der täglichen Nachrichtensendungen braucht es die Unterscheidbarkeit von Bericht und Kommentar.

In einer Zeit, die mehr denn je auf Fakten nicht nur „herumtrumpelt“, sondern geprägt ist von Datenmanipulation, Verschwörungstheorien, Internet-Shitstorms, Populismus-Auswüchsen und esoterischen Ideologien, stellt sich (wohl nicht nur) für die Schule unverzichtbar die Frage, wie die Welt friedlich, menschlich, gerecht und gesund bleiben kann und was jede/r Einzelne dafür wissen und tun kann und soll.

Paul Watzlawick illustriert bekanntlich in amüsantem Schreibstil seine Frage „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ (Watzlawick, 2005) und zeigt, dass jede Antwort ehrliche und wahrhafte zwischenmenschliche Kommunikation (Lay, 2006) braucht. Daraus aber wäre es falsch gefolgert, Wahrheit an likes and dislikes zu messen. Andererseits wissen wir seit Archimedes’ „δος μοι που στω και κινω την γην“7, dass es die „rein objektive“ Wahrheit als „festen Punkt“, als einziges Dogma für die Wirklichkeit ebenso nicht geben kann (Beck, 2007). So gilt es wohl für die Schule, der Konsenstheorie (Apel, 1973; Habermas, 1984, 1983) zu folgen, also jener erkenntnistheoretischen Richtung, wonach sich die Wahrheit einer Behauptung durch Argumente im Rahmen eines freien (und ohne jeden Zwang stattfindenden) Konsenses hergestellt wird. Dies kann empirisch geschehen – z.B. Hoher Alkoholkonsum schädigt die Leber. Oder analytisch – z.B. Der Kreis ist rund. Oder normativ – z.B. 2 + 2 = 4.8 Sätze, die als wahr gelten, sind es also intersubjektiv, autonom, kulturell unabhängig und intertemporal.

Das Anthropozän als Unterrichtsinhalt und Leadership-Herausforderung fordert kein Moralisieren, aber faktenrelevantes Informieren und gesellschaftlich wie kulturell mitverantwortliches Rezipieren wie Dialogisieren. Im Gewirr der Meinungen und Botschaften, der Meldungen und Kommentare braucht die Schule in ihrem Unterricht mehr denn je den Bezug auf Fakten. Nicht erst die Tweets von Donald Trump, längst auch manipulierte Bilder, erfundene Geschichten als üble Gerüchte und der Permaregen an Information destabilisieren die faktischen Darstellungsformen der Wirklichkeit. Zum Pseudofaktum wird, woran man selbst und/oder ein guter Freund glaubt. Eine eigene Fake News Week 2020 bezeugt eine schockierende Fülle von Falschmeldungen rund um den Klimawandel.9

Seit jeher und bis heute erklärt der Folternde dem Gefolterten, dass es keine Wirklichkeit gibt außer jener des Mächtigen: Heute sind Folterer zu Spin-Doktoren geworden, die Experten genannt werden wollen. Da mag es altväterisch klingen, Faktenorientierung einzufordern für Institutionen wie die Schule: neutral und offen zugleich, transparent und hinterfragend. Es gilt, alle Stimmungsmache hinter die Leitplanken des Faktischen zu stellen. Es braucht Nachweise der Perspektivität von Ideologien. Eine solche Einrichtung ist die Schule! Sie vermittelt Gefühle nicht via Twitter, sondern durch Lyrik und Selbstoffenbarung. Sie übernimmt Verantwortung für das Gelingen von Bildung. Sie bereitet ihre Schüler/innen vor, Tradition durch Reflexion zu übernehmen und nicht von den terribles simplificateurs10. Sie darf keine Gehirnwaschmaschine (Harari, 2018, S. 322) sein, denn sie bewirtschaftet nicht Launen und Fakes, sondern Fakten und Wirklichkeit. Wer nach den Gründen fragt, braucht nicht nur Inhalten zu folgen: Der erkenntnispraktische Gegensatz zu verantwortungslosem Google-Wissen ist das sapere aude Immanuel Kants im schuldemokratischen Raum.

