Kitabı oku: «einfach unverschämt zuversichtlich», sayfa 4
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Eigentlich
Dorothee Dieterich
Eigentlich wollte ich über Dich schreiben,
von der sie sagen,
dass sie die Planeten in Bewegung hält,
die Bäume blühen lässt
und die Kinder lachen.
Sie sagen,
dass Du im Glitzern der Sonne auf dem Wasser
genauso wohnst
wie in den Tränen
meiner wütenden Kinder,
die ich zu Unrecht zurechtwies.
Eigentlich wollte ich über Dich schreiben.
Dass es mir gefällt,
dass Du Dir allzu konkrete Bilder
verbittest – ich lasse mich auch nicht gerne festschreiben
und wie solltest Du
einfacher einzuordnen sein
als ich?
Eigentlich wollte ich davon schreiben,
dass ich denen glauben möchte,
die sagen,
Du seiest mitten unter uns,
erfahrbar für jede,
in der Kraft, die zwischen uns wirkt – wenn wir sie lassen.
Davon, dass es so eine Sache ist
mit der Sehnsucht der Menschen
nach Gebeten und
Riten und
Feiern und
Verbundenheit
und Dir,
bild- und namenlos. |40|
Davon,
dass es uns doch gelingen sollte,
von Dir so zu reden,
dass Dich die Namen nicht einfangen,
aber auch nicht fernhalten.
Von meiner Sehnsucht nach etwas,
das trägt
oder zieht
oder schiebt
und davon, wie gut es ist,
dass Du in und zwischen uns
und nicht nur im Himmel wohnst.
Von meinem Verlangen,
dass da etwas sei,
das leise dazwischentritt,
wenn der Lärm
unsere Ohren verschliesst,
und singt,
wenn alles verstummt.
Nun aber merke ich:
ich fülle Seite um Seite
und denke immer nur nach
über mich:
Über meinen Zweifel,
der immer grösser war
als mein Glaube,
der mich zog
und schob
durch die Bilder hindurch,
die sie von Dir machten,
und mich
nicht stehenbleiben lässt
bei den neuen Bildern. |41|
Über die Scham,
die in mir aufsteigt,
wenn andere Neugier
und Lust am Denken
mit Glauben verwechseln.
Über mein unbegründetes Vertrauen,
dass mir mein Teil
zufallen wird
und die Gewissheit,
dass es gut ist zu leben.
Über meine Furcht,
es könnte mir etwas
zu nahe treten –
auch Dich
halte ich lieber
in sicherer Distanz.
Während ich von mir schreibe,
denke ich immerzu nach
über Dich
und hoffe,
dass ich Dich erkenne,
im Glitzern der Sonne auf dem Wasser
und in den wütenden Tränen
meiner Kinder.
Erschienen in FAMA 1/1998: «Gott oh Gott»
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Gott
Li Hangartner
Unausweichlich ist die Tatsache, dass es das Wort gibt, ihr können wir nicht entfliehen. Es gibt dieses Wort, auch wenn es nichts über das Gemeinte auszusagen vermag. Und solange es dieses Wort gibt, haben wir keine Ruhe. Es ruft Bilder hervor, weil es unmöglich ist, Gott jenseits von Bildern zu denken. Doch kein Bild sagt etwas aus über Gott, Gottesbilder sind Bilder von Menschen, und die Frage, wer Gott ist, verstrickt uns unweigerlich in die Frage: Und wer sind wir Menschen?
Gott lebt in bleibender Unerkennbarkeit
über allem menschlichen Verstehen.
Doch das Innere des Menschen
ist ein Spiegel von Gott,
den wir beständig reinigen müssen.6
Gregor von Nazianz
Trüb und beschlagen, lässt mein Spiegel nicht einmal den Schimmer eines Ganzen erahnen. Auch noch so häufiges Putzen bringt nichts: Blind gewordnes Wort blickt mich an. Ich drehe mich um.
Nicht Hinwegsehen
Ich glaube nicht an Gott, den Allmächtigen, nicht an den unendlich Gütigen. In diesen Bildern liegt die Versuchung, über das, was unheil ist, hinwegzusehen. Sie nehmen die leidvollen Erfahrungen von Gewalt und Ungerechtigkeit nicht ernst, erkennen nicht, dass Folterung, Hunger und Gleichgültigkeit die Menschheit und Gott vernichten. Doch welche Aussage über Gott hält stand «in der Gegenwart verbrennender Kinder» (Elie Wiesel)?
Ich glaube, dass Gott ist. «Gott ist die dringlichste Aufforderung, Wirklichkeit wahrzunehmen» (Dorothee Sölle), die Augen nicht zu verschliessen vor der bitteren Realität, vor Gewalt und Leiden, vor Opfern und Tätern. Auch im Moment des Hasses steckt ein Moment der Wahrheit. Gott als Aufforderung, die Wirklichkeit wahrzunehmen, heisst den bedrängenden Fragen nach Gut und Bös standzuhalten, beides ist den Menschen zurechenbar. Kein Gott nimmt mir die Last der Frage nach den Finsternissen dieser Welt. Im Gegenteil, Gott macht mir das Leben schwer. |43|
Gott ist der Trümmerhaufen, der hinter uns zum Himmel wächst (Walter Benjamin) und den Blick verstellt aufs Paradies, der uns zwingt hinzuschauen, zwingt zu verharren, damit wir den Schmerz spüren, den Unrecht, Zerstörung, Gleichgültigkeit bewirken. Zu sagen: Gott ist, heisst, sich nicht einverstanden erklären mit dem, was ist, heisst klagen, die bittere Wahrheit beklagen, protestieren, rufen und ausrufen, zürnen, schreien. Heisst weinen. Lässt nicht der Prophet Jeremia Gott sagen: «Ich werde heimlich weinen»? Heisst das nicht, dass Gott dort ist, wo wir weinen?
Ausgezogen aus dem Paradies
Die jüdische Mystik kennt die Vorstellung, dass Gott aus dem Paradies ausgezogen ist und ihre Kinder im Exil begleitet. Gott hält es allein nicht aus im Paradies, hat sich gleichsam selbst vertrieben und begleitet uns auf unserem Weg, irrt und leidet mit uns. Gott ist meine Unruhe und meine Verzweiflung, meine Sehnsucht und mein Hoffen. Gott ist ein anderer Name für das schmerzliche Bewusstsein von dem, was nicht ist, die ständige und quälende Erinnerung an das, was sein könnte und doch nicht sein wird. Gott beruhigt nicht und tröstet nicht, fügt nicht zusammen, was zertrennt ist, und heilt nicht, was verwundet ist.
Gott ist unsere Macht und unsere Lust, die Welt zu schaffen, jeden Tag neu zu schaffen. Täglich wird Gott inkarniert in unzähligen Engagements, nehmen Frauen und Männer ihre Macht wahr, damit Gott und Menschen nicht dem Tod ausgeliefert werden, sondern ins Leben auferstehen können. Gott ist die Zusage, dass Umkehr möglich ist, menschenmöglich. Und Gott ist die inständige Bitte, dass wir nochmals von vorne anfangen können, beschrieben von der Dichterin Hilde Domin:
Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss neu gespielt werden
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
…
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder7
Hilde Domin
Erschienen in FAMA 1/1998: «Gott oh Gott»
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… aber ich glaube daran
Doris Strahm
Ich glaube nicht an Gott. Ich suche nach den Spuren der Gegenwart dessen, was die Menschen seit alters her Gott genannt haben, in meiner, in unserer Lebenswelt. Ich suche nach den Spuren dessen, was der Sinnlosigkeit, dem Schmerz des menschlichen Daseins und dem abgrundtief Bösen, das Menschen einander antun, standhält. Deshalb bin ich Theologin geworden.
Die Sprache, die einmal aufschwang, Dich zu loben
Zieht sich zusammen, singt nicht mehr
In unserem Essigmund
…
Und dennoch wirst Du fordern, dass wir Dich
Beweisen unaufhörlich, so wie wir sind
In diesem armen Gewande, mit diesen glanzlosen Augen
Mit diesen Händen, die nicht mehr zu bilden verstehen
Mit diesem Herzen ohne Trost und Traum.8
Marie Luise Kaschnitz
Ich glaube nicht an Gott. Doch manchmal ahne ich etwas vom göttlichen Geheimnis des Lebens, das mich umhüllt, in dem ich lebe und bin. Manchmal erfahre ich in der Begegnung mit einem Du eine Ahnung von jenem grösseren Du, das nicht dingfest gemacht und erkannt werden kann, aber in jeder echten Begegnung sich für Augenblicke enthüllt.
Man findet Gott nicht, wenn man in der Welt bleibt, man findet Gott nicht, wenn man aus der Welt geht. Wer mit dem ganzen Wesen zu seinem Du ausgeht und alles Weltwesen ihm zuträgt, findet ihn, den man nicht suchen kann. Gewiss ist Gott «das ganz Andere»; aber er ist auch das ganz Selbe: das ganz Gegenwärtige. … Wenn du das Leben der Dinge und der Bedingtheit ergründest, kommst du an das Unauflösbare, wenn du das Leben der Dinge und der Bedingtheit bestreitest, gerätst du vor das Nichts, wenn du das Leben heiligst, begegnest du dem lebendigen Gott. 9
Martin Buber
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Ich glaube nicht an Gott. Aber ich sammle Texte, Geschichten, in denen der Atem des Göttlichen mich anweht: Geschichten aus der Bibel, Geschichten von heute und Gedichte, die wie Zaubersprüche manchmal Wunden heilen, Verborgenes ans Licht holen, von der Schönheit und von der Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens erzählen – und die Sehnsucht lebendig erhalten nach einer Welt, in der das Wunder trotz allem täglich geschehen kann.
Unsere Kissen sind nass
von den Tränen
verstörter Träume.
Aber wieder steigt
aus unseren leeren
hilflosen Händen
die Taube auf. 10
Hilde Domin
Ich glaube nicht an Gott. Aber ich glaube an «das von Gott in uns», wie die Quäker sagen, an den göttlichen Funken in uns, der uns fähig macht zur Liebe, zur Zärtlichkeit, zur Freude, zur Hingabe, zum Staunen, zur Vergebung, zur Anteilnahme, zum Mitleiden.
Was wir noch können
Was ist, was sein wird, womöglich sein wird, und dass wir solche Dinge wahrnehmen und beklagen, Grausamkeiten noch wahrnehmen und beklagen, Ungerechtigkeiten noch wahrnehmen und beklagen, während es doch denkbar wäre, eine Zeit denkbar wäre, in der wir umherkriechen empfindungslos, in der uns nichts mehr angeht, unter die Haut geht, neben uns schreit ein Sterbender und wir wenden den Kopf nicht, neben uns wird ein Kind gegen eine Mauer geschleudert und wir erschrecken nicht. Demgegenüber scheint auf jeder noch so bescheidenen Anteilnahme, jedem noch so billigen Erbarmen der Schimmer eines goldenen Zeitalters zu liegen. Wir können noch sehen, wir können noch hören, wir können noch leiden, noch lieben.11
Marie Luise Kaschnitz
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Ich glaube nicht an Gott. Aber ich erfahre so etwas wie eine göttliche Kraft in Momenten der Liebe und höchsten Lust, wenn die Zeit stillsteht und ich ganz ausser mir verloren bin in Dir; ich spüre sie, die göttliche Lebenskraft, im Rausch des Tanzes, wenn der Rhythmus des Lebens meinen Körper durchpulst, in den Klängen der Musik, deren Melodie in mir widerhallt; ich höre sie manchmal, diese Kraft, in der Stille, die zu mir spricht; ich sehe sie in der Unendlichkeit des Meeres, in der Weite des Himmels …
Die Seele der Dinge
lässt mich ahnen
die Eigenheiten
unendlicher Welten
Beklommen
such ich das Antlitz
eines jeden Dinges
und finde in jedem
ein Mysterium
Geheimnisse reden zu mir
eine lebendige Sprache
Ich höre das Herz des Himmels
pochen
in meinem Herzen.12
Rose Ausländer
Ich glaube nicht an Gott. Und doch ist da manchmal der verzweifelte Wunsch, es gäbe etwas, eine transzendente Macht, die alles zum Guten lenkt, uns nicht allein lässt in all dem Elend und Tod, eine Macht, die die Krankheit der Freundin wegzaubert, die Wunden der Opfer heilt, die Tränen der Trauernden abwischt, der Gewalt und dem Hass zwischen den Menschen ein Ende setzt.
Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen schwarzgoldene Augen haben, sie werden die Schönheit sehen, sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter die Wasser gehen, sie werden ihre Schwielen und ihre Nöte vergessen. Ein Tag wird |47| kommen, sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sie gemeint haben. Es wird eine grössere Freiheit sein, sie wird über die Massen sein, sie wird für ein ganzes Leben sein …
Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen rotgoldene Augen und siderische Stimmen haben, an dem ihre Hände begabt sein werden für die Liebe, und die Poesie ihres Geschlechts wird wiedererschaffen sein … und ihre Hände werden begabt sein für die Güte, sie werden nach den höchsten aller Güter mit ihren schuldlosen Händen greifen, denn sie sollen nicht ewig, denn es sollen die Menschen nicht ewig, sie werden nicht ewig warten müssen …13
Ingeborg Bachmann
Ich glaube nicht an Gott. Aber ich glaube daran, dass «Gott» geschieht, wann immer wir das Leben und unser Menschsein heiligen, wann immer wir uns mit Achtung einander zuwenden, uns berühren lassen von der Not und den Bedürfnissen der anderen und voll Zorn das Unrecht, das ihnen angetan wird, beim Namen nennen. Ich glaube daran, dass «Gott» geschieht, wenn wir uns gegen die Normativität des Faktischen die Vision einer anderen Welt, von Schalom und einem «Leben in Fülle» für alle Menschen bewahren und sie fragmentarisch Gestalt werden lassen in unserem Leben. Deshalb bin ich bis heute Theologin geblieben.
Ich habe keinen Respekt
Vor dem Wort Gott
Habe grossen Respekt
Vor dem Wort
Das mich erschuf
Damit ich Gott helfe
die Welt zu erschaffen14
Rose Ausländer
Erschienen in FAMA 1/1998: «Gott oh Gott»
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Gott Gewicht geben
Magdalene L. Frettlöh
Kann Gott Gewichtsprobleme haben? Die Frage mag lächerlich und unsinnig erscheinen, wenn wir Gewicht in Gramm, Kilo und Zentner aufwiegen, bei der Suche nach dem Idealgewicht den Body-Mass-Index (BMI) anlegen und die Teilnahme an einer Weight-Watchers-Gruppe empfehlen. Von göttlichen Essstörungen zu sprechen, gar Gott wegen krankhaften Unter- oder Übergewichts ins Spital zu überweisen – das scheint doch eine menschlich-allzumenschliche Vorstellung von Gott zu sein und mag für einige bereits die Grenze zur Blasphemie überschreiten.
Anders aber verhält es sich, wenn wir Gewicht nicht nur als physikalische, sondern ebenso als soziale Kategorie auffassen. Wer in diesem Sinn Gewicht hat, ist wichtig und bedeutend, angesehen und geachtet, wird geehrt und hochgeschätzt. Eine Person von Gewicht hat Würde und verdient Respekt. Sie hat Autorität und Macht, hinterlässt Eindruck und nimmt Einfluss. Ein Leichtgewicht zu sein, ist dann gerade nicht erstrebenswert.
Gottes Gewichtsprobleme
Hat Gewicht aber mit Beziehung und Kommunikation, mit sozialer Anerkennung und Beachtung zu tun, dann kann auch Gott sehr wohl Gewichtsprobleme bekommen, wenn nämlich Menschen Gottes Namen entehren und missbrauchen, Gottes Gebote ignorieren, wenn ihnen Gott gleichgültig geworden ist oder wenn sie Gott vor den Karren eigener Machtinteressen spannen. Und gerade dort, wo Gott selbstverständlich bedeutungsschwer und hochgeachtet zu sein scheint, nämlich in Theologie und Kirche, gibt es spezifische Gefahren der Geringschätzung Gottes. So lässt sich auch theologischer- und kirchlicherseits eine Art Trend zu Light-Produkten erkennen, die einen bedenkenlosen und ungefährlichen Genuss ohne Risiken und Nebenwirkungen verheissen: Gott ist lieb, aber nicht gewalttätig; Gott ist sanft, aber nicht zornig; Gott ist verständnisvoll und nicht eifersüchtig; Gott ist nahe und entzieht sich nicht; Gott hat Mitleid, aber ist nicht länger allmächtig; Gott segnet, doch Fluchen liegt Gott fern; Gott lässt zu, aber mischt sich nicht ein, mit einem Wort: Gott stört nicht.
Gerade der weithin vollzogene Abschied von einem allmächtigen Gott (anstatt das Allmachtsprädikat neu zu interpretieren), der Verzicht auf die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts (anstatt dieses als Forum der Zurechtbringung aller Geschöpfe und der Selbstrechtfertigung Gottes zu erwarten), die Schwierigkeiten, befreiend von Sünde und Sühne zu reden, der Verlust des Respekts vor der Heiligkeit Gottes – um nur einige Motive zu nennen – gehören zu jenem Trend, der nur vermeintlich ein |49| glaubwürdigeres Christentum verspricht,15 faktisch aber Gott das Ihr gebührende Gewicht nimmt.
Gewichtsprobleme sind Beziehungsprobleme
Auch bei Gott sind Gewichtsprobleme also Beziehungsprobleme, geht es doch bei der Frage der angemessenen Gewichtung Gottes nicht um Gott an und für sich, sondern um Gott in Beziehung, Gott in Kommunikation, dogmatisch gesprochen: Gott im Bunde mit den Menschen. Was wir traditionell Eigenschaften Gottes nennen, sind darum viel eher Beziehungsweisen Gottes, ja Massstäbe (hebr. middot) des Beziehungsverhaltens Gottes, die zeigen, wer Gott für uns ist, wie Gott uns entgegenkommt, begegnet und begleitet, und was Gott von uns erwartet. Denn Gottes Verbündelung mit uns zielt auf Gegenseitigkeit, auf unsere Bestätigung und Betätigung dieser PartnerInnenschaft. Gott sucht BündnispartnerInnen auf Augenhöhe. Und nur deshalb kann Gott auch Gewichtsprobleme bekommen. Eine Gottheit, die sich selbst genügen will, braucht keine Gewichtsschwankungen zu fürchten.
Kavod – Schwere
Unter den biblischen Beziehungsweisen Gottes gibt es nun eine, der buchstäblich besonderes Gewicht zukommt: Im Hebräischen heisst sie kavod. Die Grundbedeutung von kavod ist «Schwere», «Gewicht». Die intensive Form des entsprechenden Verbs (kabbed) begegnet etwa im Elterngebot. «Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!» heisst: «Du sollst den (alt gewordenen) Eltern Gewicht geben, ihnen Respekt zollen, ihnen das Lebensnotwendige zukommen lassen, ihre Würde nicht mindern.» Das Gegenteil von kabbed ist qallel, eines der hebräischen Worte für «fluchen». Fluchen heisst: Jemanden leicht nehmen und leicht machen, wie Luft behandeln und übersehen, geringschätzen und verachten.
Was ist nun das Besondere an dem Attribut kavod? Kavod ist mehr als ein göttlicher Wesenszug unter anderen. Kavod macht geradezu die Göttlichkeit Gottes aus, indem im kavod die Vielzahl der göttlichen Beziehungsweisen in Erscheinung tritt, indem Gott sich im kavod der Welt mitteilt und in der Welt sinnenfällig ankommt. Kavod ist der imponierende Wesenszug Gottes, das, was Gott in der Welt buchstäblich ansehnlich macht, so dass Gott nicht übersehen werden kann. Umgangssprachlich heisst Gottes kavod: Gott ist eine Wucht.
Wir können kavod auch Gottes Ausstrahlung nennen. Glorie und Glanz gehören zu den Konnotationen von kavod und zeigen sich vor allem auch im Begriff doxa, der im Neuen Testament die Bedeutungsvielfalt von kavod aufnimmt.
Beeindruckt Gott im kavod mit der Offenbarung all Ihrer Beziehungsweisen die Menschen, so soll dies auch wieder geschöpflichen Ausdruck, einen irdischen Reflex |50| finden: Gottes kavod, Gottes doxa spiegelt sich in der Schöpfung wider: «Die Himmel erzählen den kavod Gottes» (Ps 19,2a). In der Doxologie, dem Gotteslob, kehrt die doxa zu Gott zurück. Hat Gott (sich) uns imponiert, können wir uns exponieren.
Als Inbegriff des sich selbst mitteileden, sich selbst ausgebenden Wesens Gottes zielt kavod auf wechselseitige Anerkennung von Gott und Mensch: Jesaja lässt Gott zu Israel sagen, dass Er es zu Seinem kavod geschaffen habe (Jes 43,7). Und in Sacharja 2,9 verheisst Gott: «Ich will zum kavod in ihrer Mitte werden.» Und mit den Worten von Psalm 3,4 bekennen die BeterInnen: «Mein kavod bist Du und erhebst mein Haupt.» Gott und Mensch, Schöpferin und Geschöpf machen sich gegenseitig Ehre und geben einander Gewicht.
Wider die VerHerrlichung des göttlichen kavod
In den meisten unserer Bibelübersetzungen werden kavod und doxa für gewöhnlich mit «Herrlichkeit» verdeutscht, was in der Dogmatik nicht nur übernommen, sondern auch begrüsst wird. So hält etwa Karl Barth die etymologische Beziehung von «Herrlichkeit» und «Herr» im Deutschen geradezu für einen Glücksfall, sieht er es doch als Aufgabe der Lehre von Gottes Vollkommenheiten an zu bezeugen, dass Gott «nicht nur der Herr, sondern als solcher herrlich und andererseits: dass jegliche Herrlichkeit die Herrlichkeit Gottes des Herrn ist».16 Die gewichtige Rolle, die kavod und doxa im Ensemble der göttlichen Beziehungsweisen spielen und die Karl Barth wie kaum ein anderer Dogmatiker wahrgenommen hat, indem er etwa auch die Schönheit und Anmut Gottes als Momente des kavod entdeckt, werden durch die vermeintlich «biblische Einheit des Herrn mit seiner Herrlichkeit»17 androzentrisch identifiziert und infiziert. Doch weder bei kavod noch bei doxa besteht irgendeine Notwendigkeit, bei der Übersetzung auf Herrschaftskategorien zurückzugreifen. «Herrlichkeit» ist mitnichten eine zwingende oder auch nur naheliegende Verdeutschung von kavod und doxa. Es sind andere als sprachliche Gründe, denen sich diese dominante Übersetzungstradition verdankt.
Nun steht ja Karl Barth kaum im Verdacht, von Gott zu gering gedacht zu haben. Doch diese (fast) ausschliessliche Verdeutschung der semantisch geradezu überbestimmten Worte kavod und doxa mit «Herrlichkeit» stützt ein männliches Gottesbild, bringt die Gott-Mensch-Beziehung ebenso einseitig als Herrschaftsverhältnis zur Sprache und gibt zudem der Übersetzung des Eigennamens des biblischen Gottes, des Tetragramms J-H-W-H, mit «Herr» neue Nahrung. Doch «Herr» ist nicht der Eigenname, sondern nur einer der Rufnamen Gottes, die an die Stelle des unaussprechlichen Eigennamens treten.
Wo das, was in spezifischer Weise Gottes Göttlichkeit in Ihrer beeindruckenden Erscheinung ausmacht, herrschaftsterminologisch und androzentrisch allein als |51| «Herrlichkeit» in den Blick kommt, begegnet eine der traditionell am meisten verbreiteten Herabminderungen, gleichsam eine Halbierung Gottes: Sind die Menschen in der Differenz von männlich und weiblich zum Bild Gottes geschaffen (Gen 1,26), dann kann die göttliche Beziehungsweise, die Gottes Unübersehbarkeit in der Welt bewirkt, nicht androzentrisch geprägt sein und einer vorrangig männlichen Gottesvorstellung das Wort reden.