Kitabı oku: «Der Mann mit den 999 Gesichtern», sayfa 3

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AUS DEN KOLONIEN (3) – LEBENSLAUF EINES UREINWOHNERS

Michael Rudolf

Am Anfang steht die Niederkunft meiner Mutter. Da diese von dem krankhaften Wahn besessen ist, Lehrerin werden zu müssen (so was nimmt man schließlich nicht ernst), geht das Erziehungsrecht an den Vater. Der leitet selbiges an seine Eltern weiter, da ein Psychologiestudium in Aussicht ist.

Ich bin viel im Wald. Keine Kinderkrankheiten, dafür 5 x Loch im Kopf und 1 x Krätze über den ganzen Leib. Ich spiele mit Kindern, die Dialekt sprechen.

Aufzucht in streng katholischem Haushalt. Großvater hätte wohl die Zeit gelesen, in Ermangelung dieser eben nur Hans Küng und Fouqué. Großmutter mit Offiziersmentalität, laut, viele Schläge (vor allem ins Gesicht), aber in der Caritas engagiert wie nur was. Ich räche mich bisweilen, indem ich mir vom Munde abgesparte Hostien versteigere oder mich an Meßwein (Insel Samos) berausche.

Schule: marginale Rolle bei meiner Identitätsfindung. Suche zunächst Verbündete. Till Gutmann teilt meine politischen Auffassungen, die sehr stark in Richtung Anarchosyndikalismus tendieren. Nur noch wenige Theophanien. Der Rest der Schülerschaft neidet uns unseren Geist aufgrund früh keimender Dumpfheit. Die angezettelten Kolloquien mit dem Lehrkörper (zu unserem Weltbild) verlaufen unbefriedigend. 2 x Suizid angedroht (mit rostigem Messer). Zwischendurch im Alter von 6–7 Intermezzo bei o. g. Mutter. Das wirft mich in meiner politischen Arbeit enorm zurück. Ergebnis: erneutes Bettnässen, Weinkrämpfe, Phobie gegen Bergarbeiterstädte und deren Bevölkerung.

Es folgen gewalttätige Spiele auf dem Hainberg (Bandenterritorium, dessen Gebiet ständiger Neuverteilung unterliegt). Dazu Schlachten ohne letalen Ausgang. Ich lasse mir jetzt die Haare über die Ohren wachsen, da ich berühmt werden möchte, also das Abitur machen. Grausiges Gymnasium mit größtenteils noch grausigeren Lehrern. Trage dort meine berüchtigte breitmaschige rehbraune Cordhose (bis knapp unter die Knie), ohne Erfolg. Lerne das Bier kennen. Schließe Freundschaft mit Bernd Dittrich, da ich erkenne, daß auch er berühmt werden wird. Mein zu Zwecken der Indianerimitation getragenes fettiges Langhaar reizt Lehrkörper wie Schülerschaft zu unreinen Äußerungen und sogar Drohungen. Eine Schuppenflechte kuriere ich durch triefende Schwefelsalbe. Unsere Combo (voc, git, git, dr) darf nur zweimal proben.

Esse Würste und trinke viel Bier, bin daher kerngesund. Meine Termine mit dem Meinungsforschungsinstitut MfS enden unbefriedigend, schicke sie also fort. Auch die Flucht nach Polen zur Schwarzen Madonna in Czenstochau endet kurz nach dem Durchschwimmen der Neiße. 2 Tage Haft. Und: Beziehungen zu Polen gestört.

Ich gründe mit Gleichgesinnten die Partei der Radikalen Mitte (1977). Bei der Parteiarbeit lerne ich die Frau kennen. Wir leben im Konkubinat.

Dann kommt der Wehrdienst. Wenig schön und noch weniger lehrreich (Sprengstoffausbildung ungenügend). Hauptmann Schoknecht spricht: »Nehmen Sie das Handgranatenwurfkörper in der Hand, was Sie Wurfhand sind!« Meine weiteren Korrespondenzen mit den degenerierten Beutelschneidern, die sich als Offiziere ausgeben, enden zumeist in kleinen Zimmerchen, die ich allein bewohnen darf und deren Gitter das Eindringen von Fremden verhindern sollen, da sie meine Meditationen stören könnten. Nur Thomas Müller verhilft mir zu angemessener Geltung im Anwesen.

Ich beschließe, Jurist zu werden. Zu diesem Zweck Studium in Halle. Die Professoren stört, daß ich alles schon weiß. An den Unterseiten der Bänke befinden sich Minirasenmäher in hoher Zahl mit ohrenbetäubendem Lärm, der mich am Schlaf hindert. Die etwas zu hagere Ines Leuchte (verh. Gräbner) sagt mir ständig falsch vor. Ich boykottiere daraufhin den Studienbetrieb endgültig nach dem zweiten Semester. Die Öffentlichkeit ist darüber noch nicht zu einer einheitlichen Meinung gekommen. Manche meinten, die Straßenbahnen jagten mir Angst ein, und andere machten die Mißgunst der Dozenten gegen mein bahnbrechendes Gedankengebäude (enthalten in meiner ersten und letzten Jahresarbeit im Fach Philosophie) für den Entschluß verantwortlich.

Ich beschließe, Brauereidirektor zu werden. In der Firma probieren wir an einem Faßabfüllautomaten das Abtrennen von Gliedmaßen. Bei mir klappt es (Fingerkuppe rechter Ringfinger). Ich entdecke ein Hinweisschild: Amerika 3 km. Das stellt sich aber als Irrtum heraus. Nicht der einzige in meinem Leben.

Meine Mitgliedschaft in der Partei der Radikalen Mitte ruht. Unsere Wohnung hat jetzt einen Fußboden, an den wir uns schnell gewöhnen. (Es geht also auch mit.) Nebenbei entwerfe ich flammende Reden politischen Inhalts. Thomas M. inzwischen verstorben, Bernd D. berühmt und beim Fernsehen, Till G. irgendwo in der Weltgeschichte. Gebe Politik als Quelle von Ruhm und Reichtum wieder auf. Derweil revoltieren die hiesigen Eingeborenen.

Die Bierfabrik läßt mich nur unter dem Versprechen ziehen, daß ich auch allein reich und berühmt werde. Also gut. Mache wieder neue Bekanntschaften, darunter der Weltgeist, das kollektive Unbewußte und das Maggi-Kochstudio. Dirk Jurkschat wird mir durch sein profundes Verständnis jedweder Untergrundtätigkeit lieb. Daneben erfinde ich die Burgruine Liebau, um über sie ein Buch schreiben zu können (Auflage 1000 Expl.).

Ich beschließe, wieder Hosen zu tragen. Auf einer erholsamen Wanderung durch die Niederungen des Elbsandsteingebirges verschalle ich.

Schade eigentlich.

Titanic 1/1992

AUS DEN KOLONIEN (4) – GREIZ

Michael Rudolf

Während andere Städte im Beitrittsgebiet mit wirklich zeitgemäßen Skandalen Aufsehen erregen, haben wir heute ein Beispiel ausgewählt, das mehr ob seiner ungeheuren Harmlosigkeit so kreuzgefährlich ist. Greiz liegt im Vogtland, einem intellektuell völlig ausgedörrten Landstrich zwischen Erzgebirge und Thüringer Wald, war ehedem Residenz des Kleinfürstentums Reuß Ältere Linie (346 km²) und in der Literatur Symbol für deutschen Kleingeist. Wir finden Greiz in den Werken von Karl Gutzkow und Heinrich Heine, aber auch bei Friedrich Engels. Im heurigen Jahrhundert waren es Karel Capek und Arno Schmidt, die es nicht lassen konnten. ˆ

Die Stadt rühmt sich ihres literarischen Biotops, angeführt von Reiner Kunze selbdritt wimmelte es in den 60ern auf einmal von jungen Lyrikern, daß man es schon mit der Angst bekommen konnte – wirklich! Verschiedene Kreise sprechen auch heute noch ohne Vorbehalt von einer »Greizer Schule«. Aber, Hand aufs Herz, muß denn jeder Heimatschriftsteller gleich noch den Oppositionsersatz spielen? Item versucht die Clique der hier ansässigen Bildungsbürger eine Art kulturelles Leben zu inszenieren: poetische Klimmzüge zu Freejazz-Laubsägearbeiten – das ist die Saat von Ibrahim Böhme; doch weiterhin verwechseln sie hier l’art pour l’art mit Poularden. Während der alternative Nachwuchs in bewährter Weise blues- und folkverherrlichend vor sich hin laxiert und keramikzirkelt, hört sich das Gebaren ihrer Altvorderen wie eine öffentliche Anamnese an, vor allem beim Philosophieren über ihre Rektalgemälde. Nebenbei pflegen die hiesigen Vorzeigewiderständler wohlfeil Verständniskonversation mit dem Häuflein brauner Pest der Stadt, anstatt unverzüglich das mentale Dosenrecycling einzuleiten. Vielleicht liegt das alles daran, daß die Stadt zu DDR-Zeiten noch immer einen Anspruch auf die Medaillenplätze im Alkoholprokopfverbrauch geltend machen konnte. 1988 seien es um die 6000 Alkoholkranke (+ Dunkelziffer) gewesen, bei einer Einwohnerzahl von 36000. Dem Fremden fällt sofort der ungleich hohe Anteil deliranter Persönlichkeiten am hellichten Tage auf, die auch der allgemein üblichen Auffassung von äußerer Gepflegtheit sehr antithetisch begegnen.

Neuerdings bereichern ambulante Imbißbuden wieder das Stadtbild, und wir fühlen uns an die gute Tradition mittelalterlicher Garküchen für die Stadtarmut erinnert, nur eben daß jetzt der geheimnisvolle Mikrowellenherd den großen Suppentopf ersetzt – in weitem Umkreis weggewor-fene Verpackungen und Halbverdautes. Wenn die Einwohner ihr monatliches Kurzarbeitergeld fassen, wird es teilweise auch in traditioneller Kost angelegt. Die Thüringer Rostbratwurst, ein mit jämmerlich übersalzenem, fettem Unrat gefülltes Gedärme, führt hier die Liste an, gefolgt vom Rostbrätel, einem kurzgebraten feilgebotenen Lappen Saufleisch. Beides wird bevorzugt stehend und in halb mineralischem Zustand verzehrt, spendet aber dem Einheimischen Kraft für seine inzestuösen Neigungen. An Feiertagen verkleidet sich die Hausfrau mit Lockenwicklern und garniert verbranntes Sau- und Kuhfleisch mit den berühmten Thüringer, vulgo Grünen Klößen, das sind labbrige Bälle aus Abfällen der Potatenfrucht mit der Konsistenz des Auswurfes von Kettenrauchern. Aber genug davon!

Hier werden NVA-Offiziere Theaterdirektoren und Hobbyfaschisten MdL, und die gesamte SED- und Stasi-Kamarilla wandelte sich zu Versicherungsvertretern und Unternehmensberatern oder trägt orthopädische Mützen. Das passive Wahlrecht ist hier nicht sehr populär.

Die sog. Wende hat’s auch möglich machen können, den neben Kunze und Böhme dritten großen Sohn der Stadt – Ulf Merbold – wieder daheim zu begrüßen. Da gab es obendrein noch ein »Vogtländisches Raumfliegertreffen« mit dem (ebenfalls vogtländischen) Ostpendant Siegmund Jähn.

Wenn nicht in den schön anzuschauenden Neubausiedlungen, so doch in den die letzten romantischen Winkel des Weichbildes verunzierenden Schrebergärtchen geht das Wismut-Proletariat den deutschen Untugenden wie Bausparen, Videos und Grillen nach. Der Mittelstand frönt seinen gewohnheitsbedingten Ferkeleien und versucht ungebrochen, Forsythien-Blaufichten-Essigbaumbiotope überall, wo es auch nur geht, heimisch zu machen. In Tateinheit mit rustikal Schmiedeeisernem kommen vor allem, ist wirklich wahr, die aus gebrauchten Autoreifen gewerkelten und silbern bemalten Schwäne zur Ansicht.

Was also noch? Ein völlig größenwahnsinniger, inzwischen abgesetzter Bürgermeister (Westimport), von dem man sich schön bescheißen läßt, das Satiricum, das ehedem die verschnarchte DDR-Satire zu einer Biennale zusammenfassen mußte, ein Orchester wie auch ein Theater, für die es kein Geld mehr gibt, sage und schreibe vier (4) Heimatzeitschriften und Pfarrer Matthias Pöhland: Am 8. September 1990, drei Wochen vor der offiziellen Heimholung, taufte er zwei Katzen auf die Namen »Luzi« und »Maggy«. Die Tiere trugen laut Bravo sogar »weiße Taufkleidchen«. Der Pfarrer durfte nicht mehr weitermachen, Greiz gibt es immer noch.

Titanic 4/1992


AUS DER FRÜHGESCHICHTE DES VERLAGS WEISSER STEIN

Gerhard Henschel

Als »Kanzler der Einheit« hatte Helmut Kohl den Bürgern in den neuen Bundesländern »blühende Landschaften« versprochen, obwohl es wahrscheinlich klüger gewesen wäre, die allgemeine Aufmerksamkeit auf Blut, Schweiß und Tränen zu lenken. Einer der wenigen Neubundesbürger, die damals ernsthaft die Ärmel aufkrempelten und sich tatendurstig an die Arbeit machten, war Michael Rudolf. Wie optimistisch er in der Formationszeit des Verlags Weisser Stein in die Zukunft blickte, geht aus einem am 25. März 1992 in Greiz auf grauem Umweltschutzpapier aufgesetzten Brief hervor, in dem Michael Rudolf mich über eines seiner nächsten Etappenziele informierte: »Unser hauptamtlicher und eigentlicher Lektor, der Herr Gerd König, ist da mit mir einer Meinung: Du müßtest ganz einfach unser Hausautor werden (die Betonung liegt auf ›ganz einfach‹). Vorteil: Ruhm und Geld für uns alle satt. Nachteil: keiner. Also dann mal los!«

Those were the days.


Gerhard Henschel, Michael Rudolf, Eugen Egner, Frankfurter Buchmesse, 1993.

NACHDENKEN!

Michael Rudolf

Wollen Sie bitte mit mir darüber nachdenken, warum fränkische Blondinen dahingestümperte Graffiti dem Impressionismus zuordnen, warum Peter Glotz mit wehendem Mantel vor dem Frankfurter Hauptbahnhof kein Taxi kriegt und warum ich zum Nachtmahl bei laufendem Kroatenfernseh’ einen Ustaschasalat gegessen habe?

Wollen Sie nicht?

Gut, dann betrachten Sie das Angeführte als das wenige, was ich mir habe von der Frankfurter Buchmesse merken können.

Kowalski 11/1992


EIN UNANGENEHMES WOCHENENDE

Michael Rudolf

Ich fahre schon ganz gerne mit der Bahn, da ich aber der Bequemlichkeit halber lieber allein im Abteil sitzen mochte, störte mich gleich ab dem nächsten Bahnhof eine wild pubertierende Schar behalstuchter Bengel unter Führung eines Uli. Vereinzelt angebrachte Sticker vom letzten Katholikentag machten die Zuordnung dieser Horde leicht, deren einzige Bestimmung es zu sein schien, neunzig Prozent ihres Aufenthalts im Zug mit dem Verstauen ihrer höchst aberwitzigen Rucksäcke zu verbringen, mit ihren verschorften Füßen (oder wie sie das nennen mögen) meine Hosen zu beschmutzen und, ach so, den Lärm hatten wir schon.

Ich versuchte mir anschließend einzureden, daß mein im rechten Mundwinkel wuchernder Herpes simplex nur auf diese Bande zurückzuführen sei – und nicht auf den etwa 35jährigen Mann, der später zustieg und sich wie ein Lachsack benahm. Eine Viertelstunde hält man das ja aus, dann ist aber ein Abteilwechsel dringendst zu empfehlen, dahin vielleicht, wo man auf unförmig ausgebildete Großfamilien mit vielen sogenannten Kindern trifft, die die absonderlichen Farben ihrer Kleidung gewiß nicht einmal zu benennen wüßten.

Angekommen, fehlte niemand außer ein uns versprochener Redakteur, so daß wir uns mit gutartigen Witzchen auf seine Kosten behelfen mußten. Vor dem Chinesenlokal verwendeten einige Angestellte (die Köche?) in der blauen Stunde auffällig viel Zeit darauf, mit den dort flanierenden Katzen zu kommunizieren. Mehr durfte aber nicht vorfallen, da ich nach erfolgreich überstandener Nacht meines Gastgebers Waschbecken aus der Verankerung löste und in einer sehr bedenkenswerten Körperhaltung vor dem Zerschellen zu retten wußte. Das reicht.

Während der Rückfahrt zerrte mich eine doch nicht mehr sehr junge Dame in ein Gespräch über die Klimakatastrophe, daß sie die Herkunft von Hühnereiern am Geschmack erkennen könne und daß der Krause schließlich einer aus dem Osten sei. Dies überstanden, schreckte mich nur noch gelegentlich das DB-Team mit der über Lautsprecher durchgegebenen Information aus dem Schlummer, daß ausgerechnet dieser Waggon auf dem und dem Bahnhof nicht am Bahnsteig zum Halten komme. Und solcher Tinnef.

Nein, als angenehm kann man das wahrlich nicht bezeichnen.

Kowalski 11/1992

PROBLEMFRONT

Michael Rudolf

In den spärlich bemessenen Stunden der Muße gedenken wir alle gern der schönen Kindheit, damals, als alles noch irgendwie in Ordnung war, nur heute eben haut aber auch gar nichts mehr hin. Helfer haben sich darauf spezialisiert, in der Kindheit sogenannter Patienten herumzuwühlen, um unerklärlichem Hautpilz, Progenie, Nudismus oder Stuhlverhalten auf die Schliche zu kommen.

Das haben wir natürlich nicht nötig, wenn es an die Bewältigung von Sachverhalten an unserer Problemfront geht, und seien sie auch noch so unwichtig.

Natürlich war auch meine Kindheit schön, wie bei jedem anderen Kind auch, aber es hatte ja alles just dann ein Ende, als wir die ersten Zigaretten in Brand setzten. Intensiveres Forschen vergegenwärtigte mir jedoch einige Sachverhalte, die uns stutzig machen müssen. Beispielsweise weiß mein Oheim zu berichten, daß ich, während er schlief, seine aus der Bettdecke herausragenden Füße ausschließlich mit der Nase untersucht habe. Auf Parkplätzen soll ich in Wartestellung an den Auspüffen abfahrender Automobile ausgeharrt haben, auch delektierte ich mich zu Silvester unter Ausrufen der Verzückung am Gestank pyrotechnischer Erzeugnisse, niemals aber an deren Krach, streunte ich gern um die Tankstellen unserer Stadt, um ungehemmt Benzin inhalieren zu können. Und selbst heutzutage macht mir das Zubereiten von Speisen am heimischen Herd mehr aufgrund der Koch- und Bratendüfte Laune – und nicht in erster Linie wegen des Endergebnisses, welches dann noch gegessen werden muß.

Ich meine aber, daß sich damit sehr wohl gar nichts erklären läßt, obwohl meine immer mehr ausufernde Narkolepsie schreiend Erklärung heischt und ich meine Sozialisierbarkeit fürderhin stark anzweifle. Ach, weiß der Ullmann warum! Führe ich insgeheim gewonnene Erkenntnisse logisch weiter, so kann es nur unter der Decke sich sammelnder körpereigener Geruch sein, der mich zwischen die Bettfedern nagelt. Natürlich ist das sehr bedenklich. Der Schritt zur Analfixation ist so weit nicht mehr. Und was ist das nächste? Sexuelle Abirrungen? Burmesisches Latschenfieber? Bergmann-Pohl?

Ich bleibe dran.

Kowalski 1/1993


WOZU?

Michael Rudolf

Gestern wurde ich unverhoffterweise mit einer Sache bekannt, die gemeinhin das Leben genannt wird. Sicher war das gleich ein bißchen viel auf einmal, aber daß für die Tatsache, einfach dazusein, ein Extrawort appliziert wird … Da steckt doch mehr dahinter?!

Und richtig:

Damit das Leben sich seiner sublimen Handhabung nicht widersetzt, muß der daran Interessierte bestimmte zerkleinerte Brocken, Breie und dünnere Brühen zu sich nehmen, die auf wundersame, nicht aber in jedem Falle wünschenswerte Weise den Körper wieder verlassen.

Vorher müssen kleine runde Metallplättchen und rechteckige Papierfetzen gegen totgemachte Tiere und Pflanzen eingetauscht werden. Aus denen werden dann diese Brocken, Breie und Brühen gewerkelt. Der Tausch klappt im übrigen nicht mit jederlei Metallplättchen. Auch selbstgemachte Papierstückchen: Fehlanzeige.

Eine ganz bestimmte farblose Brühe nimmt der Lebende zum Einreiben. Waschen wird das genannt, und es soll erfrischen. Wie zu erfahren ist, empfiehlt sich dieser Vorgang täglich.

Um mich außerhalb der Wohnung bewegen zu können, soll ich mich in Tuche verschiedenster Art hüllen; die anderen machten das auch. Zudem, wird mir versichert, bräuchte ich dann nicht zu frieren. Doch soll es andere Gegenden geben, wo es riesig heiß sei und die Lebenden trotzdem angezogen herumliefen. Davon werde ich ganz unklug im Kopf.

Um andere, die auch leben, nicht zu molestieren, muß der Lebende bestimmte Körperöffnungen ständig geschlossen halten. Nur unter dieser Bedingung erklären sich diese bereit, eine Sache zu praktizieren, die Zusammenleben heißt. Oberstes Ziel dieses Zusammenlebens aber ist, so wird mir weiterhin verraten, möglichst vielem Nachwuchs auch das Leben zu ermöglichen. Am Körper sind dazu merkwürdige Apparaturen zum wechselseitigen Ein- und Abfüllen von bestimmten, für das wechselseitige Ein- und Abfüllen vorgesehenen Flüssigkeiten angebracht. Ergebnis ist ein kleiner Mensch, der nicht mal laufen oder sprechen kann, selbst das Stehen und sogar das Sitzen muß ihm mühsam beigebracht werden, daß man darüber desperat werden möchte.

Wenn es die Leute (das sind die anderen, die auch leben) juckt, schlagen sie nach Verabredung mit Knütteln aufeinander ein. Bei manchen dieser Stöcke kommt sogar Feuer vorn raus. Haben sie solche nicht zur Hand, so machen sie sich die Motion unter Ausrufen der Geringschätzung und Schadenfreude mit Armen und Beinen. Da kommt jedoch kein Feuer vorn raus. Ach über solch entsetzliche Spektakel.

Kluge Leute behaupten unbeirrt, für einen rechten Simpel sei das Leben ohne Gifte durchaus zu ertragen, nur weiß keiner, wozu es eigentlich gut sein soll.

Kowalski 5/1993

MICHI – NIMM DIES!

F. W. Bernstein

Wurzel Burston – Diesen Mann kenne ich nicht. Michael Rudolf: Shut Up And Play Your Guitar!

– 444 Rockgitarristen von Ritchie Blackmore bis Frank Zappa

Ein großer Kenner ist er, der Michi Rudolf, und ein noch größerer Benenner. Pilze, Biere und Rockgitarristen kennt und nennt er alle. (Bis auf s. o.!)

Michi – Du hast sie uns vorgestellt in voluminösen Bänden; und hast fürs Bier etwa eine eigene treffende und treffliche Sprache erschaffen, die mehr sagt und singt als die haltlose Lyrik der Weinkenner.

Mit Deinen eigenen Spezereien will ich Dich salben. Was Du übers Köstritzer Schwarzbier schreibst, gilt auch für Deine Texte: »[…] dürfen Sie getrost im Stehen trinken, da verneigt sich’s leichter vor formvollendeter Braukunst.«

»Malzig, rezent, optimal gehopft« klingt mir auch Deine Schreibkunst; und grad weil ich nix weiß über Bier, Pilze und Rockgitarristen, zieh’ ich im Stehen tief den Hut. Michi!

Michi kann seinen Stoff adeln. Aber wie konnt’ er auch tadeln! »[…] da gefällt sich eine amorphe Aromamasse in Tummeln und Toben. Tölpelhaft und hyperpasteurisiert, ein Hauch von Jauche, nö, eine ganze Bö […]«. Trinken sollte man solche Brühe sicher nicht – aber lesen! (Alles aus dem älteren Bierbuch 1516 Biere von 1999.)

Bei der Gelegenheit meine Legitimation: Mir hat Michael Rudolf in seinem Verlag Weisser Stein in Greiz meinen ersten und besten Band mit Zeichnungen gemacht, Anfang der neunziger Jahre; längst vergriffen: Der Blechbläser und sein Kind.

Dieter Steinmann hat als Hg. mitgemacht; und das Foto, wo wir drei die Köpfe im Fotoautomat zusammenstecken, bis es blitzt, find’ ich nimmer. Wo waren wir stehengeblieben?

Wir kommen zu den Rockern. »Cliff Gallup – Ganz wichtig, ganz wichtig.« Aber »Tony Fredianelli – Rumms. Kliwifff. Schschschsch. Ratatatat. Poch. Schepper. Rawummmmmmm. Fttttftftft. Hmhm. Ping. Ticktackticktack. Rumms. So in etwa. Platten heißen dann origineller- und überflüssigerweise Breakneck Speed (1993). Beste Mike-Varney-Klippschule eben.«

Verständlicher? Bitteschön: »John Fogerty – Jahrzehntelang wurde in dieser Republik kein Lagerfeuer ausgepinkelt, bevor nicht wenigstens zehn Lieder der Creedence Clearwater Revival (Peter Handkes Lieblingsband) von den untalentiertesten, aufdringlichsten Arschgesichtern aus der Parallelklasse auf verbogenen und verzogenen, vom Eigenejakulat verquollenen ›Klampfen‹ (allein dieses Wort ist eine rechtserhebliche Tatsache!) runtergerissen waren und nun selbst die Petra, die Christiane und die Moni nicht mehr nein sagen wollten, nur damit Ruhe ist. […] Ich kriege jetzt noch Pickel.«

Aber auch hier weiß Michi, wo Gott wohnt. Lesen Sie nach S. 109, Rory Gallagher. Zweieinhalb Seiten. Die Gitarre erzählt: »Ich bin nur eine einfache Fender Stratocaster […]. Es war der Gitarrenbund fürs Leben.«

Elvis Presley fehlt unter diesen Heiligenbiographien. Er findet sich auch nicht unter den Pilzen. Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer. Michi, der Herr der …linge! Tantelfintling, Maronenröhrling, Samtfußrübling, Violetter Rötelritterling, Pfifferling … Hören Sie das Intro zum Kapitel »Makrokosmos Märzmulch«. Thema sollte eigentlich sein der »Frühlingsweichritterling, Melanoleuca cognata«. Und schon wird aus dem Kenner und Benenner Michi der Bekenner: »Vor vielen Jahren faßte ich zu einem sanften Fräuleinwunder tiefe und feste Zuneigung. Das Entwerfen von Zähnen erlernte sie damals. Sie war von geradem Wuchs, ihr Wesen klar wie das Herbstwasser. Der Klang ihrer Stimme umschmeichelte die Erde, und ihr ebenmäßiges Antlitz beschämte alle Blumen. Alle. Mein Herz geriet ganz außer mir, und mein Innerstes kam in heillose Erregung. Aber strenggenommen geht Sie das überhaupt nichts an.«

Gut – dann aber der Höhepunkt des Pilzbuches, drei Seiten »Audienz beim König«:

»Steinpilz, Boletus edulis. Unglaublich, aber wahr: Mir wurde Audienz gewährt. Nicht irgendein Stein-/Herrenpilz, nein, ›The king of the Woods‹ ließ sich höchstpersönlich herab. […] Und jetzt sehe ich ihn auch: le Jardin du Roi – der Garten des Königs. Eine Miniaturlichtung, wo zwei Fichten vorzeitig den Kampf gegen ihren Selbsterhaltungstrieb gewonnen hatten. Viermal vier Meter dürften das sein. Der Nadelteppich wird von weichen Moospolstern abgelöst. Grashalme zittern nervös im erstbesten Lufthauch, der hierher findet. Die Sonne hat ihren neuesten Farbkasten ausgepackt und hantiert verschwenderisch auf diesem Areal. Wo ein alter Stumpf des vormaligen Hochwaldes gemächlich zerbröselt, auf dem Wurzelstockpodest ist der Thron als Bühne hergerichtet. Da! Wow! Die Sommersonne richtet ihre Scheinwerfer auf IHN und läßt Seine Majestät im golden strahlenden Ornat erscheinen. Flankiert von vier furchteinflößenden Fliegenpilzwächtern. Unzählige als Pfefferröhrlinge kostümierte Lakaien tun wichtig. Er ist es wirklich. Dreißig, Quatsch!, vierzig Zentimeter hoch.«



Arbeit an »Der Blechbläser und sein Kind«, Greiz, 1993.



Dieter Steinmann, Michael Rudolf, F. W. Bernstein.

Eine festliche Zeremonie wird inszeniert, daß es nur so eine Art hat. Und versteckt noch ein neuerliches Bekenntnis: »Am neugierigsten hätte alle die Erwähnung meines Kindes gemacht. Ein Mädchen? Solle ich unbedingt mitbringen.«

Eva, die Tochter. Vorher: das ist Ina Fräuleinwunder.

Ina und Eva: Macht’s gut! Ich grüß’ Euch!


Eva und Michael Rudolf, 1994.


Michael und Ina Rudolf, 2004.

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