Nicht zu Unrecht sprechen viele vom postfaktischen Zeitalter, hat doch das Oxford Dictionary anno 2016 „post-truth“ zum Wort des Jahres gekürt; Analoges gilt für „postfaktisch“ seitens der Gesellschaft für deutsche Sprache. In der Folge wurde die Frage der Verlässlichkeit von Fakten zu einem weltweiten Thema. Postfaktisch ist auch längst eine Vokabel der Politik geworden, durch die wissenschaftliche Forschung diskreditiert wird, wenn sie eigenen Interessen von Potentaten widerspricht.11 Um im schulpraktischen Alltag die Orientierung an Fakten zu gewährleisten, reicht es heute längst nicht aus, die Zitierbarkeit von Wikipedia-Stichworten zu diskutieren, besonders dann nicht, wenn (und weil) Schüler/innen es bevorzugen, unterhalten statt unterrichtet zu werden. Vielmehr wird die gezielte Orientierung zur unverzichtbaren Voraussetzung, um in der Informationsflut zu selektieren und nicht im Konsumieren unterzugehen.

Doch an unseren Schulen geht es nicht nur um den medienkonform geführten „Krieg gegen die Wahrheit“ (Probst/Pelletier, 2017), assoziierbar mit Russland unter Putin gegenüber demokratischen Standards und mit den USA unter Trump gegenüber der Klimaerwärmung und neuerdings der Corona-Pandemie, sondern um die Leichtgläubigkeit der Kommunikations- und Informationsgesellschaft insgesamt angesichts der zunehmend unüberschau- und unüberprüfbaren Informationsvielfalt, verbunden mit hoher Individualisierung als ein Erziehungs- und Bildungsziel. Unterricht aber darf eben keine bloße Echokammer der neuen Medien sein, er braucht mehr denn je die Dialektik der Argumente sowie die nachdrückliche Orientierung an Fakten.

Dafür braucht es eine neue Lernkultur (Rauscher, 2012, S. 29f., 215; 1999, S. 27; 1998, S. 172), die geprägt ist von Auswählen statt Sammelns, kritischem Vergleichen statt blinden Akklamierens, Rückfragen statt Nachplapperns, systemischem Denken statt zufälliger Priorisierungen, Problemlösungsorientierung und Lernprozessbewusstmachung statt bloßen Sprechens über Inhalte und deren Kategorisierung, mühsamen Suchwegen für zu erreichende Ziele statt erregbarer Aufmerksamkeit, überlegtem Aufnehmen der Fachexpertisen statt echohaften Übernehmens von Headlines – zusammengefasst im neudeutschen Begriff der Medienkompetenz als Auswählen des Richtigen.

Umso mehr braucht es für die Schule Medienkunde als Kennenlernen der Medien und ihrer Botschaften, Medienkritik als sachgerechtes Interpretieren und Vergleichen dieser Botschaften sowie selektive Mediennutzung als reflektiertes und nicht zufälliges oder gar gefälliges Einsetzen für eigene Zwecke und Ziele: Aus welchen Quellen stammt eine Information, und wie lassen sich diese finden sowie überprüfen? Wer zeichnet für sie verantwortlich, welche Institution steht dahinter? Welche Absichten und Ziele sind mit einer Nachricht verbunden? Aus wie vielen Perspektiven wird ein Thema beleuchtet? Schüler/innen tun gut daran, gerade bei zeitgeistigen Arbeitsthemen sich an Bibliotheken, Universitäten, öffentlich rechtliche Einrichtungen zu halten und eben nicht an den Boulevard.

2. Ethik und Schulmoral

Mit einer Doppelmoral hat man nur halb so viele Gewissensbisse.

Ernst Ferstl12

Die aktuelle Pfingsttaube kommt aus Schweden und hat grünes Gefieder. Sie hat aus der vielgenannten Schülergeneration Z (Hurrelmann/Kring, 2019) die Generation Greta (Albrecht/Hurrelmann, 2020) geformt. Der Hype um Greta Thunberg ist zum Globalisierungs-Indikator geworden. Sie ist eine Schülerin, die nicht nur freitags die Schule schwänzt, sondern inzwischen die ganze Welt beeindruckt und beschäftigt:

