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Die Rückkehr der Verantwortung

Das Symposion entfaltete sich in dieser nun beschriebenen Logik. Es ging zunächst einmal darum, die lebensräumlichen und nachbarschaftlichen Ansätze, angefangen von den kreativen und überraschenden Einsichten Klaus Dörners über die theologische Perspektive der Caritas und den Impulsen des Community Organizing, ekklesiologisch fruchtbar zu machen. Neben Klaus Dörner konnten mit Leo Penta und Hans-Jürgen Marcus profilierte Denker diesen Raum eröffnen, der dann theologisch reflektiert werden konnte. Rainer Bucher wie auch Egbert Ballhorn ermöglichten diesen tiefen Gang in die Theologie glänzend: Dass sich Kirche in ihrem Außen findet, dass sie konziliar auf eine lebensräumliche Perspektive angelegt ist, das wird nun zum Maßstab auch der Kleinen Christlichen Gemeinschaften. Das Risiko besteht nämlich immer wieder, dass Kirche zurückkehrt in den sicheren Hafen geschlossener Räume – auch bei Kleinen Christlichen Gemeinschaften. Aber umgekehrt können Kleine Christliche Gemeinschaften auf eine auch in der deutschen Pastoraltheologie noch wenig beantwortete Frage antworten: was nämlich nach dem Ende traditioneller Kirchengestalt vorwärtsweisend auf uns zukommen könnte.

Die theologischen Überlegungen fanden ihren Widerhall in der Praxis: beeindruckende kleine Exposures in Sozialraumprojekten in Hildesheim ermöglichten es, zu „Bildern“ zu kommen: wie nämlich Kirche sich gestalten würde, würde die Lebensräumlichkeit ernst genommen.

Genau darum ging es in den abschließenden Schritten: Estela Padilla und Mark Lesage gaben uns Anteil an ihrer pastoralpraktischen wie pastoraltheologischen Reflexion: Was sich zum einen in vierzig Jahren auf den Philippinen zeigt, ist eine Inkulturation des Kircheseins in kirchlichen Basisgemeinschaften, die überraschend tief eingewurzelt werden kann in die Kulturanthropologie des einzigen Landes Asiens, in dem die Katholiken seit Jahrhunderten die Volkskultur prägen. Gleichzeitig machten Padilla und Lesage auch deutlich, dass ein Prozess lokaler Kirchenentwicklung eine partizipative Kultur des Kircheseins voraussetzt und freisetzt: Kleine Christliche Gemeinschaften als Option zukünftiger Pastoral sind nur dann zukunftsträchtig, wenn das ganze Volk Gottes auch hier in Deutschland, am jeweiligen Ort, in einen geistlich-visionären Prozess mit einbezogen wird.

Wie sehr wir damit am Anfang stehen, das machte Bernhard Spielberg deutlich: Es reicht nicht, pastorale Südfrüchte zu importieren – es geht darum, hier mit Geduld und Wohlwollen das Experiment zu wagen und geistliche Unterscheidungsprozesse des Volkes Gottes zu ermöglichen.

Wir stehen am Anfang. Das ist wahr. Aber immer mehr mehren sich die Zeichen, dass tatsächlich eine Weise des Kircheseins in unsere postmoderne Welt findet, die sich natürlich unterscheidet von ihren weltkirchlichen Geschwistern: dass es um eine Kirchwerdung vor Ort geht, dass es um einen geistlichen und visionären Prozess geht, der möglichst viele Menschen mithören, mitdenken und teilhaben lässt, dass es um eine Kirche geht, die ihr Umfeld ernst nimmt, von ihm lernt und ihm dient, und dass Kirchesein dann aus einer Gemeinschaft lebt, die sich aus der Gegenwart Christi nährt. Wo diese Faktoren ernst genommen werden, werden die entstehenden gemeindlichen Gestalten in Europa und in Deutschland in der Tat der Kirche ganz eigene Gesichtszüge einprägen.

1 Vgl. H. Müller / R. Feiter (Hg.), Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof, Ostfildern 2009.

2 Vgl. U. F. Schmälzle (Hg.), Menschen, die sich halten – Netze, die sie tragen. Analysen zu Projekten der Caritas im lokalen Lebensraum, Münster 22009.

3 Vor allem K. Dörner, Leben und Sterben wo ich hingehöre.

4 Vgl. H. J. Pottmeier, Die konziliare Vision einer neuen Kirchengestalt, in: C. Hennecke (Hg.), Kleine Christliche Gemeinschaften verstehen, Würzburg 2009, 31–46.

5 Vgl. C. Hennecke, Hören, in Prisma.

6 Vgl. M. Lätzel / C. Hennecke, Kein Mangel – nirgends, demnächst in Geist und Leben; C. Hennecke, Mind the gap, in Pastoralblatt.

Teil I:

Klaus Dörner

Kirche im Sozialraum?
Überlegungen zur Bedeutung und Chance sozialraumorientierter Gemeinschaft

„Die Rückkehr der Verantwortung“ – dieser Titel unserer Gesamtveranstaltung ist groß, bedeutungsschwer, ja, pathetisch. Für meine Disziplin, die Medizin, macht mich dieser Titel geradezu neidisch. Denn hier registrieren wir eher das Gegenteil, den Rückzug der Verantwortung aus der Medizin, keineswegs nur in Deutschland, sondern eher als international beklagte Bewegung, die sich heute schon in der Forschungsrichtung der „medical deresponsibilization“ materialisiert hat. Ich kenne keinen Mediziner, der sich jetzt schon trauen würde, eine Veranstaltung mit diesem Titel zu überschreiben.

Es könnte also durchaus sein, dass die Kirche hier schon weiter ist als die Medizin. Natürlich ist das kein Zufall. Auch der Heilige Geist weht ja nur bei Gelegenheit, also anlassbezogen. Unser Titel nimmt also Bezug auf die Strukturkrise der Kirche, also auf die Massenaustritte, den Priestermangel, die Schließung oder Fusion von Kirchengemeinden, den Rückzug auf die Pastoral mit mehreren Pfarreien, sodass die einzelnen Christen „ihre“ Kirchengemeinde verlieren.

Es wäre aber ziemlich trostlos, wenn diese unvermeidliche, äußere Antwort der Kirchenverwaltungen die einzige Problemlösung sei; denn diese würde eine Art Todesspirale der Kirchengemeinden einläuten.

Nun gibt es aber seit einiger Zeit eine Gegenbewegung von unten, eine Rückbesinnung auf Kernbereiche dessen, was wir Kirchengemeinde zu nennen gewohnt sind. Darum soll es heute gehen, um das, wofür es auch schon ein Kürzel gibt, KCG, also um die „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“, im evangelischen Raum u. a. als „Hauskreise“ geläufig. Was das ist, kann man bei einer so jungen Bewegung noch nicht genau sagen, sie ist zum Glück noch nicht standardisiert. Für mein Verständnis am hilfreichsten ist die Beschreibung von Christian Hennecke, wonach Kirche-Sein einmal aus den Menschen besteht, die an einem Ort, in einer Nachbarschaft von Gott gerufen sind, weshalb der von dem Rabbi-Lehrer Levinas inspirierte Philosoph Bernhard Waldenfels den Menschen als das antwortende Wesen bestimmt. Zum anderen lebt diese kirchliche Gemeinschaft aus dem Wort Gottes, also der Gegenwart Gottes. Zum Dritten weiß Kirche sich immer gesamt an dem Ort, wo sie ist, was zugleich ihr soziales Handeln ausmacht. Zum Vierten weiß die Kleine Christliche Gemeinschaft sich immer mit der ganzen Kirche verbunden. Was fünftens die so miteinander verbundenen Menschen tun, ist immer nach vorne offen, ohne wissen zu können, wohin es uns führt, auch dies zugleich ein zentrales anthropologisches Merkmal. Und sechstens geschieht dies immer in dem Bewusstsein, vor Gott und mit Gott auf einem Weg ins Unbekannte zu sein. So sind wir stets von Gott für den Anderen herausgefordert. Nun vollzieht sich diese Rückkehr der Verantwortung, diese zunehmende Bereitschaft und Richtungsumkehr, weniger von uns aus aktiv zu handeln, sondern wieder auf den Anruf Gottes zu antworten, keinesfalls zufällig zur selben Zeit, in der die Bürger in der Breite zum ersten Mal seit 150 Jahren beginnen, sich nicht mehr nur um ihre gesund-egoistischen Eigeninteressen zu kümmern, sondern auch – durchaus nachbarschaftlich – wieder mehr auf den Anruf fremder Anderer zu antworten, sich wieder mehr von der Not anderer Menschen herausfordern zu lassen. Das sind nun freilich keine beliebigen Anderen. Der Hilfebedarf psychisch Kranker oder Behinderter z. B. hätte das nie bewirken können, schon weil es sich hier um kleine Minderheiten handelt. Vielmehr handelt es sich hier um den Hilfebedarf der Alterspflegebedürftigen und Dementen, die sich in den letzten Jahrzehnten so vermehrt haben, dass nahezu alle Familien und damit alle Bürger fast zu jeder Zeit sich von ihrem Anruf herausgefordert sehen, auf ihren Hilfebedarf zu antworten und damit Verantwortung zurückkehren zu lassen, ob sie wollen oder nicht, und dies um so mehr, als heute fast alle Altershilfebedürftigen sich nicht mehr in der früher gut akzeptierten Sonderwelt der Pflegeheime entsorgen lassen, sondern in den eigenen vier Wänden integriert sein wollen. Daher habe ich meinem Reisebericht über meine zwölfjährige diesbezügliche Feldforschung den Titel gegeben: „Leben und sterben, wo ich hingehöre“ (Neumünster: Paranus 2007).

Denn während wir uns im 19. Jh. dank unserer Fortschrittsgläubigkeit noch die Illusion einer künftigen leidensfreien Gesellschaft versprochen haben, gehen wir heute realistisch davon aus, dass wir aufgrund der in der Größe völlig neuartigen Bevölkerungsgruppen der Alterspflegebedürftigen und Dementen, aber auch der körperlich chronisch Kranken, in eine Gesellschaft hineinwachsen mit dem größten Hilfebedarf der Menschheitsgeschichte – so groß, dass wir allein mit den Errungenschaften der Industriegesellschaft, also mit der Professionalisierung des Helfens und der fabrik-analogen Institutionalisierung der Hilfsbedürftigen, diesen Hilfebedarf nie und nimmer bewältigen könnten.

Gleichwohl darf man es durchaus ein Wunder nennen, dass die Bürger in der Breite zeitgleich mit der Einsicht in die Notwendigkeit auch schon mit der erwähnten Richtungsumkehr begonnen haben und anfangen, sich in den Dienst fremder Anderer zu stellen – ganz konträr zum gesunden Menschenverstand. Denn alle Messinstrumente beweisen ziemlich genau, dass wir seit 1980 zu so etwas wie einer neuen Bürgerhilfebewegung oder Nachbarschaftsbewegung aufgebrochen sind. Dafür nur ein paar Beispiele: Seit 1980 Zunahme der Freiwilligen ganz allgemein und der Nachbarschaftsvereine, Hospizbewegung, Systematisierung der Selbsthilfegruppenbewegung, Wiederbelebung der Bürgerstiftungen, die Bewegung des generationsübergreifenden Siedelns mit bisher 2000 Projekten, die Bewegung der Gastfamilien und etwa 1000 ambulante Wohnpflegegruppen zur Integration der Alterspflegebedürftigen, wenn schon nicht mehr in ihrer Wohnung, so doch sozialräumlich in ihr vertrautes Stadtviertel oder in ihre Dorfgemeinschaft oder auch in ihre Nachbarschaft. Ohne allzu große Übertreibung kann man sagen, dass es heute schon in fast jeder Dorfgemeinschaft und in fast jedem Stadtviertel eine Bürgerinitiative gibt, die sich dem hilfsbedürftigen Nachbarn verpflichtet weiß.

Sie antwortet somit auf den Anruf von Anderen, arbeitet also an der Rückkehr der Verantwortung in die Nachbarschaft und stellt damit die gesund-egoistischen Eigeninteressen in einem Maße zurück, wie das noch vor 40 Jahren undenkbar gewesen wäre; man wäre dafür ausgelacht worden.

Was das bedeutet, lässt sich am besten mit dem Rabbi-Lehrer Emmanuel Levinas ausdrücken, wonach die europäische Kultur sich zwei gleichermaßen folgenschweren Quellen verdankt: Einmal der Denktradition der Griechen (und damit der Aufklärung und des Humanismus), wo immer mein Ich das Aktionszentrum ist, und zu den anderen 50% der biblischen Denktradition, wo immer der Andere das Aktionszentrum ist, egal, ob der andere Mensch oder der ganz Andere, also Gott (vgl. sein Buch „Humanismus des anderen Menschen“, Hamburg: Meiner 1989). Dem entspricht übrigens anthropologisch Helmuth Plessners „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (Berlin: Göschen 1975); denn ihm zufolge lebt der Mensch zur Hälfte wie das Tier, nämlich aus seinem Zentrum heraus, „zentrisch“ und damit selbstbestimmt, zu den anderen 50% jedoch umgekehrt „exzentrisch“, also von außen, vom Anderen her angerufen und aufgefordert. Man kann also geradezu sagen, dass die „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ und die vielen lokalen demenz-integrierenden Bürgerinitiativen gleichsinnig ein und derselben größeren geistig-geistlichen Bewegung angehören, was sich auch in ihrem Handeln – nach vorn offen und in der Richtungsumkehr der Rückkehr der Verantwortung – konkretisiert.

Ich habe nun auf meinen etwa 1500 Reisen in den letzten zehn Jahren diese neo-engagierten Bürger immer wieder nach ihren, dem uns noch gewohnten Zeitgeist der Industriegesellschaft so sehr entgegengesetzten, Motiven gefragt. Mein bisheriges Ergebnis sieht so aus: Diese Bürger sind nicht etwa über Nacht moralischer geworden, was ja auch gar nicht gehen würde. Vielmehr antworten sie mit ihrem Engagement für Andere auf ganz reale und nur scheinbar weltliche Probleme. Einmal spüren sie, dass die gegenüber der Arbeitszeit zunehmende Freizeit (bei Rentnern zu 100%) nicht ausschließlich den eigenen Wünschen und der maximalen Vermehrung der Selbstbestimmung gewidmet werden kann; denn täte man dies, würde der Genuss an freier Zeit in Leiden an zu viel freier Zeit umschlagen, und man müsste vermehrt Psychotherapeuten aufsuchen, die dafür aber gar nicht geeignet sind. Daher haben sie zwischen der Arbeitszeit und der Freizeit als dritte Zeit die soziale Zeit im Dienst von Anderen wiederentdeckt. Weil denn jeder Bürger auf diese Weise zu „seiner Tagesdosis an Bedeutung für Andere“ kommt, kann er die dann noch übrige freie Zeit wieder von Herzen genießen. Sie folgen damit dem Gebet von Saint Exupéry: „Gott gebe den Menschen nicht das, was sie wünschen, sondern das, was sie brauchen.“ Vielleicht ist es ja so, dass solche Gebete in der reinen Leistungsorientierung der Industriegesellschaft keine Chance hatten, jedoch sehr wohl in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft, wo es den Unterschied zwischen „Wünschen“ und „Brauchen“ – zwischen dem Ich und dem Anderen als Aktionszentrum – wieder neu zu lernen gilt.

Das zweite reale Problem, worauf die engagierten Bürger antworten, betrifft den Umgang mit Lasten: Dass man unter dem Imperativ der Leistungssteigerung in der Industriegesellschaft vor allem durch Überlastung (körperlich wie psychosozial) krank werden konnte, gilt in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft auch und vielleicht sogar noch mehr für die Unterlastung – ebenfalls körperlich wie psychosozial und vielleicht geistig-geistlich. Daher spüren die Bürger, dass sie heute sich nicht mehr nur um Entlastung, sondern vielleicht noch mehr um Wiederbelastung zu kümmern haben, damit sie ausgelastet und damit gesund sein können. Für den Körper haben wir das schon einigermaßen gelernt, für die anderen Ebenen unseres Menschseins haben wir das noch zu lernen. Es ist also so, als ob die engagierten Bürger auch schon das „Bibelteilen“ übernommen hätten und dabei u. a. auf Paulus’ Gal. 6,2 gestoßen wären: „Einer trage des anderen Last“.

Das dritte Motiv ist noch prosaischer; denn hier geht es ums Geld: Während wir früher mit den wenigen idealistischen Ehrenamtlichen auskamen, ist der Gesamthilfebedarf dank der Alten heute so explodiert, dass wir heute auch den realistischen Durchschnittsbürger brauchen, um den Gesamthilfebedarf auf hinreichend viele Schultern verteilen zu können, was übrigens – laut Emnid – auch schon statistisch signifikant gelungen ist. Diese Durchschnittsbürger leiden aber daran, dass heute immer weniger Haushalte allein durch Erwerbsarbeit finanziert werden können. Also brauchen sie mindestens einen Zweitjob. Und das hat zur Folge, dass heute immer mehr an Anderen engagierte Bürger nicht nur ihre Tagesdosis an Zeit geben, sondern notfalls auch bereit sind, Geld dafür zu nehmen. Und das lässt sich heute am besten im Bereich der sozialen Dienstleistungen realisieren – auf immer mehr neuen, originellen, kreativen Wegen, auch denen der Fort- und Weiterbildung – dies durchaus auch schon von Kirchengemeinden aus.

In der kurzen Zeit von 30 Jahren, seit wir die Nachbarschaftsbewegung der engagierten Bürger registrieren, hat diese schon Erstaunliches erreicht.

Einmal ist die Heimquote, also die Prozentzahl derer, die sich ins Pflegeheim aufnehmen lassen, nicht etwa gestiegen, sondern von 25% auf 19% gesunken. Die erwähnten neuen dritten Wege scheinen sich also auch schon versorgungsrelevant auszuwirken.

Zum anderen ist erstaunlicherweise auch die Familie wieder tragfähiger geworden. Das zeigt sich nicht nur im Trend zur „multilokalen Mehrgenerationenfamilie“, den die Soziologen wahrnehmen. Vielmehr hat die Familie sich inzwischen auch vom Prinzip der Blutsverwandtschaft auf das Prinzip der Wahlverwandtschaft ausgeweitet. Allein die Bedeutung von Freundschaften ist heute wieder so groß wie zuletzt zur Zeit der Romantik, als Goethe diesen Begriff erfunden hat.

Eine geradezu revolutionäre Strukturveränderung ist der neuen Bürgerhilfebewegung jedoch mit der Wiederentdeckung des „dritten Sozialraums“ gelungen. Ich habe diesen so nur aus didaktischen Gründen genannt, weil er topographisch zwischen den Sozialräumen des Privaten und des Öffentlichen liegt, in der Industriegesellschaft fast bedeutungslos geworden war und eine Dorfgemeinschaft oder ein Stadtviertel (zwischen 5000 und 30 000 Einwohner) umfasst. Dieser dritte Sozialraum hat allein schon menschheitsgeschichtlich in allen Kulturen (mit Ausnahme der Epoche der Industrialisierung) eine zentrale Bedeutung gehabt; denn er hat mit Hilfe der Nachbarschaft nicht nur die Familien funktionsfähig erhalten, war nicht nur die Keimzelle aller demokratischen Selbstverwaltung; vielmehr war und ist er auch der „Wir-Raum“ und damit der einzige Sozialraum sowohl fürs Gemeinwohl als auch für sämtliche Formen der Integration / Inklusion, egal, ob es sich dabei um die Integration von Alterspflegebedürftigen und Dementen handelt, der psychisch Kranken oder Behinderten, der Migranten oder um die glaubwürdige Sendungsbereitschaft von Christen. Und da nun Bürger in der Regel nur in den Grenzen ihres dritten Sozialraums, ihres Stadtviertels oder ihrer Dorfgemeinde zum Engagement zu mobilisieren sind, ist dies auch der einzige Sozialraum, in dessen Grenzen die Kooperation von Bürgerhelfern und von Profihelfern zu organisieren ist, also das, was wir heute mit dem Bürger-Profi-Mix bezeichnen: „So viel Profis wie nötig und so viel Bürger wie nötig“, was inzwischen wohl auch für den kirchlichen Raum gilt.

All diese menschheitsgeschichtlichen Kostbarkeiten des dritten Sozialraums gelten nun auch in besonderer Weise – schon rein soziologisch – für die Kirchengemeinden; denn sie umfassten immer schon territorial einen solchen Sozialraum und eine solche Einwohnerzahl, zumal die Toleranzbreite so groß ist, dass sie sowohl die einzelne Pfarrgemeinde als auch den heutigen Pastoralraum umfasst. Natürlich waren die Kirchengemeinden in früheren Jahrhunderten immer auch Sozialzentren, schon mangels weltlicher Alternativen. Zumindest wurden hier Nachbarschaften vermittelt. Aber diejenigen, die heute wieder mit dem „Bibelteilen“ beginnen, die „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ explizit, aber die übrigen engagierten Bürger auch implizit, haben allen Anlass, sich staunend die Augen zu reiben; denn alle paar Seiten lesen sie in unterschiedlichen Sprachbildern und im Alten mehr noch als im Neuen Testament von der Botschaft, die man getrost das oberste biblische Gebot nennen kann, nämlich die unauflösliche Einheit von Gottesdienst und Menschendienst. Das leuchtet heute wieder ziemlich schnell ein, war aber in den letzten 160 Jahren weitgehend in Vergessenheit geraten, als nämlich die Kirchen selbst dieses ihr oberstes biblisches Gebot verraten haben, als sie, infiziert von der Industrialisierung, dem Segen der Arbeitsteiligkeit und der wissenschaftlichen Fortschrittsbegeisterung, den Menschendienst vom Gottesdienst trennten, indem sie möglichst systematisch die schwerer hilfsbedürftigen Menschen aus ihren Familien, Nachbarschaften und eben auch Kirchengemeinden herausrissen, um sie, die Leistungsminderwertigen und Störenden, zu selektieren, diagnostisch zu homogenisieren und – fabrik-analog – in immer größer und anonymer werdenden Institutionen zu konzentrieren, um allen Sand aus dem faszinierenden Getriebe der Industrialisierung herauszuhalten und um sie am Fortschritt der wissenschaftlichen Rationalität teilhaben zu lassen, was damals nur in Institutionen möglich erschien. War nun auf diesem Wege der Menschendienst ausgegrenzt, so konnte man nunmehr den Kirchengemeinden ihre scheinbare Kernaufgabe, nämlich Gottesdienst pur, vom immer lästigen Menschendienst amputiert und damit nun auch Gott sei Dank endlich störungsfrei, versprechen. Möglichst weit getrennt davon erfolgte die Machtergreifung der Kirchen in Gestalt der Trägerschaft der dadurch entstehenden Diakonie und Caritas für die großen Institutionen. Erst dort war jetzt auch die Professionalisierung und Spezialisierung des Helfens möglich, woraus sich das langfristige Versprechen der leidensfreien Gesellschaft ergab, allerdings nur dann, wenn die diakonischen Profis – nach dem Motto: stationär vor ambulant – Integration nicht etwa förderten, sondern geradezu zu verhindern bereit waren. Das langfristige Versprechen eines Paradieses auf Erden war so verführerisch und plausibel, dass auch jeder von uns es damals geglaubt und sich entsprechend ausgrenzend verhalten hätte. Auf der anderen Seite war die Aussicht auf die Entlastung vom Helfen für die Familien und die Nachbarschaften und die Hoffnung der Kirchengemeinden auf einen störungsfreien Gottesdienst nur noch für die Leistungshochwertigen und Wohlangepassten ebenfalls so verführerisch, dass die Verantwortlichen sich dies vielleicht zwei Mal, aber nicht drei Mal sagen ließen. Wir alle haben diese befreiende Entlastung gern genossen.

Natürlich hätte diese Politik der Kirchen spätestens im Ersten Weltkrieg als sündhaft und gottlos erkannt werden können, als nämlich die in den Institutionen ausgegrenzten Menschen in den Augen der Anderen so an Wert verloren hatten, dass alle Krieg führenden Nationen durch Nahrungsreduktion eine Übersterblichkeit dieser nutzlosen Esser beabsichtigten – ohne jeden Protest von Seiten der Kirchen oder auch der professionell Verantwortlichen. In Deutschland waren es 70 000 Opfer dieser ersten staatlich verordneten Mordaktion. Die Nazi-Psychiater konnten also mit ähnlichen Mordaktionen auf ein schon kulturell bewährtes Muster zurückgreifen. Und selbst wir Sozialpsychiater waren nicht sonderlich erschrocken, als das Ergebnis der euphorisch von uns gefeierten Psychiatriereform der 70er Jahre feststand, dass nämlich in dieser Reformzeit die Zahl der ausgrenzenden Heimplätze sich nicht verringert, sondern ständig vermehrt hat, obwohl zeitgleich die Schweden und Norweger bewiesen haben, dass Integration in die Nachbarschaften der Stadtviertel und Dorfgemeinschaften auch ohne Behindertenheime möglich ist. Offensichtlich hat es erst die Altenexplosion bewirkt, dass wir Bürger in der Breite uns bewusst machen konnten, dass nicht nur kleine Minderheiten, sondern jeder von uns alterspflegebedürftig oder dement werden kann, um den Richtungswechsel der Verantwortungsrückkehr einzuläuten.

Das antibiblische Auseinanderreißen der Einheit von Gottes- und Menschendienst dürfte aber zunächst den Bedeutungsniedergang der Kirchengemeinde – im Unterschied zur wachsenden Wertschätzung von Diakonie und Caritas – mitbewirkt haben, bis hin zu den Massenaustritten der letzten Jahrzehnte. Ebenso bitter wie plastisch hat der selbst behinderte Behindertenpastor Ulrich Bach („Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar“, Neukirchen 2006) den beklagenswerten Zustand der Kirchengemeinden mit ihrer Abtrennung des Menschendienstes vom Gottesdienst „Apartheidsgemeinde“ genannt. Und dennoch ist es nicht zu leugnen, dass die Chancen für einen Bedeutungszuwachs der Kirchengemeinden wieder zunehmen. Das hat sowohl mit der Wiederbelebung und dem Bedeutungszuwachs des dritten Sozialraums zu tun als auch mit dem Wandel aus der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft, schon weil eines ihrer Geschäftsprinzipien lautet: „Die Menschen nicht mehr zur Hilfe, sondern die Hilfe zu den Menschen bringen“. Die Chancen für die Kirchengemeinde sind aber nur unter der Bedingung gut, dass sie sich bereitfindet, sich zu resozialisieren und auch zu rebiblifizieren. Es bedarf also der Wiederherstellung der unauflöslichen Einheit von Gottes- und Menschendienst. Da aber, wie wir schon gesehen haben, Hilfe heute nicht mehr wie früher großflächig-strategisch zu organisieren ist, was der Weg von Diakonie und Caritas war, sondern nur noch kleinflächig-sozialräumlich, hat die Kirchengemeinde jetzt gewissermaßen einen Wettbewerbsvorsprung gegenüber Diakonie bzw. Caritas. Es bedarf also der Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement – und zwar auf dem kleinflächigen Territorium der Kirchengemeinde, schon weil nur so der alternativlose Bürger-Profi-Mix realisiert werden kann.

Hier richten sich unsere Hoffnungen zu Recht natürlich vor allem auf die „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“, egal, ob sie sich formell so organisiert haben oder ob es sich faktisch im Handeln ergibt. Und in der Tat finde ich bei meiner Feldforschung – allerdings erst seit ein paar Jahren – immer mehr Beispiele dafür, dass am Anderen engagierte Initiativen vor allem von kleinen Gemeinschaften im Rahmen von Kirchengemeinden ausgehen – sowohl in Dörfern als auch in Stadtvierteln. Als ob die Leute in der Bibel das zauberhafte Versprechen Jesu beherzigt hätten, dass er mitten unter uns sei, wenn zwei oder drei von uns versammelt sind, was ja im Umkehrschluss nur bedeuten kann, dass ein Alleingang ebenso ungünstig ist wie ein Sendungsbewusstsein, wenn zu viele von uns beteiligt sind. So gibt es immer mehr kirchengemeindliche Initiativen, wo zunächst mal nur der Gemeindesaal, falls noch vorhanden, als regelmäßiger Treffpunkt für alle kommunal-sozialräumlichen Initiatoren zur Verfügung gestellt wird.

Zum anderen kann auch eine Kirche zugleich Bürgerhaus sein, wie etwa die Heiligkreuzkirche in Berlin-Kreuzberg.

Zum Dritten entwickeln sich zunehmend kirchliche Besuchsdienste in Nachbarschaftsvereinen weiter (z.B. Schwandorf oder Delmenhorst).

Viertens kann man auch einen Mittagstisch einrichten, gezielt für die, die zu jung oder zu alt zum Arbeiten sind, ein wirksames Mittel, um Generations-Integration zu fördern (z.B. Mindelheim bei Memmingen).

Und schließlich fünftens und vor allem ergeben sich immer mehr ambulante Wohnpflegegruppen, die ja besonders versorgungsrelevant sind, aus kirchengemeindlichen Initiativen (z. B. Gelsenkirchen-Bulmke, Ettenheim, Bielefeld), sei es allein oder in Kooperation mit einem Wohnungsbauunternehmen oder mit einem Heim, das an der eigenen Zukunftsfähigkeit interessiert ist.

Das alles gelingt aber nur, wenn es nicht bloße Sozialtechnologie ist, sondern wenn ich mich vom Anderen angerufen sehe und auf diesen Anruf zu antworten bereit bin. Denken Sie nur an die vielen Dörfer in den grenznahen Regionen der deutschen Ostländer, die eins nach dem anderen dem Untergang geweiht sind. Wenn hier der Gedanke durchbricht, dass die „allzu vielen Alten“ nicht eine Last sind, sondern ein Geschenk, vielleicht die einzige Überlebenschance, ließen sich die meisten Dörfer – und ihre Kirchengemeinden – retten, selbst wenn in den meisten Dörfern die Resignation so fortgeschritten ist, dass ein solcher Gedanke nur noch von außen kommen kann. Dann – so ist meine Erfahrung – gewinnt der Gedanke bald Raum, dass natürlich die älteren Mitbewohner in der Vertrautheit ihrer Heimat leben und sterben wollen. Und erst wenn man soweit ist, fallen einem auch die ganz zweckrationalen Vorteile eines solchen Strebens ein, etwa so: Wenn ich in meinem Dorf ein Haus für die Zwecke einer ambulanten Wohnpflegegruppe umrüste (und eine Wohngruppe mit 6 bis 8 Plätzen deckt die Pflegevollversorgung für 2000 Einwohner ab), dann schaffe ich erst einmal attraktive Arbeitsplätze für etliche Fachpflegepersonen. Zum anderen schaffe ich noch mehr Arbeitsplätze für Arbeitslose, selbst ohne Ausbildung, die dort als „hauswirtschaftliche“ Präsenzkräfte ihren Verdienst finden. Zum Dritten tue ich etwas gegen den Leerstand im Dorf. Viertens erfülle ich damit den letzten und vornehmsten Wunsch meiner älteren Mitbürger. Fünftens leiste ich einen Beitrag zum Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft. Und sechstens habe ich damit ein zukunftsfähiges Altenpflegesystem geschaffen, was heute durchaus als Standortvorteil für gewerbliche Investoren gilt.

Schließen möchte ich mit dem Vorschlag des Philosophen Jürgen Habermas aus seiner Friedenspreisrede, dass wir nämlich schon längst in der „postsäkularen Gesellschaft“ angekommen seien. Habermas, der sich stets mit Vorliebe als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, begründet das damit, dass die Säkularisierung (und damit die Industrialisierung) uns zwar viele kostbare Geschenke gebracht habe; aber sie habe ihr Kernversprechen nicht halten können, dass nämlich jeder Mensch, jedes Individuum, genug Lebenssinn allein aus sich selbst schöpfen könne. Dies habe sich als Irrtum herausgestellt; denn wir bedürfen hierfür nach wie vor auch des Anderen – des anderen Menschen oder des ganz Anderen, also Gottes, oder in der Regel einer Mischung aus beidem.

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