Kitabı oku: «Die Entdeckung der Freiheit», sayfa 2

Yazı tipi:

Dana Villa wählt in seinem Beitrag ebenfalls die Methode des Vergleichs, um Hannah Arendts spezifischen Zugang zur amerikanischen politischen Tradition herauszuarbeiten. Im Zentrum stehen dabei Arendts und Tocquevilles Interpretationen der amerikanischen Demokratie. Er stellt große Übereinstimmung nicht nur in der Bewunderung beider Autoren für das Prinzip der Selbstregierung und der Dezentralisierung der Macht fest, sondern auch in ihrer Betonung des Vorrangs des Politischen. Ein weiterer Punkt, der Arendt und Tocqueville eint, ist nach Dana Villa ihre Diagnose möglicher (bei Arendt bereits eingetretener) Pathologien der amerikanischen Gesellschaft. Dazu zähle die Sorge vor einem despotischen Verwaltungsstaat und einem auf materiellen Reichtum orientierten Individualismus. Tocqueville verstehe jedoch „Individualismus“ nicht als Selbstsucht und Selbstbezogenheit, sondern sehe darin eine desintegrierende Kraft in bezug auf Familien, Generationen und Klassen, dessen moralische Wirkung darin bestehe, „öffentliche Tugenden trockenzulegen“. Einen wesentlichen Unterschied zwischen Arendt und Tocqueville erkennt Dana Villa in ihrer Herangehensweise an das Verhältnis von Religion und Politik. Während Arendts Denken von einem tiefen „Mißtrauen gegenüber einem religiösen Antrieb der Politik“ gekennzeichnet war, meinte Tocqueville im christlichen Glauben das moralische Fundament der amerikanischen Freiheit gefunden zu haben. Diesen Aspekt der religiösen Fundierung der Demokratie bei Tocqueville, das Paradox, daß er als Advokat des Pluralismus zugleich eine gemeinsame Religion befürworte, übersähen wir heute unter dem Einfluß kommunitaristischer Interpretationen, die lediglich Tocquevilles Vorliebe für die vielfältigen zivilen Assoziationen betonten. Im weiteren Verlauf seines Beitrags fragt Villa dann, ob Arendts republikanisches Motiv des „Gründens und Bewahrens“ eine angemessenere Lösung für die radikale Pluralität moderner Gesellschaften biete. Arendt sehe in der amerikanischen Verfassung das Beispiel für einen neuen Raum der Freiheit, der ohne die Rückversicherung auf „zweifelhafte Absolutheiten“ und übergeordnete Autoritäten auskommt. Arendts „geniale“ Interpretation bestehe nun darin, den Akt der Gründung selbst zur Quelle der Autorität der Verfassung zu erklären. Gleichwohl hält Dana Villa Tocquevilles und Arendts Versuche, den „Vorrang des Politischen“ auf etwas „Stabileres als konstitutionelles Recht und institutionelle Rahmenbedingungen“ und damit auf „Mythen“ zu gründen, für nicht vereinbar mit dem moralischen Pluralismus, der die gegenwärtigen liberalen Demokratien kennzeichnet.

Rahel Jaeggi greift die Kritik von Horst Mewes und Dana Villa an Arendt auf und versucht, die Motive von Arendts Kritik am liberalen Modell des Politischen zu ergründen. Es gehe Arendt um die „priority of the political“ gegenüber der „priority of the private“ im liberalen Modell. Nicht weil sie „antiliberal“ gewesen sei, sondern weil in der liberalen Tradition Probleme, die aus „Privatinteressen heraus motiviert sind“, zum Gegenstand politisch-öffentlicher Regelungen werden, ohne einen eigenen Raum des Politischen zu konstituieren, habe Arendt im Liberalismus eine Gefahr für das genuin Politische gesehen. Jaeggi sieht in Arendts Konzeption von „Welt“ und „Person“ eine Möglichkeit, die dichotomische Gegenüberstellung von Republikanismus und Liberalismus zu überwinden. Weder das Individuum noch die Welt, auf die es sich bezieht, seien bei Arendt feste, vorauszusetzende Größen, sondern beide konstituieren sich erst im Wechselspiel des politischen Handelns und verändern sich dabei. Arendt vernachlässige insofern keinesfalls den Pluralismus moderner Gesellschaften, sondern habe einen anderen Begriff von Individualität und Pluralität als der Liberalismus. Politik sei in Arendts Verständnis eben nicht einfach der Ort der Aushandlung unterschiedlicher Interessen oder unhintergehbarer Differenzen. Im Gegenteil: Erst im Rahmen eines gemeinsamen Handelns im öffentlichen Raum und der Gestaltung einer gemeinsamen Welt konstituieren sich Interessen und Differenzen als politische und eröffnen dadurch gleichzeitig die Möglichkeit ihrer Transformation. Gerade dieser „transformative Charakter“ des politischen Handelns im öffentlichen Raum überwinde die Tendenz des liberalen Denkens, „jede Form der substanziellen Debatte zwischen verschiedenen Lebensformen unmöglich zu machen“.

Im letzten Teil des Bandes geht Otto Kallscheuer noch einmal zurück zu den biographischen Wurzeln von Arendts Identifikation mit der amerikanischen Demokratie, an der sie bekanntlich trotz ihrer Kritik der US-Außenpolitik und der inneren Verfassung der amerikanischen Gesellschaft festhielt. Er unterstreicht, daß Amerika für Arendt nicht nur Exil, sondern auch eine Chance als Publizistin und Wissenschaftlerin darstellte, die sie als Jüdin und als Frau im Europa der Zwischenkriegszeit wohl nicht gehabt hätte. Die Kernthese Kallscheuers lautet allerdings, daß Arendts Lesart der amerikanischen Politik verzerrt sei durch ihre New Yorker Erfahrungen und sie die religiösen Ursprünge der amerikanischen Republik ignoriere. Die revolutionäre „Nation“ Amerika sei ohne die evangelische Erweckungsbewegung des achtzehnten Jahrhunderts und ihre bis heute politisch wirksamen Wiederbelebungen nicht adäquat zu verstehen. Die amerikanische Zivilreligion umfasse nicht nur „Rom“, sondern auch „Israel“, und das bedeute den „biblischen Code von Prüfung und Umkehr, vom Bund mit Gott, vom Vertrauen in den HERRN beim Zug durch die Wüste und beim gerechten Kampf“. Wie ungeheuer dieses „zweite Register“ der amerikanischen Zivilreligion in europäischen Augen aussehen kann, braucht heute, angesichts des Versuchs einer gewaltsamen „Demokratisierung“ der arabischen Welt, nicht weiter ausgeführt zu werden.

Auch wenn sich die hier kurz skizzierten Beiträge durch eine große Vielfalt und Differenziertheit im methodischen Vorgehen, in der Argumentation und in der Darstellung auszeichnen, werden sie doch durch den gemeinsamen Fokus, der diesem Band zugrunde liegt, zusammengehalten. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die meisten Beiträge viele gemeinsame Referenzpunkte aufweisen und manchmal in geradezu verblüffender Art und Weise dieselben Texte und Fragestellungen aus verschiedenen Perspektiven betrachten und unterschiedlich interpretieren. Wenn man in Rechnung stellt, daß Hannah Arendt schon zu ihren Lebzeiten eine umstrittene politische Denkerin war, die nie für sich in Anspruch genommen hat, eine geschlossene politische Theorie zu entwerfen, dürfte diese Multiperspektivität kaum überraschen. Es ist aber mit Sicherheit kein Zufall, daß trotz aller Unterschiede in den Perspektiven und Urteilen die Bedeutung von Hannah Arendts Begriff des „politischen Handelns“ für eine Theorie des Politischen in den meisten Beiträgen ohne Einschränkung gewürdigt wird. Dies unterstreicht einmal mehr, daß für all diejenigen, deren Vorstellungen von Politik und politischer Theorie sich nicht in funktionalistischen und systemtheoretischen Zugangsweisen erschöpfen, gerade von ihrem Begriff des „politischen Handelns“ bis heute eine große Faszination ausgeht.

Lothar Probst

Winfried Thaa

1Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1987, S. 10.

2Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, München/Zürich 2001, S. 66f.

3Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München/Zürich 1998, S. 115.

4Hannah Arendt, Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S. 163.

5Vgl. Hannah Arendt, „The Threat of Conformism“, in: Dies., Essays in Understanding 1930–1954, New York 1994, S. 427.

6Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1994, S. 178.

7Aus einem Vortragsmanuskript von Ernst Vollrath mit dem Titel „Die Originalität des Beitrages von Hannah Arendt zur Theorie des Politischen“.

8Ebd.

9Hannah Arendt/Heinrich Blücher, Briefe 1936–1968, München/Zürich 1996, S. 125.

10Dolf Sternberger, „Die versunkene Stadt“, in: Merkur 341 (1976), S. 941.

11Vollrath, „Die Originalität des Beitrages von Hannah Arendt zur Theorie des Politischen“, a.a.O.

12Sternberger, „Die versunkene Stadt“, a.a.O., S. 940.

1. Hannah Arendts Weg nach Amerika

Wolfgang Heuer

Von Augustinus zu den „Founding Fathers“. Die Entdeckung des republikanischen Erbes in der europäischen Krise

Als Hannah Arendt mit ihrem Mann Heinrich Blücher im Mai 1941 den Hafen von Lissabon an Bord der S/S GUINÉ der Companhia Colonial de Navegação verließ, um zwölf Tage später in New York anzukommen, begann eine neue, entscheidende Etappe in ihrem Leben. Sie verließ Europa nicht nur räumlich, sondern auch geistig, und fand in Amerika nicht nur Asyl, sondern begegnete dort einer Republik, deren Tradition und Bedeutung ihr in Deutschland bis dahin verborgen geblieben waren. Diese Begegnung und die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Tradition bewirkte keine grundsätzliche Änderung in ihrem politischen Denken, sondern vertiefte vielmehr eine Entwicklung, die mit der Existenzphilosophie in Deutschland begonnen hatte und mit der Diskussion über die Zukunft der europäischen Juden im französischen Exil eine unerwartete Fortsetzung gefunden hatte. Dabei war Arendt von drei entscheidenden Begegnungen geprägt worden: der Begegnung mit Heidegger und Jaspers, dem ‚Lehrer‘ und dem ‚Erzieher‘, wie Arendt sie nannte; der Begegnung mit dem deutschen Zionisten Kurt Blumenfeld, durch den sie mit dem Feld der Politik und mit dem politischen Denken in Berührung kam, und die Begegnung mit Heinrich Blücher in Paris, der ihr bis zu seinem Tod 1970 zum wichtigsten Diskussionspartner über das Scheitern der europäischen politischen, aber auch philosophischen Tradition und über die Zukunft der Politik und der politischen Institutionen wurde.

Es waren aber nicht diese persönlichen Begegnungen allein, die Arendt prägten, sondern vor allem auch ihr Gespür für den Bruch der Kontinuität seit dem Ersten Weltkrieg und die leidenschaftliche Bereitschaft, sich diesem Unbekannten zu stellen. Zwischen ihrer Geburt 1906 in Linden bei Hannover sowie der Jugendzeit in Königsberg und dem Beginn ihres Studiums bei Heidegger 1924 geschah etwas, das sie später als die Unterbrechung der Kontinuität der Generationen bezeichnete: „Hier ist ein ‚leerer Raum‘, eine Art historisches Niemandsland entstanden, das nur mit Bestimmungen wie ‚nicht mehr und noch nicht‘ umschrieben werden kann. In Europa wurde die Kontinuität der Generationen während und nach dem Ersten Weltkrieg völlig unterbrochen“1. Mit dem Schicksalsjahr 1914 tat sich ein Abgrund auf, der „von Jahr zu Jahr tiefer und gefährlicher geworden ist, bis schließlich die im Herzen Europas errichteten Todesfabriken endgültig den zerschlissenen Faden durchtrennten, der uns noch mit einer Geschichte von mehr als zweitausend Jahren verbunden hatte.“ Die Wirklichkeit, der sich Arendt ausgesetzt sah, konnte „mit bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden“2.

Arendt setzte sich dieser unbegreiflichen Welt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen aus. Anfangs, zu Beginn ihres Studiums, spornte sie das Gefühl einer tief empfundenen Fremdheit dazu an, wodurch sie sich zur Existenzphilosophie hingezogen fühlte. Es ging ihr darum, einen zunächst noch unpolitischen eigenen Ort in der Gemeinschaft mit anderen zu finden. In ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin suchte sie unter dem Stichwort „Vita Socialis“ einen vom Individuum und von Gott unabhängigen „Erfahrungszusammenhang, in dem der Nächste gerade eine spezifische Relevanz hat“3. In der anschließenden Auseinandersetzung mit dem Leben Rahel Varnhagens ging es ihr nun politischer unter dem Eindruck des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland um die Versuche einer Jüdin zur Zeit der deutschen Romantik, ihre Stellung als Außenseiterin in der Gesellschaft zu überwinden und als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden.

Neben dem Gefühl der Fremdheit war Arendt von einer tiefen Leidenschaft des Denkens erfüllt, eines Denkens, das weniger an Erkenntnis im instrumentellen Sinn interessiert war als an einer verstehenden Sinnsuche. Ihre Biographie Rahel Varnhagens wurde deshalb auch keine Abhandlung über die Probleme der jüdischen Assimilation während der Herausbildung der modernen Nationalstaaten, sondern ein Gang durch die Erfahrungswelt einer Jüdin, die auf schmerzhafte, immer wieder scheiternde Weise den Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung suchte. Arendt intonierte „die Melodie eines beleidigten Herzens“, wie sie ihr Buch am liebsten genannt hätte, aber sie fand bis zu ihrer Flucht aus Deutschland 1933 keine menschlich und politisch zufriedenstellende Lösung des Problems. Erst im Exil, erst nach vielen Diskussionen über die Zukunft der europäischen Juden und der europäischen Staaten, schrieb sie 1938 die beiden Schlußkapitel. Rahel Varnhagen, so Arendt, fand erst dann zu sich selbst und zu einer gesellschaftlichen Anerkennung, als sie nicht mehr ihr Judesein ablegen und in einem anderen gesellschaftlichen und religiösen Gewand erscheinen wollte, sondern selbstbewußt als Jüdin und voller Bewunderung für den unabhängigen Heine.

Bis zu diesen Schlußfolgerungen aber war es noch ein langer Weg. Dennoch war die Arbeit an der Biographie Rahel Varnhagens mehr als die Beschäftigung mit einem individuellen Schicksal aus der Sicht der von Arendt empfundenen Fremdheit. Arendt hatte 1926 in Heidelberg Kurt Blumenfeld, den Präsidenten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland kennengelernt, der neben ihren philosophischen Lehrern zu ihrem politischen Mentor wurde. Er konnte sie zwar nicht zu einem rückhaltlosen Zionismus bekehren, ihr aber die Judenfrage in aller Eindringlichkeit nahebringen und sie davon überzeugen, daß die bisherigen Bemühungen der Juden in Deutschland um Assimilation vergeblich waren. Unter diesem Eindruck arbeitete Arendt bis 1933 an der Biographie Rahel Varnhagens.

Im Unterschied zu denjenigen ihrer jüdischen Freunde, die wie auch ihr erster Mann Günther Stern (pseud. Anders) sofort Deutschland verließen, waren der Reichstagsbrand und die anschließenden Verhaftungen Oppositioneller der Anlaß für sie, nicht mehr intellektuell, sondern praktisch zu reagieren. „Was dann losging, war ungeheuerlich und ist heute oft von den späteren Dingen überblendet worden. Dies war für mich ein unmittelbarer Schock, und von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt.“4 Schon als Kind hatte sie die Verhaltensregel ihrer Mutter sehr beeindruckt, sich immer als das zu wehren, als was man angegriffen wird, nämlich als Jüdin und nicht als Deutsche oder gar Weltbürgerin. Als sie von Blumenfeld gebeten wurde, zur Vorbereitung des 18. Zionistenkongresses im Sommer 1933 antisemitische Texte in Schriften deutscher Vereine und Berufsverbände zusammenzustellen, sagte sie sofort zu. Als sie aber nicht lange danach vorübergehend verhaftet wurde, beschloß auch sie, aus Deutschland zu fliehen. Sie ging nach Prag, dann nach Genf und schließlich nach Paris.

Besonders erschüttert war sie über die freiwillige Gleichschaltung einiger nichtjüdischer Freunde wie des Germanisten Benno von Wiese: „Das Problem“, sagte sie gegenüber Günter Gaus 1964, „das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. […] Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab’ ich nie vergessen.“5

Diese intellektuelle ‚déformation professionelle‘ bestärkte sie in dem Entschluß, nie wieder irgendeine ‚intellektuelle Geschichte‘ anzufassen. In Paris arbeitete Arendt zuerst bei einer französischen Organisation, die junge Emigranten nach Palästina landwirtschaftlich und handwerklich ausbildete, dann als Sekretärin der Baronnesse Germaine de Rothschild, deren Spenden an jüdische Wohltätigkeitseinrichtungen sie betreute, und schließlich von 1935 bis 1938 als Geschäftsführerin des Pariser Büros der Jugend-Aliyah. Die Organisation bemühte sich darum, jüdische Kinder aus Mittel- und Osteuropa auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Während dieser Arbeit begleitete sie 1935/36 eine Gruppe von Jugendlichen nach Palästina und nahm 1936 am jüdischen Weltkongreß in Genf teil. Nach der Schließung des Büros arbeitete sie bis September 1939 für die Jewish Agency als Sachbearbeiterin für die Rettung jüdischer Jugendlicher aus Österreich und der Tschechoslowakei.

Arendt war auf ihrem Weg ins Exil nur kurz in Genf bei sozialdemokratischen Freunden geblieben und bald der Zionisten wegen nach Paris gegangen. Doch bei aller Zustimmung zu einem Zionismus, der sich als politischer Bewegung von der politischen Passivität und Blindheit jüdischer Wohltätigkeitsverbände abhob, geriet sie bald in Widerspruch zu dem Nationalismus, der ein wesentlicher Bestandteil eben jenes Zionismus war, und auch zur Palästinapolitik der zionistischen Organisationen.

Die wichtigsten Gesprächspartner dabei bildete ab 1936 ein Kreis von Personen, dem Walter Benjamin und Berliner Kommunisten wie der Berliner Anwalt Erich Cohn-Bendit, der Arzt Fritz Fränkel, der Maler Kurt Heidenreich und ihr späterer Mann Heinrich Blücher angehörten. Insbesondere die Diskussionen mit Heinrich Blücher führten zu einer Weiterentwicklung ihrer politischen Auffassungen. Blücher und Benjamin drängten sie, die inzwischen gewonnenen Einsichten, daß die Assimilation das jüdische Problem nicht lösen konnte, in ihre Varnhagen-Biographie einzuarbeiten. „Rahel stand immer als Jüdin außerhalb der Gesellschaft, war ein Paria und entdeckte schließlich, höchst unfreiwillig und höchst unglücklich, daß man nur um den Preis der Lüge in die Gesellschaft hineinkam, um den Preis einer viel allgemeineren Lüge als die der einfachen Heuchelei; entdeckte, daß es für den Parvenu – aber eben auch nur für ihn – gilt, alles Natürliche zu opfern, alle Wahrheit zu verdecken, alle Liebe zu mißbrauchen, alle Leidenschaft nicht nur zu unterdrücken, sondern schlimmer, zum Mittel des Aufstiegs zu machen.“6 In einer Gesellschaft der Privilegien repräsentieren die Paria das Humane und Menschliche, sie entdecken dabei die Menschenwürde als „die einzig natürliche Vorstufe für das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft“7. Sie können nicht nur mehr Sinn für die Wirklichkeit haben, sondern auch mehr Wirklichkeit besitzen als der Parvenu. Voraussetzung dafür ist die Distanz zur Gesellschaft und die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Politisch gesehen heißt das, sich nicht in einer Welt der Parias abzuschließen und einer nationalistischen Weltanschauung zu verfallen, sondern als „bewußte Parias“ „zum Rebell werden, zum Vertreter eines unterdrückten Volkes, das seinen Freiheitskampf in Verbindung mit den nationalen und sozialen Freiheitskämpfen aller Unterdrückten Europas führt“8.

Die Moderne, so Arendt später in ihrem Aufsatz über die verborgene Tradition jüdischen politischen Selbstbewußtseins, hat den gesellschaftlichen Spielraum so sehr eingeschränkt, daß er nur durch den politischen Kampf um Gleichberechtigung und das heißt um eine Neuordnung der politischen Rechte wieder hergestellt werden kann. Der Nationalsozialismus und die antisemitischen und faschistischen Bewegungen in Europa machten in der Krise der europäischen Nationalstaaten klar, daß wesentliche Elemente wie Nationalismus und Pluralismus sowie Staatssouveränität und allgemeine Bürgerrechte nicht miteinander vereinbar waren. Die Zukunft der Juden in Europa konnte deshalb auch nicht in einem jüdischen Nationalismus liegen, weil er ganz der Tradition des verhängnisvollen europäischen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet war.

Bei der Diskussion darüber, welche politische Zukunft die europäischen Juden und darüber hinaus die europäischen Völker haben könnten, erwies sich Blücher als idealer Partner. Als Arendt in Berlin Anfang der dreißiger Jahre mit Blumenfeld über den Zionismus diskutierte, gab es keine vergleichbaren Gespräche mit Günther Stern, der zu den Kommunisten um Brecht Kontakt hatte. Arendt und Stern hatten bei diesen existentiellen Debatten, wie auf die Krise zu reagieren sei, in ihren zionistischen und kommunistischen Kreisen weitgehend nebeneinander hergelebt. Erst in Paris, erst mit Blücher, begann in der Zuspitzung der Krise eine für Arendt äußerst fruchtbare Diskussion, in der beide in die Kritik des zusammenbrechenden Europa auch die Kritik am jüdischen Nationalismus und am sterilen Kommunismus einbezogen.

Blücher, 1899 in Berlin geboren, war von einer ähnlichen philosophischen Leidenschaft wie Arendt erfüllt, nur hatte er nie studiert. Er stammte aus proletarischen Verhältnissen, sein Vater starb kurz vor seiner Geburt bei einem Fabrikunfall, seine Mutter war sehr labil. Nach der Volksschule erhielt er die Gelegenheit, wegen des Lehrermangels im Ersten Weltkrieg ein Junglehrerseminar zu besuchen, wurde aber 1917 noch eingezogen, erlitt eine Gasvergiftung und kehrte nach längerem Lazarettaufenthalt zum Lehrerseminar zurück. Da aber galt seine Begeisterung schon den Spartakisten, und er verließ das Seminar, weil er mit der „weltfremden Wissenschaft“ nichts anfangen konnte. Er schloß sich der KPD um Rosa Luxemburg und Paul Levi an und tendierte später zu dem gemäßigten Flügel um Thalheimer und Brandler. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich in Berlin mit journalistischen Arbeiten und besuchte nebenbei Kurse an der Hochschule für Politik und hörte Vorlesungen bei Hans Dellbrück über Militärgeschichte. Er lernte Robert Gilbert kennen, dessen Schlagertexte in Deutschland berühmt wurden, textete mit ihm für Filme wie ‚Ja, das ist das Leben der Matrosen‘ und ‚Bomben auf Montecarlo‘, verkehrte in einem Kreis um den Expressionisten Max Holz und interessierte sich für moderne Kunst. Zweimal heiratete er. Doch die erste Ehe wurde kurze Zeit später wieder geschieden, und seine zweite Frau, die Litauerin Natascha Jefroikyn, heiratete er vor allem, um ihr die deutsche Staatsangehörigkeit zu ermöglichen. 1934 floh er über Prag nach Paris und lernte dort 1936 Hannah Arendt bei einem ihrer Vorträge kennen, 1940 heirateten sie.

Seine Stärke war die Rhetorik, die wiederum von seinem Wissensdurst, seinen Fragen und seiner Lust zur Diskussion getragen war. Alles Schreiben dagegen war ihm eine Qual, Folge einer „ungeheuerlichen schriftstellerischen Unbegabung“9, und er verzichtet schließlich darauf. „Die gute Fee hat gesprochen, ‚der Junge soll Urteilskraft haben‘, und die böse Fee hat unterbrochen und den Satz beschlossen, ‚und sonst nichts‘. Dabei bleibt es wohl“, schrieb er an Arendt.10

Blücher wandte sich nicht einfach vom Kommunismus ab, sondern stritt mit den anderen Kommunisten, doch vergeblich. „Unsereiner sucht die Dialektik in den Dingen selbst und wird als Intellektueller verschrien, während die scholastischen Helden vom pappernen Schwert sich als Realpolitiker anpreisen. Es ist alles wie um und um gedreht in dieser Zeit der chronischen Pleiten“, schrieb er im November 1936 an Arendt. Auch, daß die Stalinisten ihn als „total verjudet“ bezeichneten.11