Die einen nennen sie eine altkluge und verhaltensgestörte Marionette, und sie ergänzen und sagen: „Die Jugend von heute kauft Handys aus Korea, Skateboards aus China, Fahrräder aus Tunesien, Klamotten aus Bangladesch, lässt sich im Auto zur Schule fahren und geht zur Klimademo.“13 Im Spiegel ist zu lesen: „Viele Kinder wollen bedrohte Arten wie Orang-Utans und Elefanten retten, hatten aber noch nie einen Wurm auf der Hand und können heimische Bäume nicht auseinanderhalten.“14

Für die anderen, wohl die überwiegende Mehrzahl unserer Schüler/innen, ist sie die Jeanne d’Arc unseres Jahrhunderts. Florian Klenk, Chefredakteur des Falter, twittert am 31. Mai 2019: „Erwachsene Wutmänner, die sich vor jedem Kebab-Standl und Kopftuch fürchten, weil sie die Islamisierung wittern, lachen jene Kinder und Greta Thunberg aus, nur weil die […] so eindrucksvoll ihre Sorgen vor einer erhitzten Welt rausschreien. Das ist schon sehr lächerlich.“15 Was ihm prompt nicht nur eine empirisch belegte Antwort des SORA-Instituts einträgt, wonach 65 % der Generation Z in der Schule mitentscheiden können, während es in der (Nach-)Kriegsgeneration nur 28 % gewesen waren.

Die deutsche Wochenzeitung ZEIT hat den Auftritt Gretas beim Klimagipfel der Vereinten Nationen mit jenem von Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms verglichen.16 Die Austria Presseagentur hat allein in österreichischen Tageszeitungen in den Monaten Jänner bis Oktober 2019 knapp 6000 Beiträge zum Begriff Klimawandel gezählt. Der deutsche Arachnologe Peter Jäger hat etwa 400 Spinnenarten beschrieben; fünf jüngst in Madagaskar neu entdeckte Arten von Riesenkrabbenspinnen hat er mit Thunberga greta benannt, um damit einen Weckruf an Politik und Wirtschaft zu richten (Jäger, 2020).

Wer an unseren Schulen kennt dagegen heute Laudato si17, die fünf Jahre alte Öko-Enzyklika des Papstes Franziskus nach dem Lobgesang des heiligen Franz von Assisi?! Erkenntnis – Dialog – Aktion lautet der darin empfohlene Dreischritt18, beschrieben in einer deskriptiven Sprache, die aus Fridays for Future ein Daily for Freedom formt und damit die eigentliche Aufgabe des Unterrichts durchaus pragmatisch, vor allem jedoch weitestgehend ideologiefrei entbirgt.

Über Jahrzehnte sind es immer wieder die Kirchen, welche als Mahner der Gesellschaft auftreten, was Armut, Migration und Umwelt bis hin zum Klimaschutz betrifft. Heute aber erfahren wir eher von den Auftritten der Erlöserin anno 2019/20 nach Christus, Greta Thunberg, die mit Zöpfen den Zeitgeist abbildet, mit Arnold Schwarzenegger auf dem Austrian World Summit ihre Mission: To Step up Climate Ambition predigt und auf dem Petersplatz dem Papst im Medienblitzlichtgewitter ein Plakat übergibt: Join the Climate Strike. Vermutlich hat dieser Auftritt dem Papst so viel genützt wie der Aktivistin: Er wurde assoziiert mit dem Missbrauchsskandal nicht mehr von Mädchen und Buben, sondern von Klima und Umwelt, sie wurde mit dem wichtigsten Preis von Amnesty International ausgezeichnet und darf sich nunmehr „Botschafterin des Gewissens“ nennen.

Dieser Dreischritt von Erkenntnis – Dialog – Aktion als ein wesenhaftes Ziel des Unterrichts paraphrasiert die schulpädagogische Herausforderung, das Anthropozän zu einer zentralen schulischen Transfer-Aufgabe zu machen, und erinnert an einen analogen Schritt im Zentrum schulischen Unterrichtens, nämlich Goethes Gelehrtentragödie Faust. Dieser Heinrich sucht bekanntlich, gefolgt von seinem Pudel, nach dem Osterspaziergang sein Studierzimmer auf, versucht dort das, was man heute noch und wieder als Lernen benennt, nämlich seinen Erkenntnishunger zu stillen, um das Leben zu ergründen. Er beginnt das Johannesevangelium zu übertragen, stößt sich aber bereits an der berühmten ersten Zeile „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1; Goethe, Faust, Vers 1224), findet darin nicht den Ursprung allen Daseins, ersetzt das Wort zunächst durch Sinn (Vers 1229), dann durch Kraft (Vers 1233) und gelangt schließlich zur Fassung: „Am Anfang war die Tat“ (Vers 1237). So führt der Weg von der Gelehrsamkeit zur Tat19: Lernen ist, Voraussetzung zu schaffen, die Welt besser zu machen. Diesseits aller natur- und kulturwissenschaftlichen Grundlagenforschung dient der Anthropozän-Diskurs deshalb (auch) als eine Form sozialer, global-gemeinschaftlicher Ethik (Gehrmann et al., 2020).

An dieser Stelle sei Reinhold Leinfelder als einem Doyen der Anthropozän-Forschung Ehrfurcht gezollt und – wenn auch um viele Jahre verspätet – Antwort auf seine Einladung gegeben, die sich selektiv auf die Schule fokussiert:20 Leinfelder entwickelt aus dem vielgenutzten Begriff Umwelt über den Zwischenschritt der Mitwelt den Terminus Unswelt. Diese Bewusstmachung nicht zuletzt durch Datensammlung, Aufstellen und Interpretieren der vielzitierten Hockeyschlägerkurven als wissenschaftliches Agieren soll schulisch vermittelt werden im Begriff der Wirwelt:


Umwelt surrounding world; environment
Mitwelt community; society
Unswelt us world; experienced and tangible reality
Wirwelt shared responsibility; solidarity

Unswelt statt bloß Klimaschutz bedeutet danach: Die schulische Aufgabe ist es nicht zu propagieren: Klimaschutz statt Klassenzimmer, sondern zu vermitteln: Klimaschutz ins Klassenzimmer, und zu reflektieren sowie altersgemäß zu beforschen: Klimaschutz im Klassenzimmer.

Wirwelt wird zur Metapher für gelebte Mitverantwortung aus erworbenem Wissen, aus gemachter Erkenntnis, zur Metapher für Solidarität gegenüber community and society ebenso wie gegenüber der surrounding world.

Solidarität als konkretes Bildungsziel ist also, globale Probleme zur lokalen, ja zur personalen Herausforderung zu machen. Solidarität ist, Sinnsuche nicht abstrakt, sondern bei den Menschen rundum zu betreiben. Solidarität ist ein Ziegel zum Aufbau von Gemeinschaft und Gesellschaft. Solidarität hat als synonymen Dreischritt denken – leben – handeln (Caritas, 2020) bzw. lernen – wertschätzen – tun.

Menschsein als eine Mischung unterschiedlicher Identifikationen – Musikgeschmack, Kleidung, Bildung, Religion werden zu einer Summe von Eigenschaften, aus denen sich unverwechselbare Identität erst bildet. Der Mensch ist keine Schnittmenge von einzelnen biologischen oder kulturellen Eigenschaften, sondern eine Gruppe übereinander liegender Schichten, die sich durchdringen (Garcia, 2018)21. Für Lehrer/innen gilt, immer wieder neu zu erkennen und zu bewahren, dass jedes menschliche Leben wie eine Bibliothek ist, ein Inventar verschiedener Objekte, eine Kollektion verschiedener Stile. Alles wird ständig neu gemischt und wieder geordnet.22 Wer wir sind, hängt auch davon ab, wem wir begegnen. Auch darum und darin ist an unseren Schulen nachzudenken über Solidarität und Subsidiarität als Herausforderungen des demokratischen, gesellschaftlichen Lebens, über Identität als Prozess der Selbstentwicklung und Selbstgestaltung. Solidarität ist: Helfen statt bloß Erklären. Subsidiarität ist: Vertrauen statt bloß Kontrollieren. Identität ist: Wir alle gemeinsam statt nur Ich und Du und die anderen.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺1.773,13

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
1172 s. 138 illüstrasyon
ISBN:
9783706560832
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 3 на основе 4 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 5 на основе 7 оценок
Metin
Средний рейтинг 5 на основе 4 оценок
Metin PDF
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 4,8 на основе 5 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок