Kitabı oku: «FANTASTISCHE WIRKLICHKEITEN»

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Jörg Weigand (Hrsg.): Fantastische Wirklichkeiten. Die Bilderwelten des Rainer Schorm

AndroSF 141

Jörg Weigand (Hrsg.)

FANTASTISCHE WIRKLICHKEITEN

Die Bilderwelten des Rainer Schorm

AndroSF 141

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: September 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild & Illustrationen: Rainer Schorm

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Jörg Weigand

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Hardcoverausgabe: 978 3 95765 250 8

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 847 0

Hinweis

Dieses E-Book weist gegenüber dem gedruckten Hardcover einen eingeschränkten Inhalt auf. Es erschien uns nicht sinnvoll, die mehr als 200 Farbabbildungen des Grafikkünstlers Rainer Schorm in einem E-Book zu präsentieren, da anzunehmen ist, dass zum einen die meisten E-Book-Reader nach wie vor keine Farbabbildungen eben farbig anzeigen können und zum anderen die Displayformate die Bilder nicht wirklich zur Geltung kommen lassen. Wer das umfang- und abwechslungsreiche Grafikportfolio Rainer Schorms wirklich und in vollem Umfang goutieren möchte, sollte sich das gedruckte Hardcover gönnen.

Wir bitten im Übrigen um Verständnis für unsere Entscheidung.

Michael Haitel

p.machinery

Jörg Weigand: Fantastische Wirklichkeiten. Die Bilderwelten des Rainer Schorm

Die Realität und die Welten der Fantastik sind nur für denjenigen Widersprüchlichkeiten oder Gegensätze, der das scharfe Schwarz-Weiß liebt und sich weigert, die zahllosen Grauschattierungen zu erkennen, die die Wirklichkeit zeigt und die dem Künstler ebenso zahllose Möglichkeiten anbietet, diese Grautöne in seine Bilder zu übernehmen, beziehungsweise mit ihnen zu spielen. Was im Übrigen ebenso für das Hell-Dunkel-Spiel der Farben gilt. Freilich bedarf es dazu eines besonderen Blicks hinter, unter und über die Dinge zu sehen, die unsere Realität ausmachen.

Der am 9. August 1965 in Wehr (nahe der Grenze zur Schweiz) geborene Rainer Schorm ist einer jener Fantasiejongleure, die über »den Blick« verfügen, der die Wiedergabe jener Quasi-Unwirklichkeiten ermöglicht, die uns der Riss in der Eierschale der Realität anbietet. Diesem Künstler in die von ihm geschaffenen Welten zu folgen, ist pures Abenteuer der Sinne, vor allem natürlich der Augen. Aber auch: der eigenen Imaginationskraft, wenn der Betrachter in diesen Bildern spazieren geht und von sich aus fast unwillkürlich das weiter ausgestaltet, was ihm präsentiert wird.

Von der Ausbildung her zunächst einmal grafisch geprägt, bedient sich Rainer Schorm heute der digitalen Medien, wobei er keineswegs das traditionell Gelernte hintanstellt oder gar vernachlässigt, sondern als handwerkliche Basis nutzt und so das Künstlerische bereichert.

Die Welten der spekulativen Visionen, wie sie die Science-Fiction bietet, sind dabei ebenso Teil der schormschen Bilderwelt wie die Schreckensszenarien und Absonderlichkeiten der Fantastik oder – wie zumindest ein Teil davon heute genannt wird – der »Weird-Fiction«. Schorm beherrscht das Eine wie das Andere – den »sense of wonder« der SF ebenso wie die Verstörtheiten in den Erzählungen eines Lovecraft oder Blackwood. Dabei verblüfft er und verstört gleichermaßen durch seine enorme Formenvielfalt und seine manchmal das Bild quasi sprengende Farbenpracht.

Bemerkenswert ist gerade bei seinen SF-Visionen, dass sie oft genug auf einem Fundament ruhen, auf dem nur wenige Illustratoren und Coverkünstler aufbauen können: Er verfügt auf ein fundiertes, durch lange Jahre des Selbststudiums erworbenes naturwissenschaftlich-kosmologisches Fachwissen, das seine Fantasie beflügelt und dadurch seine Darstellungsmöglichkeiten erheblich erweitert. Die Überzeugungskraft seiner fiktiven kosmischen Dokumentationen ist grandios; die Augen des Betrachters werden geradezu magisch in das jeweilige Bild hineingezogen.

Es ist daher nicht überraschend, dass gerade Authentizität für diesen Künstler ein wichtiges Gut ist, geradezu ein Markenzeichen. Er ist ein Träumer, gewiss, aber einer, der die Bodenhaftung nicht verloren hat. Die Realitätsbezogenheit erschließt sich dem Betrachter beim näheren, beim genauen Hinsehen. Es gibt aber auch Bilder, deren Wirklichkeitsnähe an ihrer fantastischen Natur zweifeln lassen, bis ein oder mehrere Details die ersten Hinweise auf die wahre Natur des Dargestellten ermöglichen.

Dies wird besonders deutlich bei der Auseinandersetzung des Künstlers Rainer Schorm mit dem Unheimlichen, dem Schauderhaften und Schrecklichen. Was eigentlich nicht darstellbar ist, verwandelt sich bei Schorm zu einem unmittelbar erfahrbaren Grauen; bis hin zum Widerwillen und zur Flucht zurück in die Realität.

Im Gesamtspiel der ungezählten darstellenden Künstler in Deutschland wie auch weltweit hat Rainer Schorm in der Science-Fiction wie in der Weird-Fiction/Fantastik seine eigenen Ausdrucksformen gefunden; sie richten sich nicht an Schablonen aus, sondern orientieren sich detailfreudig am jeweiligen zu beschreibenden Objekt und am ausdrücklichen Willen des Künstlers, die in ihm ruhenden Visionen unverfälscht weiterzugeben.

Mögen die ersten darstellenden Versuche noch eher suchend gewesen sein, inzwischen fällt es dem kundigen Betrachter leicht, ein Bild als von Schorm geschaffen zu identifizieren. Schorm gehört keiner Schule an; er ist er – Rainer Schorm ist Rainer Schorm.

Die hervorstechende Qualität seiner Bilder besteht darin, dass sie in all ihrer Besonderheit von einer subtilen Eindringlichkeit sind, der es gelingt, dass sich der Betrachter nicht dagegen wehren kann, hineingezogen zu werden in dieses besondere Universum.

Aufgabe dieser Edition ist es, Rainer Schorm mit seinen Bilderwelten einem breiteren Publikum vorzustellen.

Dankenswerterweise hat sich eine große Anzahl Autoren bereit erklärt, zu (selbst) ausgesuchten Bildern des Künstlers Erzählungen zu schreiben, die sich vom Dargestellten direkt inspirieren lassen. So ist neben zwei Bildergalerien (Science-Fiction und Weird-Fiction/Fantastik) zusätzlich eine Anthologie besonderer Art entstanden.

Am Ende des Buches erwartet den Betrachter und Leser noch ein Interview mit Rainer Schorm, in dem auf seine künstlerischen Intentionen und Darstellungstechniken eingegangen wird. Dies im Zusammenhang mit einer von Schorm beigesteuerten Erzählung zu einer seiner Bilder, dem Cover zu Band eins der »Phantastischen Miniaturen« (herausgegeben von Thomas Le Blanc, Phantastische Bibliothek in Wetzlar) mag Interessenten noch etwas weiter hinein in den schormschen künstlerischen Kosmos führen:

In einen Kosmos fantastischer Wirklichkeiten.

Science-Fiction

»Alles, was ein Mensch sich heute vorstellen kann,

werden andere Menschen einst verwirklichen.«

Jules Verne


Der Flug der HEPHAISTOS

Rüdiger Schäfer: Sonnenkuss

Es ging viel zu schnell, als dass Kalia oder sie selbst hätten reagieren können. Der Schutzschirm flackerte nicht einmal; zumindest war mit bloßem Auge nichts wahrzunehmen. Als der schrille Alarmton durch die Steuerzentrale der ARWEN gellte, war eigentlich schon alles vorbei.

Ein heftiger Schlag erschütterte das Raumschiff. Leonie musste sich an ihrer Konsole festhalten. In den technischen Eingeweiden des umgebauten Frachters rumorte es.

»Treffer in der nordöstlichen Bugregion«, meldete Kalia. Ihre Stimme klang angenehm unaufgeregt, obwohl sie wissen musste, dass die ohnehin schon kritische Lage soeben aussichtslos geworden war. »Es hat eine der Energiebojen erwischt.«

Leonie starrte auf den Hauptbildschirm. Er zeigte ein diffus wirkendes Wabern in Gelb und Orange. Weißbraune Schlieren zogen sich wie ein Geflecht aus Venen und Arterien über die Oberfläche des Sterns, auf den die ARWEN mit stetig wachsender Geschwindigkeit zustürzte.

»Kommen die Drohnen damit klar?«, erkundigte sie sich ohne große Hoffnung.

Kalia warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Meinst du das ernst?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. »Die paar Wartungseinheiten, die noch funktionieren, sind mit dem Antrieb beschäftigt. Alles andere muss warten.«

Leonie schüttelte den Kopf und justierte die Außenkameras. Sekunden später kam die beschädigte Boje in den Sichtbereich. Die Außenhaut der rund fünfzig Meter langen Speichereinheit war aufgerissen. Dichter Qualm quoll aus der Öffnung und wurde durch den Sonnenwind sofort weggerissen. Da draußen herrschten Temperaturen von mehreren Tausend Grad Celsius. Dort, wo der Sonnenfinger die ARWEN getroffen hatte, befand sich ein heller, in Weiß und Gelb glühender Fleck, der langsam größer wurde.

»Das sieht nicht gut aus«, stieß Leonie hervor.

»Was hast du erwartet? Der Schirm ist unten und lässt sich nicht mehr aktivieren. In ein paar Minuten ist auch die Ortung tot, weil uns die Hitze die Antennen wegschmilzt.«

Leonie erwiderte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie hatten alles riskiert und alles verloren.

Als sie vor drei Monaten von der Erde aufgebrochen waren, war sie voller Hoffnung gewesen. Ein offizieller Auftrag der Prospektorenbehörde – davon hätte sie nicht einmal zu träumen gewagt. Die Experten der Regierung waren gut. Sie schickten ihre Scouts nicht einfach auf gut Glück los. Die Koordinaten, die sie wenige Tage später erhalten hatte, waren somit praktisch unbezahlbar gewesen; ein satter Gewinn durch die zu erwartenden Prämien quasi garantiert.

Nun spielte das alles keine Rolle mehr. Die ARWEN würde nicht mehr zur Erde zurückkehren. Irgendwann würde man nachforschen, das Schiff auf die Vermisstenliste setzen, vielleicht sogar einen Satelliten losschicken, um es zu suchen. Vergeblich. Leonie hatte nicht einmal mehr einen Notruf absetzen können. Niemand würde jemals erfahren, was ihr und Kalia zugestoßen war.

»Wir haben noch einen Versuch«, rissen sie die Worte ihrer Partnerin aus den düsteren Grübeleien. »Wenn ich sämtliche Restenergie in die verbliebenen Schubdüsen lenke, und das Schicksal ausnahmsweise mal auf unserer Seite ist, könnte es gerade so reichen.«

Leonie hob matt den Arm, um ihr Einverständnis zu signalisieren. Sie sah zu Kalia hinüber. Trotz ihrer fast sechzig Jahre war sie noch immer eine schöne Frau. Die Zeit war gnädig zu ihr gewesen. Ihre langen, schwarzen Haare umrahmten ein Gesicht mit großen ausdrucksstarken Augen, einer schmalen Nase und vollen, sanft geschwungenen Lippen. Sie sah immer aus, als würde sie lächeln. Das hatte Leonie von Anfang an an ihr geliebt.

Ja, sie hatte Glück gehabt. Mit dem Leben. Und mit Kalia.

Die ARWEN schüttelte sich. Das Schiff war vor über hundert Jahren auf einer der Mondwerften im heimischen Sonnensystem gefertigt worden und seitdem wohl mindestens zwei Dutzend Male modifiziert worden. Das einzige, was noch aus Originalbauteilen bestand, waren der Antrieb und die Meilerbänke.

Zuletzt hatten Kalia und Leonie die Laboreinrichtungen erneuert. Eine nicht unerhebliche Investition, die sie einen Großteil ihrer Rücklagen gekostet hatte. Seit ein paar Jahren erwartete die Behörde wie selbstverständlich, dass die Scouts die eingesammelten Erzproben auf dem Rückflug zur Erde eigenständig untersuchten, klassifizierten und einen detaillierten wissenschaftlichen Bericht anfertigten. Je vollständiger und verlässlicher dieser war, desto größer die Wahrscheinlichkeit, weitere Aufträge zu ergattern. Somit war den freien Prospektoren nichts weiter übrig geblieben, als ihre Schiffe entsprechend aufzurüsten.

Auf dem Hauptbildschirm, der fast die komplette Stirnwand der Steuerzentrale einnahm, konnte man die Oberfläche des namenlosen Sterns inzwischen gut erkennen. Eine träge wogende Masse aus Ocker und Braun, aus der sich in unregelmäßigen Abständen Glutfinger wie Tentakel in die Höhe reckten, als wollte ein riesiger Polyp nach der ARWEN greifen, um sie zu sich in ein feuriges Grab zu ziehen.

Die Sonne mit der fantasielosen Katalogbezeichnung DX-21-C-32 stand im Sternbild des Krebses und war gerade einmal fünfzehn Lichtjahre von der Erde entfernt. Sie bildete das Zentrum eines gewaltigen Gürtels aus Asteroiden, der aus mehreren Hunderttausend Einzelobjekten bestand, die größten davon Zwergplaneten mit Durchmessern zwischen vierhundert und sechshundert Kilometern.

Ihr Kurs hatte die ARWEN während der vergangenen Tage zu mehreren dieser Miniwelten geführt, und die Schürfdrohnen hatten mehr als genug Proben gesammelt. Die Lagerräume im Hangarbereich waren bis zur Decke gefüllt. Leonie hegte keine Zweifel daran, dass sich das System als äußerst ergiebig erweisen würde. In Gedanken hatte sie sich schon ausgemalt, was sie mit dem verdienten Geld anfangen würden. Leistungsstärkere Neutralisatoren für den Antigrav. Einen Getränkespender für die Messe, der Kaffee produzierte, den man wirklich trinken konnte. Einen neuen Rechenkern für den Bordcomputer … und einen mindestens vierwöchigen Urlaub für sie und Kalia in einem der Ferienressorts auf Io, Titan oder Enceladus.

Doch dann hatten sie einen Fehler gemacht. Vielleicht war es auch eine technische Panne gewesen. Für eine wirkliche Ursachenforschung war keine Zeit geblieben, und so wie es aussah, kamen sie aus dieser Sache auch nicht mehr heraus, um den Grund für die minimale Kursabweichung später zu ermitteln.

»Okay«, holte sie ihre Partnerin wieder in die raue Wirklichkeit zurück. »Falls du an irgendwelche Götter glaubst – jetzt wäre der Augenblick, sie um Unterstützung anzuflehen …«

Kalia nahm mehrere Schaltungen an ihrer Konsole vor. Es gab einen lauten Knall; dann brüllten die Meilerbänke im Innern der ARWEN wie verwundete Tiere auf. Das ganze Schiff begann zu vibrieren, als sich sämtliche noch verfügbare Energie in die Plasmaemitter der Schubdüsen ergoss. Die Beleuchtung flackerte. Leonie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Machte sich der Ausfall des Schutzschirms bereits bis in die Zentrale bemerkbar, oder waren das lediglich ihre überreizten Nerven?

Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. So kam es Leonie zumindest vor. Mit allem, was sie noch hatte, stemmte sich die ARWEN gegen den mörderischen Sog von DX-21-C-32. Ultrahocherhitztes Plasma wurde innerhalb der Magnetfelder der Zündkammern angeregt und über einen Ionentunnel mit hohem Druck aus den Schubdüsen gepresst. Die Nadel der Beschleunigungsanzeige rückte unaufhaltsam in den roten Gefahrenbereich vor – und stieg weiter. Das Vibrieren wurde zu einem zornigen Schütteln.

Leonie fixierte das Display des Kurscomputers. Wenn der Schub ausreichte, musste sich die Flugbahn der ARWEN verändern, doch das tat sie nicht. Während um sie herum das Dröhnen der überlasteten Maschinen immer lauter und das Rütteln und Stoßen des beanspruchten Schiffsrumpfs immer heftiger wurde, registrierte der Kursrechner nicht die geringste Abweichung von der bisherigen Flugkurve.

Es funktionierte nicht!

Irgendwann gab auch Kalia auf. Mit wenigen Handgriffen schaltete sie den Antrieb und die kurz vor dem Kollaps stehende Energieerzeugung ab. Der Lärm verebbte. Das Schiff beruhigte sich.

»Es hat nicht gereicht«, sagte Kalia. »Der Ausfall einer der Bojen war zu viel.« Sie klang nicht ängstlich. Nicht einmal resigniert. Nur irgendwie … müde.

Leonie nickte, obwohl sie sicher war, dass sie es auch mit vier Bojen nicht geschafft hätten. Sie waren dem Stern schon zu nahe. Der sogenannte Punkt ohne Wiederkehr war längst überschritten.

»Wie lange?«, fragte Leonie.

»Ein paar Minuten noch«, gab Kalia Antwort. »Ich könnte es noch einmal mit dem Schirm versuchen. Wenn ich im Maschinenraum die Verbindungen zu den Verteilern kappe und stattdessen …«

»Halt die Klappe und komm her«, unterbrach sie Leonie.

Kalia runzelte für einen Moment die Stirn, dann lächelte sie und erhob sich aus ihrem Sessel. Sie ging zu ihr herüber und blieb vor ihr stehen.

Keine von beiden sagte etwas. Dazu kannten sie sich viel zu lang. Es bedurfte längst keiner Worte mehr, um den Gefühlen, die sie füreinander empfanden, Ausdruck zu verleihen.

Liebe ist nicht das, was man erwartet zu bekommen, sondern das, was man bereit ist zu geben.

Wer hatte das noch gesagt? Leonie erinnerte sich nicht mehr. Der Hauptbildschirm schien zu glühen. Er zeigte die körnige, dunkelrote Struktur von DX-21-C-32. Wie weit war die Oberfläche der Sonne, dieser tobende Ozean aus heißem, leuchtendem Gas, noch entfernt? Ein Blick auf die Instrumente ihrer Konsole hätte es ihr verraten, doch um nichts in der Welt hätte sie die letzten Minuten ihres Lebens mit solchen Banalitäten verschwendet.

Kalia bewegte die Lippen und formte stumm jene drei Worte, die oft so banal und abgenutzt klangen, aber alles bedeuteten, wenn man sie zu jemandem sprach, der sie wirklich verstand.

Als die Hitze kam, küssten sie sich. Es war ein langer und leidenschaftlicher Kuss. Die Welt um sie herum hörte auf zu existieren. Es gab nichts mehr außer Kalia und Leonie.

Und dann gab es auch sie nicht mehr.


Erstkontakt

Thomas Le Blanc: Der Irrtum

Wenn wir unseren Status rekapitulierten, dann hatten wir uns auf den Begriff geeinigt, dass wir komfortabel gestrandet waren. Unser Raumschiff war zwar nicht mehr fähig, zu starten und vom Planeten abzuheben, geschweige denn im All zu navigieren. Der Antigravgenerator war in Tausende von Einzelteilen zerborsten und zerschmolzen, die damit verbundenen Hyperraumfühler waren ausgebrannt und die meisten Steuerungselemente nur noch als Schlackebrocken vorhanden. Und da uns der Hyperraum versperrt war, konnten wir auch keinen Funkspruch absetzen, der einen von Menschen besiedelten Planeten in weniger als einem Jahrtausend erreichte – falls wir überhaupt feststellen konnten, in welchem Hinterhof der Galaxis wir uns befanden. Aber wir waren im Gleitflug sanft auf diesem Planeten gelandet, keiner war verletzt worden, unser Raumschiff lag nur geringfügig an der Hülle beschädigt auf der Seite, und wir hatten den überwiegenden Teil unserer Überlebenstechnik weiterhin zur Verfügung.

So konnten wir rasch mithilfe von umgebauten Frachtcontainern einen kleinen Außenposten neben dem Raumschiff errichten, der fortan als Kern einer Siedlung diente. Außerdem richteten wir uns in einer nahe gelegenen, sehr geräumigen natürlichen Höhle ein, wobei wir bei der Funktionalität von Raumaufteilung und Möblierung gleich darauf achteten, dass eine gewisse Wohnlichkeit entstand. Wir wussten, dass wir vermutlich auf immer hier bleiben würden, also sollte keinem Wohnraum der Charakter eines Provisoriums anhaften. Natürlich zogen es einige von uns vor, weiterhin die Annehmlichkeiten der Kabinen im Innern des Raumschiffs zu nutzen. Solange die Energieversorgung intakt blieb, war das eine bequeme Option.

Die nach der Strandung sofort eingeleiteten biologischen Untersuchungen des Planeten hatten äußerst erfreuliche Daten geliefert. Die Luft war atembar und ohne nachweisbare schädliche Komponenten, Luftdruck und Schwere und Temperatur waren nahe dem Erdstandard, Wasser war in großer Fülle vorhanden, sogar ergiebiges Quellwasser ohne den menschlichen Organismus schädigende Beistoffe. Unweit der Siedlung befand sich ein See mit einem breiten Sandstrand; vielleicht war es sogar ein Süßwassermeer, da wir das gegenseitige Ufer nicht ausmachen konnten. Die Pflanzenwelt war etwas karg, obwohl der Boden sowohl nährstoffreich als auch voller Organismen war, Insekten, Würmer und kleine Reptilien gab es reichlich, auch Vögel und ein paar mausgroße Nagetierarten. Im See lebten Fische, durch das klare Wasser hindurch sahen wir jedoch größere Raubfische kreisen, sodass wir es zunächst nicht für angezeigt hielten, im See schwimmen zu gehen. Größere Landtiere hatten wir noch nicht gesichtet; vielleicht war die Evolution auf diesem Planeten noch nicht so weit. Zivilisatorische Anzeichen hatten wir auch keine entdeckt, also machten wir keinen intelligenten Ureinwohnern ihren Planeten streitig.

Dennoch schützten wir unsere Behausungen vor möglichen und insbesondere plötzlichen Gefahren, vor Unwettern, Staubwinden, Insektenschwärmen sowie Angriffen von Fressfeinden. Wir errichteten Messstationen und stellten bewaffnete Beobachtungsposten auf, und wir ließen mit allerlei Sensoren ausgerüstete Drohnen in wachsenden konzentrischen Kreisen die Umgebung unserer Siedlung abfliegen. Außerdem begannen wir Samen aus unserem Biobestand aufzutauen; jedes Raumschiff, das auf Erkundung im All unterwegs war, verfügte über einen strategischen Notvorrat, um Kartoffeln, Getreide, einige Gemüsesorten und schnellwachsende Obststräucher in fremder Erde anbauen zu können.

Ein dem Planeten innewohnendes physikalisches Phänomen beeinträchtigte uns jedoch beträchtlich: Die Atmosphäre war stark elektrisch aufgeladen, und die Feldstärke variierte in noch nicht ergründeten Rhythmen. Zunächst war das lediglich unangenehm, unsere Körper luden sich langsam, aber stetig auf und entluden sich dann unregelmäßig bei Berührungen. Dem konnten wir mit eigens gefertigten Metallgürteln und Ableitungen über auf dem Boden schleifende Metallstreifen begegnen. Lästig zwar, aber hinnehmbar. Doch unsere Biologen warnten vor mittelfristigen extremen Auswirkungen auf die Biochemie in unseren Körpern: Letztlich könnte sich diese starke Elektrizität auf den Zusammenhalt der körpereigenen Moleküle auswirken und damit existenziell werden. Abschirmen ließe sich die atmosphärische Elektrizität nur, wenn wir in unseren Raumschiffen hinter Metallkäfigen blieben – aber das hieße, auf ewig gefangen zu sein.

Deshalb entwickelten wir mehrere Meter hohe Kondensatoren, die die elektrische Energie aus der Atmosphäre aufnahmen und in die Raumschiffakkumulatoren weiterleiteten und dort speicherten. Wir konstruierten sie bis zu zwölf Meter hoch, aufrecht stehend, mit Radialplatten, dünnbäuchig, versehen mit ausladenden waagerechten Armen. Ganz oben wurde eine spitz zulaufende Kugel montiert, die sich ausrichten ließ, um – sobald der Kondensator voll aufgeladen war – die Energie in die Außenkontakte unserer Raumschiffakkumulatoren wieder zu entladen. Das geschah per Dichtstrahl, der sich laut donnernd und rotblitzend manifestierte.

Wir stellten die Geräte zunächst um unsere Siedlung herum auf, dann radial in weiterer Entfernung und platzierten einen dieser hohen Masten auch im See. Um der Lärmentwicklung zu begegnen – die Einschläge der Dichtstrahlen hallten durch das gesamte Raumschiff –, positionierten wir einen Zwischenempfänger auf einem Hügel in einiger Entfernung, von wo aus die Energie dann per Starkstromkabel in die Raumschiffakkumulatoren abfloss.

Damit hatten wir sogar eine praktische Energiequelle gewonnen, die das Leben im Raumschiff absicherte. Einer unserer Ingenieure arbeitete auch eine Fernsteuerung der Strahlen aus, denn die Kugel am Kopf der Akkumulatoren ließ sich drehen, und damit besaßen wir eine recht wirkungsvolle Energiewaffe. Wir planten zwar aktuell nicht, sie zu irgendetwas einzusetzen, aber es beruhigte uns ungemein, so etwas zu besitzen.

Das System funktionierte so gut, dass wir wieder ohne die unpraktischen Gürtel herumlaufen konnten, dass einige Dauermigränen verschwanden und dass die Gefahr für unsere Körperchemie gebannt war.

Doch nach einigen Wochen störungsfreiem Betrieb zeigten sich plötzlich unerklärliche Ausfallerscheinungen, zwar immer nur kurzzeitig für ein paar Sekunden, aber doch messbar. Immer mal wieder überlud sich einer der Kondensatoren: Kurz bevor er seine elektrische Ladung per Dichtstrahl abgeben sollte, also kurz vor Erreichen seiner Maximalladung nahm er eine zusätzliche Ladungsspitze auf, die wie aus dem Nichts gekommen war. Unsere Techniker kalibrierten die Kondensatoren neu, auf dass sie ihre Ladung schon deutlich unterhalb der Maximalkapazität abgaben. Wenn dann eine solche zusätzliche Ladungsspitze eintraf, folgte daraus jedenfalls keine Überladung.

Das System schien sich zunächst wieder zu beruhigen, allerdings zeigten die Ladungsspitzen jetzt atmosphärische Begleiterscheinungen, die sich mit bloßem Auge beobachten ließen. Es waren kleinere und größere Staubwirbel, die sich in der Nähe der Kondensatoren aufbauten, dann sich in Richtung der Kondensatoren bewegten, sie umschlossen und sich schlagartig wieder auflösten. Offenbar erhöhte sich die wandernde Feldstärke lokal aus unbekannter Ursache, elektrisierte dabei Staub- und Sandteilchen und plusterte sie wie zu einer Windhose auf. Diese Phänomene sahen fast lustig aus, wie spielerische und örtlich begrenzte Wetterphänomene.

Kein Grund zur Besorgnis, hieß es von unseren Physikern. Bis sich plötzlich das neue Phänomen in seiner Größe und seiner Aktivität änderte.

Eine unserer zufällig am Ufer des Sees befindlichen Patrouillen beobachtete, wie aus dem See sich eine gewaltige elektrische Ladung erhob, unzählige Wassertropfen mit sich führte und zu einer Gestalt in der Größe eines der Kondensatoren anwuchs. Die Gestalt hatte nicht nur eine ähnliche Körperlichkeit, sondern am Kopf auch eine Kugel und sah damit wie ein gigantisches lebendes Wesen aus. Da es völlig aus Wassertropfen bestand, hatte es eine silbrige Farbe und war durchscheinend. Es bewegte sich zunächst auf der Wasseroberfläche etwas hin und her wie ein schwankender oder unentschlossener Tänzer, waberte in der Luft, ließ die Wassertropfen um sich tosen und steuerte dann zielstrebig auf den nächstplatzierten, am Ufer stehenden Kondensator zu. Schon als die Gestalt dem Kondensator nahe kam, überlud der sich kräftig und schoss zwei Dichtstrahlen ungezielt in die Luft, die sich an ihren Enden auch zu zwei davondriftenden Energiekugeln manifestierten. Dann umhüllte die Gestalt den Kondensator, drang von allen Seiten in ihn ein, und in einer gewaltigen Energieentladung zerbarsten beide gemeinsam, das Metall wurde in große Einzelstücke zerlegt, die zu Boden fielen, und die Wassertropfen stoben explosionsartig auseinander und verdampften. Zurück blieben eine Kondensatorruine als schwarzverbrannter Torso sowie glimmende Metallbrocken auf dem Boden in einem begrenzten Umkreis.

Danach war wieder alles ruhig. Und es blieb ruhig auf Dauer.

Was geschehen war, darüber konnten wir nur spekulieren. Allerdings waren wir uns einig darin, dass – da es ein singuläres Ereignis blieb – wir es nicht mit einem natürlichen Phänomen zu tun gehabt hatten. Wir hatten erkennbar die Aktion eines intelligenten Wesens beobachtet.

Zunächst hatten kleinere Wesen, die aus reiner Energie bestanden, Kontakt mit einem unserer Kondensatoren aufzunehmen versucht. Sie hatten sich als Energiewirbel manifestiert und waren in unsere Kondensatoren eingedrungen – ob das neugierige Kommunikationsversuche oder Attacken gewesen waren, konnten wir natürlich nicht klassifizieren.

Dann war ein größeres Wesen – so groß wie einer der Kondensatoren und damit auf Augenhöhe, also etwa gleichmächtig – auf den Plan getreten. Es hatte die Kondensatoren als neue Gäste auf seinem Planeten identifiziert und nicht uns Menschen als die Intelligenz dahinter. Deshalb richtete sich seine Kommunikation oder sein Angriff – oder seine liebende Vereinigung, wie eine unserer Sozialwissenschaftlerinnen kühn und romantisch behauptete – auch nur auf die Kondensatoren. Da diese jedoch keine Intelligenz in sich hatten, musste der Kontakt natürlich scheitern.

Die Energiewesen zogen sich nun – enttäuscht? – zurück und tauchten fortan nicht wieder auf.

Wir hatten nur die Hoffnung, dass wir in späteren Jahren einmal einen Weg zur Kontaktaufnahme finden würden. Um sie über ihren Irrtum aufzuklären.

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