Mit Walter Benjamin stritt er 1938 über Brechts Lesebuch für Städtebewohner. Anschließend schrieb Benjamin zustimmend in sein Tagebuch: „Blücher wies sehr mit Recht darauf hin, daß bestimmte Momente des Lesebuchs für Städtebewohner nichts sind als eine Formulierung der GPU-Praxis.“ Benjamin erkannte darin eine Verfahrensweise, „in der die schlechtesten Elemente der KP mit den skrupellosesten des Nationalsozialismus kommunizieren. […] Vielleicht darf man annehmen, daß ein Kontakt mit revolutionären Arbeitern Brecht davor hätte bewahren können, die gefährlichen und folgenschweren Irrungen, die die GPU-Praxis für die Arbeiterbewegung zur Folge hatte, dichterisch zu verklären.“12

Die Beschäftigung mit der Gegenwart wurde durch diese Art der Auseinandersetzung intensiviert. Das betraf Blücher in gleichem Maße wie Arendt. Beide verspürten den Drang, den Abgrund ohne das begriffliche Geländer von Kommunismus oder Zionismus zu erforschen. Beide aber brachten das in die Diskussionen ein, was sie aus ihrem politischen Hintergrund für wert erachteten, bewahrt und weiterentwickelt zu werden. Blücher kritisierte die verhängnisvollen mechanistischen und damit unpolitischen Theorien der Arbeiterbewegung und der Revolution sowie die deterministischen Auffassungen einer dialektischmaterialistischen Erkenntnis und eines historisch-materialistischen Geschichtsablaufs. Aber er bewahrte die Erfahrungen der politisch selbständig und solidarisch Handelnden und des revolutionären, politischen Neuanfangs sowie die Analysen von Imperialismus und Nationalismus auf. Themen, die in Arendts Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in Vita activa oder Vom tätigen Handeln und in ihrem Buch Über die Revolution einen unübersehbaren Platz einnehmen. So plädierte er 1936 in einem Brief an Arendt, kaum daß sie sich kennengelernt hatten, für den Kampf des jüdischen Volkes um Gleichberechtigung und Befreiung: „Es gibt genug Gelegenheit für die Juden, eine eigene Tat zu tun. Aber man muß für den Fortschritt kämpfen und sich nicht von der Reaktion mißbrauchen lassen. Haben nicht die Juden allen Grund, sich überall dem Faschismus todesmutig entgegenzuwerfen? Warum ist denn keiner auch nur auf die Idee gekommen, das Recht auf den Einsatz einer eigenen jüdischen Kampftruppe gegen den Faschismus in Spanien zu fordern? […] Ein Volk will sich gebären? So soll es die Freiheit umarmen. Die Juden haben ihren nationalen Befreiungskampf, schon aus geographischen Gründen, von vornherein im internationalen Maß zu führen. Dazu aber muß die Masse dieses herrlichen internationalen Sprengstoffes davor bewahrt werden, daß man sie im Nachttopf einer jüdischen Schnorrerinternationale in Scheiße verwandelt. Sie sollen stolz werden und nichts geschenkt wollen. Ihre Bourgeoisie korrumpiert sie. Vor allem aber in Palästina – da wollen sie gleich ein ganzes Land geschenkt haben. Das wird aber ebensowenig geschenkt wie ein Weib; es muß gewonnen sein.“13 Ganz ähnlich argumentierte Arendt in ihrer Kolumne „That means you“ in der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau 1941/42.

Arendt entwickelte den gesellschaftlichen jüdischen Paria zum politisch agierenden, zum rebellierenden Paria fort und trennte die zionistische Idee eines eigenständigen jüdischen Volkes von jedem übergeordneten Nationalismus. So werteten beide, Arendt und Blücher, mit der Ablehnung von Nationalismus und Geschichtsdeterminismus die Rolle des politischen Handelns und der Handelnden in einer Weise auf, die jenseits der bisherigen europäischen Tradition eines liberalen, schwachen und eines sozialistischen, abstrakten Klasseninteressen unterworfenen Handelns stand. Damit entwarfen sie, noch bevor sie in den USA die republikanische Tradition der „Founding Fathers“ kennenlernten, die ihrerseits zur italienischen Renaissance und weiter zur Römischen Republik zurückreichte, Elemente einer politischen Theorie, die dieser Tradition viel näher stand, als sie es vielleicht selbst ahnten.

Die Aufwertung des politischen Handelns bedeutete auch, die liberalen, sozialistischen und auch zionistischen Konzepte zur Lösung der Minderheitenfrage politisch abzulehnen. Noch in Paris erläuterte Arendt in einem Brief an Erich Cohn-Bendit ihre Ansichten zur politischen Lösung der Minderheitenfrage in Europa, die sich nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch verschärft hatte. Das Verhängnis der europäischen Politik, und zwar sowohl der Regierungen wie auch der jüdischen Vertretungen, bestand ihrer Meinung nach erstens darin, daß die Minderheitengesetzgebung das Problem nicht lösen konnte, weil sie die Minderheiten nicht als Nationalitäten, sondern nur als Religions- und kulturelle Gemeinschaften verstand. „Kultur ohne Politik, das heißt ohne Geschichte und nationalen Zusammenhang, wird zur dümmlichen Folklore und zur völkischen Barbarei“.14 Zweitens bestand dieses Verhängnis darin, daß „eine ganz neue europäische Menschenklasse“15 entstand, die Staatenlosen. Ohne Staatsbürgerschaft aber gab es weder die Aussichten auf eine Assimilation wie im achtzehnten Jahrhundert noch einen gesicherten Status überhaupt. Der Grund dafür war die fehlende Neuordnung Europas. „Die Assimilationschance des neunzehnten Jahrhunderts – eigentlich des ausgehenden achtzehnten – lag gerade in der durch die französische Revolution hervorgerufenen Neukonstituierung der Völker und in ihrer Entwicklung zu Nationen. Dieser Prozeß ist heute aber abgeschlossen. Es kann keiner mehr hinzukommen. Ja, es findet der umgekehrte Prozeß statt: der der Ausgliederung sehr großer Menschenmassen und ihre Depravierung zu Paria.“16

Daß diese Neuordnung nicht stattgefunden hat, liegt an der fehlenden Einsicht in die vorrangige Bedeutung, die die politische Freiheit und Gerechtigkeit und die daraus folgende notwendige Rechtssicherheit für die Politik haben. „Alle Minderheitenpolitik, nicht nur die jüdische, ist gescheitert an der bestehend bleibenden Staatssouveränität.“17 Die einzige Alternative dazu kann nur die Überwindung des europäischen Souveränitätsdenkens sein: „Unsere einzige Chance – aber auch die einzige Chance aller kleinen Völker – liegt in einem neuen föderalen System Europas. […] Die Räume, die wirklich ökonomisch und politisch zu halten sind, erweitern sich dauernd. Es kann sehr bald eine Zeit kommen, wo die Zugehörigkeit zum Territorium durch die Zugehörigkeit zu einem Nationenverband ersetzt wird, in welchem nur der Verband als gesamter Politik macht. Also europäische Politik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller Nationalitäten. Bei solch einer Gesamtregelung wäre die Gefahr der Folklore nicht mehr existent […] Das neunzehnte Jahrhundert hat uns den Zusammenfall von Staat und Nation beschert. Da die Juden überall staatstreu waren – Sie besinnen sich! –, mußten sie sich bemühen, ihre Nationalität loszuwerden, sie mußten sich assimilieren. Das zwanzigste Jahrhundert zeigt uns in den furchtbaren Bevölkerungstransferierungen und den diversen Massakern – von den Armeniern und den Ukrainepogromen angefangen – die letzten Konsequenzen dieses Nationalismus. Die englische Commonwealth zeigt – wenn auch oft und zumeist in verzerrter Form – Ansätze zu neuen Bildungen. Man hört nicht auf, Inder oder Kanadier zu sein, wenn man dem Britischen Weltreich angehört. […] Es scheint mir keine Utopie, auf die Möglichkeit eines Nationenverbandes mit europäischem Parlament zu hoffen.“18 Damit wird zugleich jedes bisheriges Bemühen um eine Minderheitenpolitik überflüssig, die immer noch von einem letztlich verhängnisvollen Verhältnis von Mehrheit und Minderheit ausgeht.

₺649,01

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
381 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783863936099
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi: