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Diagnostischer Kommentar

Die vorläufige Verdachtsdiagnose des Notarztes, der Marko Zarkowitzky dehydriert und auf dem Boden in seiner Wohnung liegend vorfand, trifft es: hochgradige Spielsucht, kombiniert mit massiver körperlicher Vernachlässigung. Eben ein guter Notarzt.

In der ICD-10 ist die Computerspielsucht noch nicht erfasst; sie wird erst in der nächsten Ausgabe, in der ICD-11, codiert sein.

Zu den F-Diagnosen passt am ehesten die F63.0, das pathologische Spielen (bzw. die Kategorie Sonstiges, F63.8). Damit ist zwanghaftes Spielen gemeint, auch als Glücksspielsucht bekannt, also das Zocken an Glücksspielautomaten, in Spielhallen (oder -höllen?), aber auch das Verspielen von Geld in Wettbüros, etwa im Rahmen von Sportwetten, bis hin zum exzessiven Lottospielen und der wiederholten Teilnahme an (illegalen) Pokerrunden.

Dreht sich im Leben des Betroffenen alles nur noch ums Spielen, vernachlässigt er also seine sozialen Kontakte oder verschuldet sich immer mehr, um Einsätze machen zu können, kann er deswegen seinem Job nicht mehr nachgehen oder werden Ehe und Familie dadurch zerrüttet, liegt ein sehr ernstes Problem vor, das ähnlich schwer zu behandeln ist wie andere Süchte.

Interessanterweise wird das pathologische Spielen in der ICD-10 nicht den Abhängigkeitserkrankungen, sondern den Störungen der Impulskontrolle zugeordnet.

Online- bzw. Computerspielsucht weist ähnliche Charakteristika auf. In der kommenden ICD-11 wird sie als 6C51 diagnostiziert werden: »Gaming disorder«. Auf gut Deutsch: Computerspielsucht bzw. Internetabhängigkeit, also auch zwanghaftes Video- und Onlinespielen (vgl. hierzu auch den diagnostischen Kommentar zur Story »Game Over & Out« von Aiki Mira).


Monika Niehaus: Der Fall Häwelmann

»Hohes Gericht! Ich werde scheußlicher Verbrechen beschuldigt, und ich gebe freimütig zu, dass ich sie begangen habe, aber bin ich deshalb auch schuldig?«

Der Angeklagte mochte Mitte zwanzig sein, wirkte aber noch immer recht kindlich mit seinem blonden Haarschopf und den großen blauen Augen, die ein wenig verwundert in die Welt zu blicken schienen.

»Sie sind mir entgegengekommen und haben die Verhandlung in die Nacht verlegt, und im Gegenzug habe ich Ihnen völlige Offenheit versprochen. Schaut aus dem Fenster, Euer Ehren. Seht Ihr den guten alten Mond, wie Ihr ihn nennt, mit seinem freundlichen Gesicht? Nun, ich habe seine andere, ich habe die böse Seite des Mondes kennengelernt. Meine Mondhörigkeit, hohes Gericht, wurzelt in meiner Kindheit.

Damals, ich war kaum drei Jahre alt, entführte mich der Mond auf einem Strahl, den er durchs Schlüsselloch schickte, aus meinem Zimmer. Er lotste mich aus eitler Lust quer durch die Stadt, den Wald und schließlich bis in den Himmel, wo ich mich nur dadurch aus seinem Bann befreien konnte, dass ich ihm quer übers Gesicht fuhr, was, das gebe ich freimütig zu, einige Narben hinterließ. Daraufhin schleuderte er mich voll Zorn ins Meer.

Schaut aus dem Fenster, Euer Ehren, findet Ihr nicht, dass der Mond schon viel größer geworden ist, fast ein Viertel des Himmels einnimmt?

Ich wurde durch einen glücklichen Zufall gerettet, aber seitdem verfolgt mich der Mond, der gute alte Mond, wie Ihr ihn nennt, mit seiner Rache. Zunächst waren es Katzen, deren Augen bekanntlich im Mondlicht illuminieren, die er mich umzubringen zwang. Dann hetzte er mich auf größere Beute wie Mondkälber, noch feucht von der Milch ihrer Mutter. Schaut aus dem Fenster, Euer Ehren, findet Ihr nicht, dass der Mond jetzt gut die Hälfte des Himmels einnimmt?

Doch bald genügte ihm auch das nicht mehr, ihn gelüstete nach jungen Mädchen, und gehorsam schnitt ich ihnen mit einer Mondsichel die Kehle durch, sodass er ihr silbernes Blut trinken konnte. Ihr müsst mir glauben, Euer Ehren, es war nicht mein freier Wille, der gute alte Mond, wie ihr ihn nennt, hat mich dazu gezwungen. Schaut aus dem Fenster, Euer Ehren, findet Ihr nicht, dass der Mond noch viel größer geworden ist und nun den ganzen Himmel einnimmt?

Die Männer dort mit der Zwangsjacke werdet Ihr nicht brauchen, Euer Ehren. Seht Ihr denn nicht, dass der gute alte Mond im Begriff ist, sich auf die Erde zu stürzen … stürzen … stürzen … stürzen … stürzen …«

Diagnostischer Kommentar

Wer hätte gedacht, dass die kürzeste Story den längsten diagnostischen Kommentar hervorbringt? Aber so ist es!

Die Geschichte ist eine Neuinterpretation des Märchens »Der kleine Häwelmann« von Theodor Storm. Sie weist fantastische Elemente auf, die streng genommen nicht der Science-Fiction zuzuordnen sind, obwohl eine Mondfahrt vorliegt.

Dieser diagnostische Kommentar stellt eine Ausnahme dar, die sich vor allem auf seine Länge bezieht, aber auch darauf, dass hier deutlich mehr Experten ihre Einschätzung abgegeben haben. Mir war es wichtig, anhand des Falls Häwelmann den Leser daran teilhaben zu lassen, wie schwierig sich die Differenzialdiagnostik zuweilen gestalten kann.

Fangen wir an!

Wir haben in der Story einen Protagonisten, Häwelmann, der behauptet, er verübe Morde, weil er sich vom Mond seit seiner Kindheit verfolgt fühlt und dieser ihm die Morde befohlen hat. Ich gehe zunächst von einem einfachen Wahn, einem Beeinflussungswahn, und visuellen Halluzinationen aus und ziehe als infrage kommende Diagnosen F22.0, die wahnhafte Störung, und F20.0, die paranoide Schizophrenie, in Betracht. Aber fachliche Zweifel nagen an mir. Deshalb ziehe ich Kollegen zurate.

Ein psychotherapeutischer Kollege antwortet mir bestätigend: »Wegen des Beeinflussungswahns würde ich eher auf F22.0 tippen.« Klingt einleuchtend, denke ich mir. Dann ist die Sache wohl geritzt. Von wegen!

Ein anderer Kollege, Jan Cernohorsky, Oberarzt in einer Psychiatrie, antwortet ungleich ausführlicher: »Die F22, also eine anhaltende wahnhafte Störung, wäre es nur dann, wenn Herr Häwelmann in anderen Lebensbereichen relativ strukturiert und beieinander ist. Abgesehen von dem Wahn, der zu den Morden führt, weist Häwelmann jedoch kaum Auffälligkeiten auf, erst recht keine Bizarrheit im Verhalten, wie es wiederum bei einer Schizophrenie zu erwarten wäre.

Die anhaltende wahnhafte Störung ist ein Zustand, der nach einer langsamen psychotischen Entwicklung, typischerweise um das vierzigste Lebensjahr herum, erreicht wird.

Außerdem muss Wahn von Halluzinationen unterschieden werden. Wenn Häwelmann tatsächlich imperative, also befehlende Stimmen hört, ist die Diagnose F22 wiederum eher unwahrscheinlich, denn bei ihr treten meist keine Halluzinationen auf, auch keine visuellen.

Solche imperativen Halluzinationen, wie sie in der Geschichte beschrieben werden, habe ich jedoch bisher noch nie gehört. In aller Regel entstammen die Befehle einer oder mehrerer Stimmen im Kopf des Betroffenen. Hier den Mond als Stimmengeber zu benennen, erscheint mir in der Funktion, belastende Emotionen abzuwehren, als zu lasch.

Eine Gedankeneingebung als weiteres mögliches Wahnsymptom ist für die F22 ebenso unwahrscheinlich wie die Behauptung, das hätte schon in der Kindheit seinen Anfang genommen.

Die innere Denkstruktur bei einem Patienten mit der Diagnose F22 versucht man, als Diagnostiker zu verstehen. Meist gelingt das auch nach einiger Zeit – im Gegensatz zur F20, zur Schizophrenie, wo sogar jedem Laien meist sofort klar wird, dass vernünftige Gespräche unmöglich sind und der Erkrankte sofortige psychiatrische Hilfe benötigt. Die F20 fängt allerdings abrupt an, passt also ebenfalls nicht zu den Beschreibungen in der Geschichte.

Dass Häwelmann fünfundzwanzig Jahre alt ist, spricht gegen die F22, die anhaltende wahnhafte Störung. Die Geschichte ist zu abenteuerlich.

Und jemand mit dieser Störung würde wahrscheinlich keine Morde verüben, schon gar nicht ritualisiert, wie es in der Geschichte mit der Reihenfolge Katze – Kalb – Mädchen angedeutet wird. Das ergibt keinen Sinn und entspricht auch nicht der inneren Wahnlogik. Personen mit F22 haben einen fixen Wahn, der sich nicht entwickelt.«

Das ist viel Input. Ich höre heraus, dass sich Cernohorsky mehr gegen die F22.0 als gegen die F20, eine Schizophrenie, ausspricht. Oder?

»In der Erzählung gibt es vier Punkte, die mich auch hinsichtlich einer endogenen Psychose, also einer Schizophrenie, stutzig machen. Erstens: Warum sollte Häwelmann Offenheit versprechen? Ein Schizophrener ist einfach offen, weil er die Wahrheit verkündet. Die Möglichkeit, jemand könnte das, was er erzählt, infrage stellen, existiert für ihn nicht.

Zweitens: Seine moralische Einschätzung ich gebe zu, ich habe scheußliche Verbrechen begangen passt ebenfalls nicht zum Symptombild. Beim Schizophrenen mit Wahn ist die Moral als Über-Ich-Struktur als Erstes ausgeblendet. Außerdem erinnert sich ein Schizophrener nicht an seine Taten, die er während der psychotischen Phase verübt hat. Dieses Bekenntnis würde ich als Zeichen seiner Zurechnungsfähigkeit betrachten.

Drittens: Seine Aussage Sie sind mir entgegengekommen als spontanes Zeichen der Dankbarkeit ist bei Schizophrenie und bei als real erlebter Verfolgung ebenfalls Unsinn.

Viertens: Warum behauptet Häwelmann, die Männer dort mit der Zwangsjacke werdet Ihr nicht brauchen?

Wenn er wirklich solch eine Vernichtungsangst hätte, dass der Mond auf die Erde stürzt, würde er sich anders ausdrücken. Sicher würde er sich nicht mit seinen Gedanken bei den nichtigen Männern aufhalten, die regungslos und gelangweilt dastehen und irgendwo eine Zwangsjacke versteckt haben. Seine Gedanken würden sich vielmehr mit etwas Großem, wie dem Mond, beschäftigen, denn jeder Wahn hat etwas Überwertiges.«

Jetzt habe ich den diagnostischen Salat, denke ich. Es wird immer komplizierter. Die analytischen Begrifflichkeiten erschaffen zudem eine ganz eigene Vorstellungswelt. Aber es kommt noch überraschender. Cernohorsky fährt fort:

»Wäre ich Beisitzer bei dieser Gerichtsverhandlung, müsste ich in der Gegenübertragung schmunzeln, nach dem Motto: Meint Häwelmann das ernst, oder möchte er uns verarschen? Ein Patient mit F20, einer Schizophrenie, wäre im Auftreten gröber, mit viel mehr Unruhe und Aggressivität. Dann müsste in der Gegenübertragung bei mir aber ein Gefühl entstehen, dass das, was er erzählt, wirr und destruktiv ist. Stattdessen beschleicht mich das Gefühl, dass er gezielt und manipulativ berichtet.«

Nun gut, denke ich, ich benötige jetzt eine Komplexitätsreduktion. Ich vereinfache für mich selbst: Gegen F22 sprechen Häwelmanns Alter und das Groteske in seiner vorgetragenen Geschichte. Gegen F20 sprechen sogar noch mehr Punkte. Sollte ich mich als Mitherausgeber und Psychotherapeut nun für die F22 entscheiden, sozusagen als das kleinere Übel?

Cernohorskys nüchterne Antwort: »Anhand der Angaben in der Erzählung lässt sich das nicht entscheiden.« Na toll!

Er setzt sogar noch einen drauf und bringt eine weitere mögliche Diagnose ins Spiel: »Da ist ja auch noch die Beobachtung, wie Häwelmann mit Worten (und Menschen) spielt. Allein schon die Ansprache Euer Ehren. Alles, was er sagt, spricht er wohlüberlegt aus, vorwegnehmend, wie seine Worte auf andere wirken werden.

Da zudem keine formale Denkstörung vorliegt, würde ich zur Diagnose einer Psychopathie neigen, also zur F60.2, der dissozialen Persönlichkeitsstörung, mit psychogen bedingter psychotischer Distorsion der Realität, die – rein psychopathologisch – den Ausdruck in einem Verfolgungswahn findet.

Streng genommen liegt keine Gedankeneingebung vor, Häwelmann kommuniziert mit dem Mond nicht, es liegen auch keine visuellen Halluzinationen vor, nur eine Wahnwahrnehmung, nämlich dass der Mond immer größer wird, was jedoch eine inhaltliche Denkstörung im Sinne des Verfolgungswahns ist.

Häwelmann erlebt die Verfolgung nicht seit seiner Kindheit. Diese Behauptung ist unbewusst erfunden, er bettet sie erst später in seine Erzählung ein.

So gefragt sehe ich vor Augen einen Serienmörder mit Verhaltensstörungen in der Kindheit, in der er bereits Katzen tötete.«

Diese Diagnose stellt eine überraschende Wendung dar. Soweit Kollege Cernohorsky.

Wenn Sie, lieber Leser, die diagnostische Odyssee weiterverfolgen möchten, bietet die Autorin Nora Hein, tätig in einer forensischen Psychiatrie und Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung, eine Fortsetzung an.

Ihre Notizen zum Fall Häwelmann lauten wie folgt: »Gedanklich geordneter Mitte-20-Jähriger. Störungsbeginn im Alter von drei Jahren. Wahnhaft (Verfolgungswahn), optische Halluzination (Wachstum des Mondes), selbsterhöhend (agiert Narzissmus sogar vor Gericht aus, ist dabei sehr manipulativ – Gericht tagt wegen ihm nachts).

In seiner Sprechart selbstdarstellerisch, dabei stringente, gebildete Sprache, gedanklich nicht zerfahren, keine Gedankensprünge. Zwar keine verwaschene Sprache, gleichwohl kataton anmutende Wiederholung des Wortes stürzen.

Kein Schuldbewusstsein, Selbstverständnis von Opferrolle (eigene vermeintliche Entführung als Kind im Zusammenhang mit späteren Morden), Abwendung der eigenen Schuld auf Wahnidee, Abwertung der Opfer (mit Mondkalb könnte ein dummer, einfältiger Mensch gemeint sein).

Die vorgenannten ICD-10-Diagnosen F20 und F22 sind für mich ebenfalls fraglich, allerdings auch die F60.2 mit psychotischer Distorsion. In weiten Teilen schließe ich mich dem Kollegen Cernohorsky an. Für die F20 ist das gesamte Funktionsniveau zu hoch und die offenkundigen persönlichkeitsstilistischen Probleme wären hierbei nicht abgedeckt. Auch die Taten (Töten mit einem sichelförmigen Messer) sind symbolisch zu durchdacht und geordnet (nachts losgehen, um zu töten) für eine übliche Tat eines an F20 Erkrankten.

F22, die wahnhafte Störung, ist bei Halluzinationen auszuschließen. Häwelmann berichtet imperative Verhaltensaufforderungen (unklar bleibt, ob optisch oder akustisch) durch den Mond.«

Hein favorisiert die F21, die schizotype (Persönlichkeits-)Störung. Wörtlich steht in der ICD-10: »Eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, die schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind. Es kommen vor: ein kalter Affekt, Anhedonie und seltsames und exzentrisches Verhalten, Tendenz zu sozialem Rückzug, paranoische oder bizarre Ideen, die aber nicht bis zu eigentlichen Wahnvorstellungen gehen, zwanghaftes Grübeln, Denk- und Wahrnehmungsstörungen, gelegentlich vorübergehende, quasipsychotische Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen, meist ohne äußere Veranlassung. Es lässt sich kein klarer Beginn feststellen; Entwicklung und Verlauf entsprechen gewöhnlich einer Persönlichkeitsstörung.«

Nora Hein sieht bei Häwelmann viele dieser Beschreibungen als zutreffend an. Sie argumentiert weiter: »Es ist wie eine Pseudoschizophrenie. Oder auch eine pseudopsychopathische Schizophrenie, die gekünstelte, pathetische Sprechweise, seine ungewöhnlichen Überzeugungen, das ganze, exzentrische Sonderlingsverhalten … Kurz: Wir haben bei der genauen Beschreibung dieser Diagnose ganz klar die Aspekte, die Cernohorsky mit der F60.2 und der psychotischen Distorsion hervorheben wollte.«

Ihrer Meinung nach werden vor allem die frühkindliche Entstehungsgeschichte und das klinische Bild, das ein Zusammenspiel aus affektiver Kühle, gekünstelter Sprechweise, manierierten Äußerungen sowie paranoiden Wahnideen präsentiert, am ehesten durch die F21-Diagnose gespiegelt.

Ich bin sprachlos über diese Wendung. Aber die Herleitung klingt nachvollziehbar. Also spricht mehr für die Diagnose einer schizotypen Störung (F21) als für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2)?

Geben wir Jan Cernohorsky die Möglichkeit, zu Frau Heins Ausführungen Stellung zu beziehen. In vielen Punkten stimmt er ihrer Einschätzung zu: »Richtigstellen möchte ich allerdings, dass die von Häwelmann beschriebene Wahrnehmung des Mondes keine Halluzinationen sind, sondern inhaltliche Denkstörungen beziehungsweise Wahnwahrnehmungen. Die Mondwahrnehmung ist eine stark narzisstisch gesättigte Beziehungsfantasie, nahe einem Größenwahn, die die Größe und Bedeutsamkeit des Gedankenautors spiegelt.

Zwar wird die F21 selten vergeben, aber sie könnte tatsächlich gut passen. Auch Häwelmanns Pseudophilosophieren über Moral würde hierzu besser passen; für eine F60.2 wäre dieses Verhalten tatsächlich zu bizarr.

Psychodynamisch gesehen, also ohne Beschränkung auf eine deskriptive ICD- oder DSM-Diagnose, könnte man über einen malignen Narzissmus nach Kernberg sprechen, der nah einer atypischen Psychose ist. Bestimmt wird Häwelmann in jungen Jahren frühkindliche Traumatisierungen erfahren haben, vielleicht eine Bindungsstörung nach Bowlby.

Gut ist die Beobachtung der Kollegin hinsichtlich der Wiederholung des Wortes stürzen, als wäre Häwelmann in Trance und abgekoppelt von der Realität. Auch das ist wieder etwas Bizarres, Rituelles, Magisches …

Wenn ich mir den Vergleich mit Hannibal Lecter in der Filmreihe, gespielt von Anthony Hopkins, erlaube, so fällt mir auf, dass dessen Augen kalt, leer und gefährlich aussehen. Die von Häwelmann hingegen blicken verwundert; er wirkt kindlich. Wir wissen nicht genau, wie Häwelmann das Morden erlebt, also ob das, was er erzählt, eher seiner Selbstdarstellung zuzuschreiben ist oder ob er tatsächlich emotionslos ist. Ist die Verwendung des Begriffs Mondkälber verachtend gemeint?

Ich denke, die Diagnosen F60.2 und F21 liegen nicht allzu weit auseinander. Im DSM-V (siehe Vorwort) gehört die F21 wie die F60.2 zu den Persönlichkeitsstörungen: die schizotype oder schizotypische Persönlichkeitsstörung.

Legt man diagnostisch den Schwerpunkt auf das Bizarre, die Exzentrik, das magische Denken und die vage, gekünstelte Sprache, würde ich tatsächlich ebenfalls die F21 in Erwägung ziehen.«

Ich bin erfreut und endlich zufrieden: Zwei Psychoseexperten nähern sich in ihrer Einschätzung an und einigen sich zu guter Letzt auf eine Diagnose.

Wie schon im Vorwort erwähnt, liegt bei einigen Erzählungen dieser Anthologie das Hauptproblem der Diagnosefindung natürlich in den wenigen zur Verfügung stehenden diagnostischen Informationen, die wir ausschließlich dem geschriebenen Wort der Geschichte entnehmen müssen. Und diese Story ist zudem besonders kurz. Man könnte sagen: Je weniger Informationen vorliegen, desto schwieriger ist es, eine sichere Diagnose zu stellen, und desto mehr interpretativen Spielraum gibt es.

Eine Klarheit bringende diagnostische Befragung des Patienten Häwelmann ist uns leider nicht möglich, ebenso nicht, Rückschlüsse aus weiteren Beobachtungen seines Verhaltens zu ziehen oder Auffälligkeiten in der Interaktion mit ihm zu erkennen. Insofern stehen uns Psychotherapeuten, Psychiatern etc. im Behandlungszimmer deutlich bessere Möglichkeiten einer verlässlichen Diagnostik zur Verfügung.

Monika Niehaus, die Autorin von »Der Fall Häwelmann«, verfolgte den Entstehungsprozess dieses diagnostischen Kommentars. »Mon dieu, was habe ich dir und euch mit dem Häwelmann angetan! Für mich stand die literarische Figur, die Story, im Vordergrund.

Über die Art der Störung habe ich mir keine näheren Gedanken gemacht. Und jetzt habt ihr den Salat! Ich finde es übrigens positiv, einen solchen Fall zu diskutieren und damit zu belegen, dass das menschliche Gehirn, das bislang komplexeste Organ im ganzen Universum, widersprüchlich ist und manchmal in keine Schublade passt – und dass gerade bei den wenigen zur Verfügung stehenden Symptomen mehrere Möglichkeiten denkbar sind.

Viel Misstrauen erregender finde ich zu große Sicherheit …«


Isabell Hemmrich: Ein ganz normaler Tag

Ich liege auf dem kalten Stahltisch. Ich bin nackt. Ich kann mich nicht bewegen. Sie sind da, um mich herum. Ich spüre ihre Anwesenheit, aber ich kann sie nicht sehen. Die Lampe blendet mich. Ich blinzele. Eine Träne rinnt mir aus dem Augenwinkel, läuft an der Schläfe hinab. Das Salz brennt auf meiner Haut, aber ich kann mich nicht kratzen.

Das passiert gar nicht wirklich, sage ich mir. Du träumst. Du musst nur aufwachen und alles ist wieder gut. Als könne er meine Gedanken lesen, fasst einer von ihnen nach meinem Kopf. Kann er meine Gedanken lesen?

Ich spüre die ledrige Haut an meiner Stirn. Sie ist viel zu warm, wie bei einem Menschen, der hohes Fieber hat. Und eigenartig weich und nachgiebig. Wie Gelatine. Als säßen keine Knochen unter der Oberfläche. Unmöglich, sich sowas einzubilden. Ich träume nicht. Das hier passiert wirklich.

Noch mehr Hände. An meinem Bauch. Auf meinen Brüsten. Zwischen meinen Beinen. Sie betasten mich, aber nicht auf die Art. Nicht, wie es ein Mann tun würde. Ein Liebhaber. Oder ein Triebtäter. Eher wie ein Arzt. Routiniert. Zielstrebig. Emotionslos.

Die Lampe wird gedreht. Jetzt kann ich die Umrisse ihrer Köpfe sehen. Diese seltsam aufgeblähten, birnenförmigen Köpfe mit den riesigen Augen. Insektenaugen, wie schillernde Discokugeln. Einer nähert sich meinem Unterleib. Er hat etwas in der Hand. Die Hand ist viel zu schmal.

Ich sehe das Aufblitzen der Nadel. Nein! Bitte nicht! Bitte, bitte, bitte, ich will jetzt aufwachen! Die Hohlspritze durchsticht meine Bauchdecke. Es tut so weh! Immer tiefer dringt der Fremdkörper in meinen Nabel ein. Es brennt wie Feuer. Scharfes, kaltes Feuer. Mir wird schlecht. Ich muss mich übergeben. Jetzt … wird … alles … schwarz …

Ich setze mich auf. Mein Puls rast, mein Herz hämmert schmerzhaft schnell gegen meine Rippen. Ich bin in Schweiß gebadet. Meine Brust ist ganz eng. Ich weiß zwar, dass ich jetzt wach bin, aber der Albtraum hält mich immer noch in seinen Klauen. Nein, kein Albtraum. Die Erinnerung. O Gott, hört das denn nie auf?

Jede verdammte Nacht dasselbe. Jede Nacht die gleiche Angst, die gleiche Hilflosigkeit, der gleiche Schmerz. Genau wie damals. Ich erleide alle Qualen erneut. Immer wieder.

Bestimmt sind die Schlaftabletten schuld daran, dass ich nicht eher aufwache. Aber ohne das Lendormin würde ich gar nicht schlafen. Es dauert jetzt sowieso immer länger, bis die Tablette wirkt. Wenn sie wirkt.

Am Anfang war eine halbe genug, dann eine ganze. Jetzt bin ich froh, wenn ich nach eineinhalb Tabletten ein paar Stunden Ruhe finde. Wobei – was heißt hier Ruhe? Im Schlaf durchlebe ich erneut, was die mir angetan haben. Jede. Verdammte. Nacht.

Ich schaue auf die Leuchtziffern des Digitalweckers: 4:37 Uhr. Scheiße. Noch nicht mal fünf Uhr morgens. Wie lange habe ich geschlafen? Um Mitternacht war ich noch wach, um 0:46 Uhr auch noch. Da habe ich das letzte Mal nach der Zeit gesehen. Vielleicht bin ich gegen eins eingeschlafen. Nicht mal vier Stunden!

Bald ist das letzte Zehnerpäckchen leer, was mache ich dann? Doktor Meier schreibt mir nicht schon wieder welche auf. Und die Rezeptfreien aus der Apotheke wirken nicht. Davon bekomme ich nur so ein ekelhaftes, taubes Gefühl in den Gliedmaßen. Die schmecken auch so bitter, dass ich sie kaum runterkriege.

Die Lendormin sind geschmacksneutral, fast ein bisschen süßlich. Wenn ich die jemandem in den Drink mischen würde, würde der das garantiert nicht merken. Eine Eins-a-Vergewaltigungsdroge sozusagen.

Ich hatte immer Angst vor Rohypnol-Panschern, hab mein Glas nie aus den Augen gelassen. Hat mir aber auch nix gebracht. Jetzt wär’s mir auch egal. Aber ich gehe ohnehin nicht mehr aus.

Mein Herz hat sich jetzt einigermaßen beruhigt, aber ich spüre immer noch diesen Druck auf der Brust, diese Beklemmung. Ich muss pinkeln. Im Wohnzimmer flimmert der Fernsehbildschirm.

Mein Nachthemd klebt mir am Körper. Ich ziehe es hoch, um meinen Bauch zu betrachten. Warum der Nabel? Damit man hinterher keine Narben sieht? Ich spüre ganz genau, wo die Nadel in mich eingedrungen ist. Mein Fleisch erinnert sich. Ich frage mich, ob man etwas erkennen könnte. Auf dem Ultraschall. Beim Röntgen. Oder sorgen sie dafür, dass keine Beweise zurückbleiben?

Ich habe nie versucht, es herauszufinden. Was soll ich der Ärztin sagen? Ich wurde von Aliens entführt, würden Sie bitte mal nachsehen, ob die außerirdische Kanüle, die sie mir in den Bauch gejagt haben, einen Stichkanal hinterlassen hat? Nächste Ausfahrt Klapse. So blöd bin ich nicht.

Ich kauere mich über die Schüssel und versuche, irgendwie mit dem Urinstrahl zu treffen, ohne eine Riesensauerei anzurichten. Zum Glück habe ich Übung darin. Trotzdem beneide ich die Männer. Der Toilettensitz ist so kalt auf der Haut. So kalt wie der Metalltisch. Ich will das nicht wieder spüren. Nie mehr.

Die Ringe unter meinen Augen sind so dunkel, dass man meinen könnte, ich hätte mich geprügelt. Die übrige Haut ist dafür umso bleicher. Meine Augen waren früher mal haselnussbraun. Jetzt ist die Iris so stumpf, dass die Farbe an vertrockneten Hundekot erinnert. Ekelhaft.

Ich spucke die Zahnpasta aus und spüle mit Wasser nach. Vielleicht sollte ich nochmal zu Doktor Özogul gehen. Der war immer so nett. So wie ich aussehe, nimmt der mir meine Schlafprobleme auch garantiert ab. Natürlich sage ich ihm nicht, warum ich nicht schlafen kann. Vielleicht sage ich, mein Freund hat mich verlassen. Oder, dass mein Vater gestorben ist. Kann der das irgendwie nachprüfen?

Ich darf nur nicht zu gierig rüberkommen. Eher widerwillig. Ja, wenn Sie meinen, dann versuche ich es halt mit Tabletten. So in der Art.

Jetzt erstmal Kaffee. Ich gebe doppelt so viel Pulver in die Tasse wie empfohlen. Werfe drei Zuckerwürfel hinterher. Das brodelnde Wasser verbindet beides in Sekundenschnelle zu einer unauflöslichen Einheit. Wenn ich überhaupt noch irgendwas genießen kann, dann das Gefühl, wie die dunkle, heiße Brühe durch meine Speiseröhre schwappt und sich das Koffein in meinen Nervenbahnen verteilt.

Ohne dieses allmorgendliche Ritual wäre ich zu überhaupt nichts mehr fähig. Manchmal gönne ich mir am Nachmittag eine zweite Dosis. Aber das geht nicht zu oft, weil ich sonst Herzrasen kriege. Und Sodbrennen. Essen kann ich jetzt noch nichts. Dafür liegt mir die Nacht noch zu sehr im Magen.

Ich setze mich an den Computer. Bevor ich mich an den Werbetext für das Hotel Rheingold mache, überprüfe ich das Internet auf Meldungen über sie. Nichts Neues. Ich sehe die Chatrooms durch. Manchmal ist der Drang, mich auch dort einzuloggen, beinahe übermächtig. Mich jemandem mitzuteilen. Aber ich will keiner von denen sein. Von diesen Ufo-Spinnern, die über geheime Regierungsprojekte und feindliche Reptiloiden faseln.

Was bei denen wohl schiefgelaufen ist? Ich meine: Glauben die den ganzen Mist wirklich oder sind die krankhaft geltungssüchtig? Würde mich interessieren, was Doktor Meier denen für eine Diagnose stellen würde. Schizophrenie? Eine Psychose?

Laut Wikipedia bezeichnet Letzteres einen Symptomkomplex, der Wahnvorstellungen, Realitätsverlust und Halluzinationen umfasst. Das passt. Eine akute Psychose ist heilbar, eine chronische bleibt ein Leben lang bestehen und endet schlussendlich in einer Demenzerkrankung. Oje, oje. Da habe ich ja richtig Glück, dass ich mir meine Entführung nicht bloß einbilde. Wobei Glück natürlich auch wieder so ein relativer Begriff ist. Jetzt aber an die Arbeit!

Meine Augen brennen. Die Zeilen auf dem Bildschirm verschwimmen. Verdammt. Jetzt verliert das Koffein schon wieder an Wirkung. So wird das nix. Wie soll ich den Leuten Lust auf den Spa-Bereich der Lohengrin-Therme machen, wenn sich mein Schädel anfühlt, als würde er bersten? Der Druck hinter meinen Augäpfeln ist so groß, dass ich meine, gleich springen sie mir aus den Höhlen. Ich kann so nicht arbeiten.

Aber wenn ich mich jetzt hinlege, komme ich vor heute Abend nicht mehr aus den Federn. Und dann liege ich wieder die ganze Nacht wach. Trotz der Tabletten. Kann mir bis zum Morgengrauen Wiederholungen von Die Trovatos und Berlin – Tag und Nacht angucken.

Früher hätte ich mir lieber eine Gabel ins Auge gerammt, als mir so einen Mist anzuschauen. Aber auf was Anspruchsvolleres kann ich mich nicht konzentrieren. Und ohne Fernseher halte ich es nachts nicht mehr aus. Trash-TV ist immer noch besser, als in der Dunkelheit zu liegen und darauf zu lauschen, ob sie wiederkommen.

Früher dachte ich immer, wenn es eine Art höher entwickelte Intelligenz gäbe, die uns aus dem All beobachtet, dann hätten die der Menschheit schon längst den Garaus gemacht. So als intergalaktische Schädlingsbekämpfungsmaßnahme gewissermaßen.

Stattdessen Untersuchungen. Warum? Aus kranker Neugier? Oder steckt ein Grund dahinter? Das frage ich mich: Was die von mir wollen. Aber ich frage mich nicht mehr, warum es gerade mich getroffen hat.

Manche von den Spinnern behaupten, dass wir etwas Besonderes sind. Beneidenswerte Auserwählte. Ich sehe nicht ein, was daran beneidenswert sein soll, der Willkür dieser hässlichen, kleinen Monster ausgeliefert zu sein. Nackt und bewegungsunfähig. Von ihren widerlichen Wabbelhänden betatscht zu werden. Sich nicht wehren zu können, wenn sie einen mit ihren ekelhaften Instrumenten vergewaltigen.

Ja! Vergewaltigen. Oder wie soll ich das sonst nennen? Die haben mir eine Nadel in die Eingeweide gerammt, scheiße nochmal! Und wozu denn, bitteschön? Zu welchem Zweck machen die das? Das ist doch vollkommen sinnlos.

Sinnlos. Genauso sinnlos wie die Scham. Wofür soll ich mich schämen? Ich habe nichts falsch gemacht. Sagt auch Doktor Meier. Dass es nicht meine Schuld ist. Ich konnte nichts dagegen tun. Wie hätte ich es verhindern sollen, wo ich mich doch nicht mal rühren konnte?

Ich war so hilflos. Ich glaube, deshalb schäme ich mich. Weil ich denen ausgeliefert war. Weil ich keinerlei Einfluss darauf hatte, was mit mir passiert. Nicht mal über meinen eigenen Körper hatte ich noch die Kontrolle. Was bleibt dann noch von einem übrig?

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