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Epiphanien, harte Konflikte und Figuren, die sich nicht unterkriegen lassen
WOLKE 9 erzählt die Geschichte von Inge (Ursula Werner), einer Frau um die 70, die mit ihrem etwas älteren Mann Werner (Horst Rehberg) ein ausgeglichenes Rentnerleben führt, bis Inge den noch etwas älteren, aber agileren Karl (Horst Westphal) kennenlernt, mit dem sie eine Affäre beginnt. Sie verlässt schließlich nach inneren Konflikten und einem Streit Werner, der sehr unter der Trennung leidet, und zieht zu Karl. Als sich Inge und Werner etwas später bei einem Familienfest im Garten der Tochter (Steffi Kühnert) wieder treffen, scheint Werner sich mit der Situation abgefunden zu haben. Beide gehen anschließend noch ein Stück des Heimwegs zusammen und kramen in Erinnerungen. Kurz darauf erhält Inge bei Karl einen Anruf. Sie erfährt mit großer Bestürzung, dass Werner sich umgebracht hat.
Bei einer Diskussion zu diesem Film, 2014 an der Universität Zürich, fragte eine engagierte Teilnehmerin Andreas Dresen, warum er die Geschichte nicht mit dem versöhnlich erscheinenden Auseinandergehen nach dem Gartenfest hat enden lassen. Sie hätte sich das so sehr gewünscht. Er antwortete sinngemäß, Lebensentscheidungen wie diese hätten Konsequenzen, er habe keinen Kitsch produzieren wollen.
WOLKE 9: Ein Melo-Element – die gleichgültig vorbeiziehende S-Bahn im Sturzregen intensiviert im Äußeren Inges inneres Dilemma
Diese Antwort erscheint charakteristisch für die Art und Weise, wie Dresen in seinen Filmen mit Konflikten umgeht und mit den Figuren, die diese Konflikte austragen. Das lässt sich an WOLKE 9 gut beobachten. Obwohl die Erzählung des Films überwiegend Inge begleitet und sukzessive Verständnis für sie weckt, für ihr Begehren, auch für das dann von ihr gespürte Dilemma (denn Werner ist ihr nach langen, guten Jahren ihres gemeinsamen Lebens keinesfalls egal) und ihre ab einem gewissen Punkt fast von einem unausweichlichen Automatismus getriebene letztliche Entscheidung für Karl, wird alternierend auch Werners Perspektive ähnlich überzeugend vermittelt. Wir sehen und begreifen, welche Katastrophe die Trennung für den introvertierten Mann bedeutet. Wir fühlen mit Werner, als der Film ihn allein in der leblos gewordenen Wohnung aus einer sich im Film regelmäßig wiederholenden Perspektive des gleichen, nun aber unbelebten Raums zeigt und ahnen, dass es sich um einen existenziellen Konflikt handelt, aus dem es kaum einen guten Ausweg geben wird. Der Absturz ist dennoch brutal, gerade nach der Retardierung durch die Begegnung am Gartenfest. Die Verzweiflung Inges und die liebevollen, etwas hilflosen Gesten Karls entlassen uns – zerrissen, nun vor allem mit der überlebenden Inge und ihrem Schuldgefühl fühlend, aber auch mit etwas Hoffnung für diese beiden.
Deutlich wird: WOLKE 9 setzt keine der am Konflikt Beteiligten herab, hält sich von jeglichem Gut-Böse-Schema fern, ja erzeugt Verständnis für alle Hauptfiguren. Der Film besitzt, so gesehen, Züge einer klassischen Tragödie. Er macht es sich nicht leicht und bietet keine Konfliktauflösung nach Wunsch oder im Sinne eines intellektuellen Konzepts. Vielmehr führt er in echte Konflikte und menschliche Bewährungsproben hinein, deren Härte nicht zugedeckt werden soll. Im Gegenteil. Es geht darum, Konflikte ›durchzuarbeiten‹, die in ähnlicher Form auch mit jeder und jedem von uns vor der Leinwand zu tun haben. Man verlässt das Kino und wird das Dilemma nicht so leicht los, und doch entlässt der Film sein Publikum auch hier nicht ohne Hoffnung. Dresen liebt Figuren, die – wie schon die in HALBE TREPPE – sich nicht unterkriegen lassen, wieder aufstehen …
In dieser Hinsicht ähnelt WOLKE 9 auch dem drei Jahre später ins Kino gekommenen HALT AUF FREIER STRECKE. Dabei ist die Lage der Hauptfigur dort von Beginn an völlig ausweglos. Denn der Film beginnt gleich damit, dass Frank Lange (Milan Peschel) im Beisein seiner Frau Simone (Steffi Kühnert) von einem Arzt an einem CT-Bild seines Gehirns erklärt bekommt, er habe einen inoperablen Hirntumor, und auf Nachfrage: Er habe vielleicht noch ein paar Monate. Der Film zeigt uns nun unerbittlich die Stationen des Verfalls, beginnend mit dem Zustand, den Alltag aufrecht erhalten zu wollen und die Krankheit sowie erste Fehlleistungen nicht wahrzuhaben und zu verdrängen, über die Phase, noch einmal gute Erlebnisse mit der Familie zu haben, was dann an zunehmenden Verlusten von Erinnerungsvermögen und Orientierungsfähigkeiten sowie weiterer körperlicher und mentaler Funktionen scheitert. Zuletzt liegt Frank als schwerer Pflegefall im ersten Stock seines Hauses in einem Pflegebett und wird von Simone versorgt, unterstützt durch Pflegedienstkräfte und eine Palliativärztin. Hier stirbt Frank schließlich.
Verbunden mit dem schonungslosen Blick auf den Verfall bis hin zum Tode, wird aber auch erlebbar, mit wie viel gutem Willen die Familie ihm Zuwendung entgegenzubringen sucht und allen Fehlschlägen zum Trotz auch leistet. In einem Moment ergibt sich zwischen Simone und Frank noch einmal Sex, ein tragisch-schöner Augenblick. Wiederholt kommt es zu solch ›guten Szenen‹, so etwa das spontane Umräumen der Weihnachtstafel an Franks Bett. Zuvor aber gab es auch Szenen, die offenbar Franks Halluzinationen darstellen, für uns im Kino aber auf den ersten Blick irritierend wirken, so vor allem ein Talk-Show-Interview von Harald Schmidt (er selbst) mit einer Personifikation des Tumors (Thorsten Merten). Das Ganze erschließt sich nach und nach: Die Szene ist einerseits Ausdruck der psychischen Verfassung Franks, andererseits auch ein ironischer Blick auf das Talk-Show-Metier und ein gewollter bitter-komischer Bruch im filmischen Geschehen.
HALT AUF FREIER STRECKE: Der wiederkehrende Blick auf den Baum aus Richtung des Pflegebetts wird Zug um Zug sinnbildlich aufgeladen
Immer deutlicher zeigt sich dann aber, wie unsicher und zunehmend überfordert alle sind. Irgendwann sagt Simone in ihrer Erschöpfung sogar, sie wünsche sich inzwischen, dass er bald einschlafen möge. Vorsorglich rät ihr die angesprochene Palliativärztin davon ab, Frank in ein Hospiz zu geben. Es gehe auch darum, gibt sie zu bedenken, die Kinder erleben zu lassen, dass Sterben nicht nur schrecklich sein muss, darum, ihnen diese Erinnerung in ihr Leben mitzugeben. Der Dialog mit der Ärztin markiert im Film den dramaturgischen Punkt, an dem neben der Familie noch einmal die Schwester, der Vater (Otto Mellies, besonders berührend), die Freundin aus jungen Jahren, ein befreundeter Kollege am Bett erscheinen. Wir werden Zeugen vieler kleiner, teils hilfloser, aber echter und anrührender Gesten der Nähe, die eine gute Atmosphäre, einen Kokon menschlicher Wärme schaffen, die sich auf uns überträgt, bis Frank schließlich ruhig stirbt. Auch bei diesem Film kulminieren zum Schluss – vielleicht am stärksten von allen Filmen Dresens – Momente, in denen Trauer mit Hoffnung, und mit dem Mutmachen zum Weiterleben zusammengeht. Eine Art säkularer Epiphanie. Sie wird innerhalb der Handlungswelt, durch die von Frank noch selbst erwünschte und damit bedeutungsvoll hergestellte Raumanordnung von Krankenbett und Fensterblick, der einen ausladenden Baum rahmt, visuell-metaphorisch und dabei semantisch metamorph unterstützt.
Solche besonderen Ambivalenzen, die das Ironische und das Tragische mit menschlicher Nähe und einem Schuss Utopie verbinden, wobei alles letzthin auf genau beobachteter, in der Imagination der filmischen Welt aufgehobener Realität fußt – eine Melange, die so letzthin nur das Kino herzustellen vermag. Das ist es wohl, was den Dresen-Ton ausmacht.
Zum diesem Band
Ein schlanker Band wie dieser muss sich zum Prinzip des pars pro toto bekennen, sollen die einzelnen Beiträge substanziellerer Art sein. Die Auswahl der Filme, um die es in den Aufsätzen des Bandes gehen soll, ist schon aus diesem Grund auf die Kinofilme des Regisseurs konzentriert und vernachlässigt notgedrungen primär für das Fernsehen produzierte Arbeiten, wie sie vor allem in den 1990er Jahren in größerer Zahl entstanden. Aber auch nicht alle Kinofilme konnten mit längeren Betrachtungen bedacht werden. Während die Einleitung – nicht zuletzt im Bemühen um einen gewissen Ausgleich – auch auf einige wichtige Filme einging, die ansonsten nicht oder weniger stark thematisiert werden, zeigt sich, dass die daran herausgearbeiteten Charakteristika auf vielfältige Weise auch in den Filmen anklingen, die im Band näher betrachtet werden. Die Perspektiven, aus denen auf die Filme geblickt wird, sind übrigens auch vielfältig, ebenso wie der Kreis der hier Schreibenden, deren Generationszugehörigkeit und biografische wie fachliche Herkunft.
Manche Eigenart, die in der Einleitung hervorgehoben wurde, klingt auch in dem, die Reihe der Beiträge eröffnenden Interview mit Andreas Dresen vom Juli 2021 an. Eigens für unser Heft der Film-Konzepte gibt er darin Auskünfte zu Arbeitsprinzipien und seiner Art, filmische Welten zu entfalten.
Die Reihe der Aufsätze beginnt dann mit einem Text von Stefanie Mathilde Frank über Andreas Dresens Spielfilmdebüt STILLES LAND. Sie interessiert sich dafür, wie der Film mit Blick auf den Mikrokosmos eines kleinen Theaters in der Provinz das Porträt eines sehr spezifischen Diskursraums der Wende entwirft – eines Raums, der »Machtsphäre und Lebenswelt« verknüpft und auf manches in der damaligen Theaterpraxis (auch am Anklamer Theater selbst) verweist. Zugleich mache er heute aber auch viel Typisches an den Verhaltensweisen jener Zeit zwischen Verunsicherung, Kritik und Vorsicht, Aufbegehren und Anpassung erlebbar und offenbart, so Frank, wie kompliziert Geschichte ist.
Daniel Wiegand setzt sich in seiner Untersuchung mit der lange in Kritiken wiederkehrenden Redeweise vom ›Authentischen‹ auseinander, das Dresens Filme präge und – etwa durch Improvisation befördert – zur ›ungefilterten‹ Alltagsdarstellung mache. Mit der eingehenden Betrachtung ausgewählter Montage-Sequenzen aus NACHTGESTALTEN und DIE POLIZISTIN tritt er dieser Idee entgegen und arbeitet heraus, dass und wie die Filme auf genau kalkulierten, hochkomplexen Blick- und Ton/Bild-Konstruktionen basieren, die sich nahtlos der jeweiligen filmischen Erzählung und Gesamtstimmung einfügen. Zugleich wird, so Wiegand, an den gewählten Sequenzen deutlich, wie Dresens Filme auf ambivalente Weise und mit feinem Humor auch magische Momente ins Spiel bringen.
Danach befasst sich Hans J. Wulff mit Qualitäten und Eigenarten des Schauspiels von Axel Prahl, der ja eine Zeitlang, vor allem durch den Erfolg von HALBE TREPPE und WILLENBROCK, gleichsam als Gesicht der Dresen-Filme galt. Wulff denkt über dessen Bedeutung nicht nur für die Filme des Regisseurs nach, in denen Prahl die Hauptrolle spielte, sondern auch über kleinere und dennoch nachhaltig im Gedächtnis haftende Nebenrollenauftritte von NACHTGESTALTEN (1999) bis GUNDERMANN (2018). Verschiedenes tritt dabei hervor: Die musikalischen Qualitäten seines Spiels, die Meisterschaft auch des Chargen-Auftritts und ein Schauspieler, der bei jüngeren Filmen das inzwischen etablierte Rollenkorsett des TATORT-Kommissars überschreitet …
Selina Hangartner widmet sich schließlich dem Dokumentarfilm HERR WICHMANN VON DER CDU (2003/04), dem ersten der beiden Wichmann-Filme. Er entwirft eine Art Wahlkampfporträt des jungen Politikers, der in der uckermärkischen Provinz mit unerschütterlichem Willen und Einsatz, mit wenig Erfahrung, gelegentlichem Übereifer und auch einem Schuss Eitelkeit mit den Anforderungen, Erwartungen und Ritualen des Wahlkampfs ringt. Selbst der Wind scheint nicht auf seiner Seite. Aus einer gewissen – teils auch kritischen – Distanz betrachtet, und durch die von Hangartner beobachteten narrativen Techniken filmischer Ironisierung forciert, treten an der alltäglichen Praxis dieses Wahlkampfs auch groteske Momente hervor, und dennoch verweigert der Film dem jungen Wahlkämpfer letztlich nicht den Respekt. Ein Fall von schwebender Ambivalenz, die in Dresens Kino immer wieder anzutreffen ist.
Andreas Kötzing geht mit Blick auf ALS WIR TRÄUMTEN (2015) der Inszenierung der Wende- und Nachwendezeit mit ihren speziellen Widersprüchen zwischen Aufbruchsstimmung und Resignation nach. Gerade für Jugendliche, die erst im Umbruch die Schule verlassen haben und in der plötzlich völlig veränderten Realität, in der die alten Autoritäten und Regeln nichts mehr galten, nach Orientierung suchten, hielt diese Zeit besondere Herausforderungen bereit. Mit knappen Seitenblicken auf ostdeutsche Filme, die unmittelbar nach 1990 gedreht wurden, nicht nur von Dresen, vor allem aber auf dessen KUCKUCKSKINDER (1994), konturiert Kötzing an ALS WIR TRÄUMTEN mehr Kontinuitäten als Verschiebungen. Der Film, der die Verwerfungen der Zeit im Drang der porträtierten Jugendlichen, sich über alle Regeln hinwegzusetzen, reflektiert, erweist sich, so Kötzing, als erneuerter Beleg für Andreas Dresens Vorliebe für Figuren, deren Wünsche und Hoffnungen sich nicht erfüllen, die sich aber nicht entmutigen lassen.
Die Filmografie im Anhang des Bandes ist diesmal etwas umfassender als üblich gestaltet. Durch die Einbeziehung der Namen, die für Drehbuch, Kamera, Schnitt und wo dies zutrifft auch für Musik stehen, wird nachvollziehbar, dass in Dresens Filmen nicht nur vor der Kamera Schauspielerinnen und Schauspieler häufiger wieder auftauchen, sondern dass auch hinter der Kamera die Vorliebe zum Team groß ist. Auch das trägt sicherlich zur charakteristischen Tonart der Filme bei.
1 Dieser Film war bei Redaktionsschluss noch nicht zugänglich. Im hier abgedruckten Gespräch mit Andreas Dresen gibt der Regisseur indes einige Auskünfte über RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH. — 2 Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main, S. 399–400. — 3 Die DVD-Box Debütfilme: STILLES LAND, hrsg. von Filmgalerie 451, enthält auf der DVD 2 sechs frühe Kurzfilme, darunter die beiden hier thematisierten. — 4 Henri Bergson, Das Lachen, Meisenheim 1948, S. 11. — 5 Ebd., S. 21. — 6 Hans-Dieter Schütt, Andreas Dresen – Glücks Spiel. Porträt eines Regisseurs, Berlin 2020, S. 170–171. — 7 Ebd., S. 173.
Selina Hangartner / Jörg Schweinitz
Andreas Dresen im Interview
Das Interview fand am 15. Juli 2021 in Rostock statt. Als Professor an der Rostocker Hochschule für Musik und Theater unterrichtete Andreas Dresen zu dieser Zeit gerade einen Kurs zu ›Schauspiel im Film‹ mit praktischen Drehübungen.
SH: Andreas Dresen, wir treffen Sie hier während Ihrer Arbeit mit Studierenden. Dazu die erste Frage: Wie kam es zu dieser Aufgabe, wie sieht sie genau aus und was reizt Sie an dieser Arbeit mit jungen Leuten?
AD: Ich bin schon seit drei Jahren hier, als Professor für Filmschauspiel. In Rostock werden an der Hochschule für Musik und Theater neben Musikern auch Schauspieler ausgebildet. Allerdings gilt das Gros der Ausbildung, wie fast an allen Schauspielschulen, dem Theater. Vor gut drei Jahren ist hier die Idee entstanden, dass die Schauspieler unbedingt auch für den Film vorbereitet werden müssen, da dies ja auch ein Teil der späteren Arbeit sein wird. Zuerst war ich skeptisch, was eine Professur betrifft, denn von Kollegen, die das machen, hörte ich, dass sie ganz schön rudern, weil sie auch in Auswahl- und Evaluierungskommissionen oder Prüfungen sitzen, Berichte schreiben, Diplomarbeiten betreuen und so weiter. Und das geht für mich nicht. Dann wäre ich immer zerrissen – zwischen der eigenen praktischen Arbeit und dem Bedürfnis, für die Studenten da zu sein. Die Hochschule bot mir aber an: Wir machen feste Slots, und ich unterrichte über das ganze Jahr hinweg sechs Wochen intensiv, pro Semester drei. Daneben muss ich nicht an den Hochschulformalitäten teilnehmen. Das war für mich ausschlaggebend. Auch dass ich die Lehre selbst entwickeln kann, so wie ich es für richtig halte.
Inzwischen haben sich schöne Formen herausgebildet, und es macht viel Spaß. Sechs Wochen Filmausbildung während eines gesamten Studiums sind zwar nicht wahnsinnig lang, aber ich versuche, den Schauspielern ein Gefühl dafür zu geben, was sie erwartet, wenn sie an einen Drehort kommen. Das beginnt damit, dass sie etwa möglichst viele der Begrifflichkeiten schon gehört haben. Wenn der Regisseur beispielsweise zum Kameramann sagt, »mach da mal ne andre Brenne drauf«, dass sie dann wissen, was das für sie bedeutet, und es sich übersetzen können. Also, das ist so eine Mischung aus Schnelldurchgang durch alle möglichen filmpraktischen Fragen, die handwerklich beim Drehprozess eine Rolle spielen, zugeschnitten auf Schauspieler, und natürlich dem Sammeln praktischer Dreherfahrung. Wir drehen während des Studiums Kurzfilme, und am Ende mache ich mit den Schauspielern noch ein Seminar über Improvisation vor der Kamera, das ist nochmals eine Woche und bildet dann den Abschluss. Alles in allem geht es darum, dass sie einen kleinen Eindruck bekommen, was das Spielen vor der Kamera bedeutet. Es ist extrem inspirierend für mich, etwas zusammen mit jungen Menschen zu machen.
SH: Ihr letztes Projekt, RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH, war gerade jetzt im Schnitt?
AD: Es ist noch nicht fertig, sondern vor zwei Wochen in der Türkei abgedreht. Die Corona-Bedingungen haben die Arbeit extrem aufwendig gemacht. Im Film geht es um die Mutter von Murat Kurnaz, ein in Bremen aufgewachsener Deutsch-Türke, durch die Bild-Zeitung leider mit dem Stempel »Bremer Taliban« versehen. Murat hat von 2001 bis 2006 unschuldig in Guantanamo gesessen. Ich habe mich seit 2008 mit seiner Geschichte beschäftigt, traf ihn auch mehrfach in Bremen. Die Arbeit am Drehbuch gestaltete sich dann aber ziemlich kompliziert, weil es wirklich sehr schwierig ist, Guantanamo zu erzählen. Was Murat dort Schreckliches erlebt hat, das ist wie bei Kafka und kaum dramaturgisch fassbar. Es gibt keine Perspektive, auch keine Hoffnung. Die Gefangenen sitzen da ohne Urteil, ohne Prozess, auch ohne Fluchtmöglichkeiten und soziale Kommunikation, sie wissen nicht, was mit ihnen geschehen wird. Alle Spielarten des klassischen Gefängnisdramas sind damit außer Kraft gesetzt. Das Einzige, was man zeigen könnte, sind Folterszenen, aber wer will sich das anschauen über einen ganzen Film hinweg. Gut, Vernehmungen wären noch möglich, sich immer wiederholende.
Kurz, ich kam mit dem Projekt auch mit mehreren Drehbuchautoren nicht weiter, aber irgendwann habe ich dann in Bremen Murats Mutter kennengelernt. Das ist eine tolle Frau, sehr vital, sehr lustig, sehr kraftvoll. Sie und der Bremer Menschenrechtsanwalt, Bernhard Docke, ein hochgeschossener Asket, Gerechtigkeitsfanatiker, diese beiden sehr ungleichen Menschen haben Murat rausgehauen. Fünf Jahre lang haben sie für seine Freilassung gekämpft, unter anderem sind sie nach Amerika gegangen und haben vor dem Supreme Court den amerikanischen Präsidenten verklagt. Und gewonnen! Eine Bremer Hausfrau gewinnt gegen den amerikanischen Präsidenten. Sie hat wirklich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihren Sohn zurückzubekommen. Das ist eine sehr hoffnungsvolle Geschichte. Denn sie hat’s geschafft. Sie hat ihn rausgeholt. Das ist eine Geschichte über die Kraft der Schwachen. Man ist ja immer geneigt, zu sagen, »kannste eh nichts machen«, und hier zeigt sich, man kann – auch als einfacher Mensch aus Bremen, als türkische Mama. Laila Stieler, mit der ich ja lange befreundet bin und schon einige Filme gemacht habe, hat das Drehbuch geschrieben. Es ist trotz des ernsten Hintergrunds teilweise auch eine Komödie, wegen des ungleichen Gespanns, zwischen dem natürlich Reibungen entstehen. Aber die beiden ergänzen sich auch schön. Das klassische odd couple, das man ja häufig in Filmen hat. Es ist im Prinzip diese Konstellation, die wir dramaturgisch durchspielen, aber mit einem hochpolitischen Hintergrund. Und ich merkte, ich bewege mich da auf einem ganz anderen Terrain als bisher. Sowohl politisch als auch ästhetisch. Auch das türkische Milieu habe ich noch nie so ausführlich erzählt. Es war sehr interessant. Ich bin nun endlich durch, wir haben im Oktober angefangen zu drehen, und vor zwei Wochen konnten wir den Film beenden. Es war Wahnsinn.
SH: Sie haben vorhin gesagt, dass Corona die Dreharbeiten erschwert hat.
AD: Wir haben mitten in der zweiten Welle den Hauptteil in Deutschland gedreht, Oktober, November, Dezember 2020. Das war in jeder Hinsicht einfach nur deprimierend, weil keine soziale Interaktion mit dem Team außerhalb der Arbeit möglich war, jeder ging am Abend nach Drehschluss auf sein Zimmer. Wir waren in irgendwelchen Hotels unterwegs, die sonst geschlossen hatten, als einzige Gäste. Es gab keine Bar, meist kein Frühstück. Natürlich auch nicht die üblichen Feste, die beim Drehen gefeiert werden, die sehr wichtig sind, da man da mit Schauspielern und Team zusammen ist, und auch über die Arbeit redet. Das fand nicht statt. Alles war reduziert auf das absolut Notwendige. Und das in dieser dunklen Jahreszeit.
Andreas Dresen mit Alexander Scheer bei Dreharbeiten zu RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH im Corona-Jahr 2021 in Washington
Dann kam noch dazu, dass wir zwei Auslandsblöcke hatten, in Washington und in Ankara, was am Ende erst in diesem Jahr möglich wurde. Wobei, im Januar 2021 gab’s in Washington zusätzlich noch den Sturm aufs Capitol, da ging erstmals gar nichts mehr. Die ganze Stadt war gesperrt, wir kriegten keine Genehmigungen, also neben Corona war dann auch noch das. Wir haben dann im April dort gedreht unter extrem schwierigen Bedingungen, da die Stadt immer noch nicht wirklich geöffnet war. Vor zwei Wochen haben wir den Film dann in Ankara mit einem türkischen Team endlich beendet. Das war schön und hat Spaß gemacht. Jetzt muss ich nur noch die Bilder aus der Türkei einfügen, ansonsten ist der Film fertig geschnitten.
Pandora hat ihn produziert und bringt ihn in die Kinos, und ich habe zu 50 Prozent mit meiner eigenen Firma koproduziert. Wir hatten ein paar Jahre lang alleine an dem Drehbuch gearbeitet, und dann einen Partner gesucht, weil ich meine eigenen Filme nicht gerne selbst produziere. Bis auf Dokumentarfilme habe ich das auch noch nie gemacht, denn ich finde es gut und produktiv, wenn auch gewisse Reibungen mit Produzenten entstehen können. Film ist Teamarbeit.
SH: Über Sie ist oft zu lesen, dass Sie der Regisseur für das »Sozialrealistische« im deutschen Kino seien. Ihre Filme werden z. B. mit denen der Dardennes gerne verglichen. Wie sehen Sie das?
AD: Weiß nicht. Das kann man selber gar nicht wirklich beurteilen. Ich finde es aber toll, mit den Dardenne-Brüdern verglichen zu werden, denn ihre Filme sind großartig. Ich habe sie auch mal kennengelernt, auf einer langen Autofahrt, sie sind herzallerliebst. Ich liebe die Typen. Man kann mit ihnen auch gut über Fußball reden …
Aber ich kann den Vergleich nicht beurteilen, ich bin kein guter Beobachter meiner eigenen Tätigkeit. Das sollten andere Leute machen. Ich gehe auch nicht so bewusst vor bei der Auswahl meiner Stoffe, wie man das vielleicht denkt, das ergibt sich halt. Manche Stoffe entwickeln sich ja über eine halbe Ewigkeit. Als GUNDERMANN rauskam, haben alle gesagt »Das ist der Film zur rechten Zeit«, dabei habe ich mit Laila Stieler zwölf Jahre daran gearbeitet. Wir waren froh, dass wir ihn endlich machen konnten, und dachten nicht an die »rechte Zeit«. Da steckt keinerlei Kalkül dahinter. Und bei RABIYE KURNAZ ist das noch schlimmer, da bin ich ja, wie schon gesagt, seit 2008 dran. Das sind über 13 Jahre, wenn er 2022 rauskommt. Was weiß ich, ob der Film dann passt. Ich hätte ihn auch gerne früher gemacht, wenn wir mit dem Drehbuch fertig gewesen wären, aber wir haben’s nicht hingekriegt. Irgendwann fädelt sich ein Film dann ein oder er stirbt, das ist mir auch schon öfter mit Projekten passiert.
Andreas Dresen mit den Brüdern Dardenne beim Kustendorf International Film and Music Festival, Januar 2012
Dann bin ich auch nicht jemand, der eine ästhetische Monstranz vor sich herträgt. Die Stilistik ergibt sich aus dem Stoff. Ich würde beispielsweise auch bei dem neuen Film sagen, das ist Sozialrealismus, aber in einem völlig anderen Milieu als bisher. Das ist schon sehr dicht an dieser türkischen Familie dran. In diesem Film ist Guantanamo eigentlich nur auf einem sehr bekannten Foto zu sehen, sonst kommt es nicht vor. Es findet alles nur in den Köpfen der Familie und der Zuschauer statt. Im Prinzip ist der dramaturgische Trick, dass wir Guantanamo in der Alltagserfahrung einer türkischen Familie in Deutschland spiegeln. Damit kann man sich einfacher identifizieren als sich in Murat hineinzuversetzen, der in Guantanamo gefoltert wird. Ich habe es versucht, aber es entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Die haben ihn eine ganze Woche lang an Handschellen aufgehängt, erst mit den Armen nach vorne, dann nach hinten. Eine Woche! Ich wäre wahrscheinlich tot gewesen oder hätte alles Mögliche erfunden, nur um da runterzukommen. Er hatte ja nichts zu sagen, hatte ja auch nichts gemacht. Das sind so Sachen, da komme ich mit der größten Fantasie nicht rein. Darum wusste ich auch nicht, wie ich das darstellen soll. Natürlich gelingt es mir viel leichter, mir vorzustellen, wie es der Mutter geht, die erfährt, dass ihr Sohn gefoltert wird, obwohl auch das eine furchtbare Vorstellung ist. Aber es war für mich einfacher, und wir sind im Film ganz dicht an dieser Figur geblieben. Man kann ja gut verstehen, dass sie ihren Sohn zurückhaben will, und es gibt eine Hoffnung, es ist ja eine Geschichte mit Happy End. Wenn auch mit einem dunkel gefärbten. Denn dahinter steckt ein handfester politischer Skandal der internationalen wie der deutschen Politik. Amerika hat ihn unschuldig eingesperrt und die Deutschen haben ihn nicht zurückgeholt nach anderthalb Jahren, als sie das gekonnt hätten. Dafür war Frank-Walter Steinmeier als damaliger Kanzleramtschef zuständig. Und die Türken taten auch nichts. Der eine hat’s zum anderen geschoben. Die Deutschen haben gesagt, das ist ein türkischer Staatsbürger, sollen sich die Türken drum kümmern. Und die Türken sagten, dass er ja in Deutschland groß geworden sei. Die Amerikaner haben zwar irgendwann signalisiert: Nehmt ihn zurück, er ist unschuldig. Doch niemand wollte ihn und fühlte sich zuständig. Darum saß Murat da nochmals dreieinhalb Jahre. Bis heute hat sich niemand bei ihm entschuldigt.
Er selbst ist ein erstaunlich sanfter Mensch, frei von Zorn, was ich ganz erstaunlich finde. Ich habe ihn mal gefragt, ob er die Amerikaner jetzt hasst, da hat er mich erstaunt angeschaut. Es habe auch unter den Bewachern solche und solche gegeben. Er hat ein gutes Gedächtnis und konnte alles sehr, sehr plastisch beschreiben. Es gibt auch ein gutes Buch von ihm, Fünf Jahre meines Lebens, in Kooperation mit einem Journalisten geschrieben. Das war auch einer unserer Ausgangspunkte. Es ist beeindruckend, wie er da erzählt. Wenn man einen Eindruck bekommen will, wie Guantanamo ist, das es ja leider immer noch gibt, da sind noch 40 Leute inhaftiert, dann lohnt es sich, das Buch von Murat zu lesen.
Er hat übrigens nie eine Therapie gemacht, ist ein erstaunlich stabiler, ein bisschen misstrauischer Mensch. Aber Letzteres ist wohl mehr als verständlich. Es dauert eine Weile, an ihn heranzukommen. Ansonsten hat er jetzt eine Familie, drei Kinder, macht Sozialarbeit, ein normales Leben. Murat ist ein guter Mensch, ein barmherziger. Vielleicht hat das auch etwas mit seinem Glauben zu tun, er ist ein sehr weicher, großherziger Mann. Nach dieser Erfahrung finde ich das wirklich erstaunlich.
SH: Wahrscheinlich muss man bei seinem Schicksal auch daran denken, dass er ja nicht der Einzige ist, dem es so erging …
AD: Klar, da gab’s einige, und es gibt mittlerweile auch Filme darüber, etwa den mit Jodie Foster [THE MAURITANIAN, 2021], der gerade kam … Hinter dem Ganzen steht ein System, das mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun hat. Die Amerikaner haben eine eigene Kategorie erfunden, mit der der Status »Kriegsgefangene« (nach der Genfer Konvention) ausgehebelt wird: »enemy combatants«. Die sind quasi vogelfrei und unterliegen keinerlei Recht.
Immerhin gab es dann eben das Supreme-Court-Urteil, das ging von einer Sammelklage aus. Die Kläger, unter denen Rabiye Kurnaz führend mit dabei war, gingen davon aus: Es kann nicht sein, dass der amerikanische Staat auf extraterritorialem Gebiet foltert, und die amerikanischen Gerichte dafür nicht zuständig sein sollen. Der Supreme Court hat ihnen Recht gegeben, mit sechs zu drei. Auch republikanische Richter haben mitgestimmt, gegen George W. Bush. Daraufhin haben sie dann diese Tribunale in Guantanamo erfunden, die Regierung hat also weiter getrickst. Aber immerhin, der Supreme Court hat ganz eindeutig gesagt, das sei völkerrechtswidrig und widerspreche der amerikanischen Verfassung. Ich habe mich viel mit diesen Fragen beschäftigt, es ist eigentlich unfassbar, dass da immer noch Leute sitzen, es ist das teuerste Gefängnis der Welt. Denn bis heute sind da 1.500 amerikanische Soldaten stationiert, für 40 Gefangene. Jetzt sind die Bedingungen nicht mehr ganz so schlimm wie damals, aber noch schlimm genug. Und immer noch ohne rechtsstaatliche Verfahren.
JS: Einer der Autoren im Band, Daniel Wiegand, hat über Montage-Konstruktionen in Ihren Filmen geschrieben, darunter die am Anfang von NACHTGESTALTEN (1999). Das bringt mich auf die Frage: Wie kam es zu einer solch ausgeklügelten, vieldeutigen Montage- Konstruktion? Stand sie schon im Drehbuch oder entstand sie beim Drehen oder im Schnitt?
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