Kitabı oku: «Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte»
ibidem-Verlag, Stuttgart
Inhaltsverzeichnis
Einführung
I. Der Paradigmenwechsel in West und Ost nach dem Zivilisationsbruch von 1914–1945 (Eichstätter Vorträge)
Lehren aus dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie
Thomas Mann nähert sich der jungen Bundesrepublik
Von der „spontanen Entstalinisierung“ bis zum XX. Parteitag der KPdSU – Anmerkungen zu einem abgestuften Paradigmenwechsel in der UdSSR (1941–1956)
II. Ideengeschichte
Hegel und Marx
III. Buchbesprechungen
Hermann Wentker: Die Deutschen und Gorbatschow. Der Gorbatschow-Diskurs im doppelten Deutschland 1985–1991. Berlin 2020, 669 S.
IV. Tribüne
„Das Zeitalter der Unterwürfigkeit“? Anmerkungen zu den totalitären Weltbildern und Verschwörungstheorien
Über die Autoren
Einführung
Das „kurze“ 20. Jahrhundert gehört zu den am besten dokumentierten Epochen der Geschichte. Trotzdem gibt es viel mehr Rätsel auf als manche Perioden der Antike und des Mittelalters, deren spärliche dokumentarische Überreste wir nur mühsam rekonstruieren können. Zu den größten Rätseln in diesem Zusammenhang gehört die Frage nach den Ursachen für den beispiellosen Zivilisationsbruch, der sich in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ereignete und alte Kulturnationen erfasste, die so voller Stolz auf ihre großen Dichter und Denker, auf ihre genialen Schriftsteller und Künstler waren. Wie konnte es zu diesem Zivilisationsbruch kommen? Diese Frage erschüttert bis heute das europäische Selbstverständnis.
Diese moralische Katastrophe, die sich im Herzen Europas abspielte, hatte sich scheinbar über Nacht – in der kurzen Zeitspanne zwischen 1917 und 1945 bzw. 1953 (dem Todesjahr Stalins) – vollzogen. Dieses „Plötzliche“ täuscht jedoch, denn Zäsuren bahnen sich in der Regel allmählich an. Auch das totalitäre Jahrhundert der „Ex-treme“ hatte seine lange Vorgeschichte. Ihm ging eine Auflehnung gegen das überlieferte europäische Menschenbild voraus, das seit Jahrhunderten durch die Wertvorstellungen des Alten und des Neuen Testaments geprägt worden war.
Diese Auflehnung hatte den Charakter einer Doppelrevolution. Die Zerstörer der Grundlagen, auf denen die christlich-jüdische Kultur basiert, verwickelten die Verteidiger dieser Kultur in einen Zweifrontenkrieg. Sie wurden sowohl im Namen der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der internationalen Solidarität als auch im Namen des hierarchisch-elitären Prinzips, des unversöhnlichen nationalen Egoismus und des Rassegedankens angegriffen.
Dabei waren es einflussreiche Vertreter der Bildungsschicht und nicht die allgemein gefürchteten „Massen“, die solche Werte wie Toleranz oder Humanität mit besonderer Radikalität und Gehässigkeit bekämpften. Nicht der Aufstand der Massen, sondern die Rebellion der intellektuellen Elite habe dem europäischen Humanismus die größten Schläge zugefügt, schrieb in diesem Zusammenhang 1939 der russische Exilhistoriker Georgij Fedotov.1
Welche Lehren zogen die Europäer in Ost und West aus dem Zivilisationsbruch, der sich in den Jahren 1914–1945 ereignete? Dieser Frage sollte sich ursprünglich ein interdisziplinäres und internationales Kolloquium an der KU Eichstätt-Ingolstadt widmen, das für Mai 2020 (anlässlich des 75. Jahrestages des Kriegsendes) eingeplant war. Wegen der Corona-Pandemie mussten die Veranstalter allerdings ihr Konzept ändern. Einige der ursprünglich geplanten Vorträge werden nun im Forum veröffentlicht, und zwar in der ersten Rubrik des vorliegenden Heftes.
Im ersten Beitrag der Rubrik befasst sich der Eichstätter Politikwissenschaftler Bernhard Sutor mit den Lehren, welche die zweite deutsche Demokratie aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie gezogen hat. In diesem Zusammenhang geht er in erster Linie auf das Grundgesetz ein, das in gewisser Hinsicht ein „Gegenbild zur Weimarer Verfassung“ darstellt, dies in erster Linie deshalb, weil es bestimmte Elemente enthält, die in der Weimarer Verfassung trotz ihres demokratischen Charakters gefehlt hatten. Dazu zählen der „Fundamentalsatz von der unantastbaren Würde des Menschen … [und die] sogenannte Ewigkeitsklausel …, welche die Art. 1 und 20 (die Grundrechtsbindung und Staatsgrundprinzipien) von jeder Verfassungsänderung ausnimmt“. Zu den besonders wichtigen Lehren aus dem Scheitern der „ersten“ deutschen Demokratie gehört auch die Tatsache, dass laut Grundgesetz „Gegner der Demokratie ihre Grundrechte verwirken können und dass verfassungsfeindliche Parteien verboten werden können“.
Im folgenden Beitrag der Rubrik geht der Eichstätter Germanist Ruprecht Wimmer auf die komplizierte Wiederannäherung Thomas Manns an Deutschland nach der Katastrophe von 1933–1945 ein. In der vorletzten Forum-Ausgabe befasste sich der Autor bereits mit der fortwährenden Auseinandersetzung Thomas Manns mit der NS-Diktatur und mit dessen eindringlichen Warnungen vor der nationalsozialistischen Gefahr. Wie gestaltete sich das Verhältnis des Schriftstellers zu seinem Heimatland nach dem Zusammenbruch des Regimes, das er jahrelang so leidenschaftlich bekämpft hatte? Über die ersten Reaktionen Thomas Manns auf die neue deutsche Wirklichkeit schreibt Wimmer Folgendes: „Sofort wendet sich Thomas Mann der neuen Lage in Deutschland zu. Zu seinem Misstrauen, ob der Nationalsozialismus nun wirklich Vergangenheit sei, tritt das mitleidende Entsetzen über das kulturelle und soziale Chaos in der alten Heimat“. Was die Wiederannäherung Thomas Manns an Deutschland zusätzlich erschwerte, sei die Zweiteilung des Landes seit 1949 gewesen, wobei sich beide deutsche Staaten um die Sympathien des berühmten Exilautors bemüht hätten. Wimmer weist darauf hin, dass der alte Glaube Thomas Manns „an einen humanen Kern des marxistischen Weltbildes“ dazu führte, dass er die DDR nicht nur in einem negativen Licht sah. Auf der anderen Seite musste er „rasch erkennen, dass die reale Politik des Ostblocks, dass dessen inhumane Skrupellosigkeit die angeblichen Ideale nur zu deutlich ad absurdum führte“.
Der Paradigmenwechsel, der sich im Westen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches vollzog, fand auch in der Sowjetunion statt, allerdings einige Jahre früher als im Westen, und zwar kurz nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges. Das stalinistische Regime, das bis dahin gegen imaginäre „Volksfeinde“ gekämpft hatte und die eigene Bevölkerung in einer beispiellosen Weise terrorisierte, wurde nun mit wirklichen Feinden konfrontiert. Vieles sprach dafür, dass es diese harte Bewährungsprobe nicht überstehen würde. So hatten die Machthaber keine andere Wahl als die halbherzige Duldung einer partiellen Emanzipation ihrer Untertanen, die nun als Verteidiger ihrer bedrohten Heimat zu einem neuen Selbstbewusstsein gelangten. Es fand damals in der UdSSR ein Prozess statt, den der Moskauer Historiker Michael Gefter später als „spontane Entstalinisierung“ bezeichnete. Mit diesem Prozess befasse ich mich im letzten Beitrag der Rubrik. Zwar gelang es der stalinistischen Führung kurz nach der Bezwingung des Dritten Reiches, die auf ihren Sieg so stolze Nation erneut zu disziplinieren. Die Sehnsucht nach einem würdevollen Leben, die den sowjetischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland mitbedingt hatte, war aber aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein niemals verschwunden. Dieser Sehnsucht kamen die Nachfolger Stalins entgegen, als sie bereits wenige Tage nach dem Tod des Diktators mit der Demontage des von ihm errichteten Systems begannen. All diesen Vorgängen ist der abschließende Teil meines Beitrags gewidmet.
In der Rubrik „Ideengeschichte“ veröffentlichen wir ein Kapitel aus den „Philosophischen Memoiren“ des am 19. September 2019 verstorbenen Philosophen und Zimos-Gründers Prof. Dr. Nikolaus Lobkowicz. Das Kapitel trägt den Titel „Hegel und Marx“. Für die Veröffentlichung dieses Textes erhielten wir die ausdrückliche Genehmigung der Witwe des Autors, Frau Nawojka Lobkowicz, und des EOS Verlages, in dem das Buch von Nikolaus Lobkowicz erschienen ist. Wir möchten uns dafür herzlich bedanken.
Nun einige Worte zu dem hier abgedruckten Text.
Zu Beginn des Kapitels verweist Nikolaus Lobkowicz auf sein 1967 erschienenes Buch Theory and Practice: History of Concept from Aristotle to Marx und hebt hervor, dass er beim Verfassen dieser Schrift ursprünglich das Ziel verfolgt habe „den intellektuellen Werdegang des Philosophierens des ‚jungen Marx‘ vor Abfassung der Deutschen Ideologie nachzuvollziehen“. Besonders wichtig schienen ihm in diesem Zusammenhang die berühmt gewordenen „Feuerbach-Thesen“ von Marx aus dem Jahre 1844, die mit dem Satz schließen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern“. Diese im Grunde „linkshegelianische Konzeption“ habe Marx indes bereits ein Jahr später „hinter sich gelassen“, fügt Lobkowicz hinzu: „(Es) kommt von nun an nicht mehr darauf an, die Welt zu verändern; angesichts von historischen Gesetzmäßigkeiten, die er meint, entdeckt zu haben …, will Marx mit Gewissheit voraussagen können, sie würde sich radikal verändern. Aus einem Programm ist eine Prognose geworden“.
Diese deterministische Sicht, das angebliche Wissen um den weiteren Verlauf der Weltgeschichte, habe ein großes Dilemma für die Anhänger des Marxschen Geschichtsmodells dargestellt, setzt Lobkowicz seine Ausführungen fort: „(Zwar) war sicher, welchen Weg die Weltgeschichte einschlagen würde, aber man durfte dennoch nicht unterlassen, ihr auf diesem Wege nachzuhelfen. Ob dieses Nachhelfen bloß der Beschleunigung der Entwicklung dienen sollte oder ob ‚die Revolution‘ ohne eine solche Nachhilfe am Ende möglicherweise gar nicht stattfinden würde, blieb immer unklar“.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen befasst sich Nikolaus Lobkowicz mit der philosophischen Genese des Marxschen Ideengebäudes, so vor allem mit Hegel und mit den Linksgehelianern, zu denen Marx ursprünglich auch zählte. Beim Vergleich zwischen dem Marxschen und dem Hegelschen Denkmodell betont Lobkowicz, dass das futuristische Pathos, das Marx eigen war, Hegel weitgehend fehlte: „Im Gegensatz zu Marx … spricht ja Hegel nie von der Zukunft, stellt nie Zukunftsprognosen auf. Vermeintliches Wissen um Künftiges kann es für ihn nur als ‚subjektive Vorstellung‘, als ‚Furcht oder Hoffnung‘ geben“.
Am Ende des Kapitels befasst sich Nikolaus Lobkowicz erneut mit den Marxschen Zukunftsprognosen und weist darauf hin, dass sie in der Regel nicht eintrafen. Nicht zuletzt Marx’ These von einer permanenten Verelendung des Proletariats.
Wie dem auch sei. Man konnte in der Tat nicht leugnen, dass um die Jahrhundertwende, zumindest in den hochentwickelten Industrienationen des Westens, es statt zu der von Marx vorausgesagten Verschärfung des Klassenkampfes zu einer Abmilderung der Klassengegensätze kam. Die industrielle Revolution, mit der Marx so viele Hoffnungen verknüpft hatte, trug nun ihre Früchte, und die Arbeiter hatten mehr zu verlieren als nur ihre Ketten. Nicht zuletzt deshalb begannen manche marxistische Theoretiker von der Unversöhnlichkeit gegenüber dem bestehenden Staat abzurücken und, zum Entsetzen vieler „orthodoxer Marxisten“, an die Reformierbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu glauben. Dies war die Geburtsstunde der „revisionistischen“ Strömung innerhalb der Sozialdemokratie, mit der sich Nikolaus Lobkowicz in seinem Text ebenfalls befasst.
Noch einige Worte zur Rubrik „Tribüne“, mit der wir dieses Forum-Heft abschließen. Ich befasse mich hier aus aktuellem Anlass mit den Verschwörungstheorien, die insbesondere für die erste Hälfte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts charakteristisch waren und die die damaligen politischen Auseinandersetzungen in Europa entscheidend prägten.
Auch dieses Forum-Heft wurde sorgfältig von Herrn Dr. Peter Paul Bornhausen lektoriert und von Frau Dr. Marina Tsoi technisch betreut. Ich danke ihnen herzlich dafür.
Leonid Luks
1 Fedotov, Georgij: K smerti ili k slave?, in: Novyj Grad 14, 1939, S. 102.
I. Der Paradigmenwechsel in West und Ost nach dem Zivilisationsbruch von 1914–1945 (Eichstätter Vorträge)
Bernhard Sutor
Lehren aus dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie
Abstract
In the course of establishment and early development of the Federal Republic of Germany, the decisive political forces were united by the anti-totalitarian consensus. Unlike the Weimar Republic, the new German democracy had to be able to defend itself against its opponents from the right (NS) and from the left (communism). Justified criticism of inadequate prosecution of the Nazi crimes did not call this consensus into question. It remained so until the 1968ers terminated it by adopting the old communist slogan “anti-fascism” and denouncing the Federal Republic of Germany as “post-fascist”. But the Basic Law of the Federal Republic establishes a liberal constitutional state, based on fundamental rights, with a balance between the political institutions that has proven to be stable. An integrating party system contributed to stabilization of the young democracy. However, aversion to political parties and lack of understanding of their functions in a democracy, namely a legacy of authoritarian thinking, still represent a deficiency in our political culture today.
1. Gegen Legendenbildung
1.1 Der Konsens der politisch maßgeblichen Kräfte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, zunehmend Konsens auch in der Gesellschaft, wird heute von manchen gern auf die Formel Antifaschismus gebracht. Antifaschismus war aber die Propagandaformel der Sowjetunion und ihrer Gefolgsleute, um in ihrem Herrschaftsbereich eine Einheitsfront, genauer die Gleichschaltung aller politischen Kräfte unter der Führung der Kommunisten zu legitimieren. Dagegen hieß der Konsens in Westdeutschland nicht Antifaschismus, sondern Antitotalitarismus – ein Nein gegen den überwundenen Nationalsozialismus wie gegen die neue Gefahr des Kommunismus.
In Deutschland war der Nationalsozialismus als Ideologie 1945 erledigt. Wenige Unverbesserliche verkrochen sich, viele ehemalige Nazis ließen sich für die Demokratie gewinnen. Freilich war der betonte Antikommunismus für manche auch eine bequeme Flucht aus ihrer NS-Vergangenheit und eine Kompensation. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 machte sich in der öffentlichen Diskussion eine gewisse „Schlussstrichmentalität“ breit, was die Verfolgung von Tätern und die Aufarbeitung von Taten aus der NS-Zeit betraf. Sie wurde begünstigt durch offensichtliche Fehler der Entnazifizierung, wie sie die Besatzungsmächte allzu formal und schematisch versucht hatten, indem sie mehr nach Mitgliedschaften in Partei und Organisationen fragten als nach wirklicher persönlicher Verstrickung und Mitwirkung im System. Zudem war die Vorstellung verbreitet, die Hauptverbrecher seien durch die Prozesse der Besatzungsmächte ohnehin bestraft, und die Besatzungsmächte selbst hatten der deutschen Justiz ausdrücklich untersagt, Prozesse, die sie schon geführt hatten, wieder aufzurollen. Eine systematische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit durch die deutsche Justiz begann erst Ende der 1950er Jahre. Das gehört in den Kontext einer weiteren Legende.
1.2 Diese besagt, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit habe erst mit den Unruhen und Protesten der 1968er begonnen. Das ist so nicht haltbar. Vielmehr haben die 1968er ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus radikalisiert, personalisiert und gegen die angeblich noch faschistisch verseuchte Bundesrepublik Deutschland gewendet.
Richtig ist, dass die Mehrheit der Deutschen in den ersten zehn bis 15 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg von Krieg und NS nichts mehr hören wollte. Man war froh, davongekommen zu sein, bedauerte die eigenen Leiden und Lasten und warf sich auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Diese Mentalität erleichterte es den in der Vergangenheit schuldig Gewordenen, ihre Beteiligung zu vertuschen und zu verdrängen. Aber dass eine öffentliche und auch wirksame Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen in dieser Zeit nicht stattgefunden hätte, ist nachweislich falsch. Im gesamten kulturellen Bereich, in Literatur, Theater, Kino, in Wissenschaft und Bildung war sie vielmehr für viele, auch wachsende Gruppen seit dem Zusammenbruch 1945, ein zentrales Thema. Selbst für die deutsche Justiz stimmt nicht, dass die Aufarbeitung erst mit den 68ern begonnen hätte. Der erste große Auschwitz-Prozess begann bekanntlich 1963. Seine Vorgeschichte reicht bis 1957 zurück, als im sogenannten Einsatzgruppenprozess in Ulm viele bis dahin ungesühnte Verbrechen aufgedeckt wurden. Das führte zur Bildung der gemeinsamen Zentralstelle der Bundesländer zur Verfolgung von NS-Verbrechen im Jahr 1958 in Ludwigsburg.
Zu den wachsenden Bemühungen im kulturellen Bereich kann ich auf meine eigenen Erfahrungen als junger Lehrer zurückgreifen und auf bedeutende Fakten hinweisen. Ich bin 1955 in den Schuldienst des Landes Rheinland-Pfalz eingetreten und habe bereits in meinem ersten Jahr als Studienreferendar im Geschichtsunterricht einer Untersekunda eine Unterrichtsreihe über die Weimarer Republik und ihren Untergang gehalten, darüber auch eine erste schriftliche Arbeit verfasst. Der mich betreuende Lehrer war ein älterer Herr, von dessen politischer Vergangenheit ich nichts wusste, der mich jedoch tatkräftig bei meinem Vorhaben unterstützte.
Ich habe in den 50er und 60er Jahren eine Reihe Lehrerkollegien kennengelernt und kann für alle sagen, dass zwar ihre Mehrheit über die NS-Vergangenheit gern schwieg, eine Minderheit vor allem jüngerer Lehrer aber sich mit zunehmender Intensität der Bearbeitung der NS-Vergangenheit im Unterricht widmete. Ich habe dazu in den 50er und 60er Jahren eine ganze Reihe von Fortbildungstagungen für Lehrer erlebt, die uns dazu auch die wissenschaftlichen Grundlagen lieferten. Als besonders hilfreich dazu erwiesen sich die Zeitschrift des Instituts für Zeitgeschichte in München; die Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ in der Zeitung „Das Parlament“, herausgegeben von der Bundeszentrale für Politische Bildung; eine umfangreiche und systematische Dokumentation zum Nationalsozialismus vom Schweizer Historiker Walther Hofer, als Fischer-Taschenbuch erschienen, das 1960 bereits eine Auflage von 300.000 erreichte.
Was den weiteren kulturellen Bereich betrifft, so weise ich darauf hin, dass das Buch von Eugen Kogon „Der NS-Staat“, in dem er seine Erfahrungen aus dem Konzentrationslager verarbeitete, schon Ende der 40er Jahre weite Verbreitung fand, dass Theaterstücke wie Borcherts „Draußen vor der Tür“ und Zuckmayers „Des Teufels General“ ebenfalls schon in den späten 40er und dann in den 50er Jahren über fast alle deutschen Bühnen gingen; dass im Jahr 1954 zum zehnten Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 in den deutschen Kinos gleich zwei Filme liefen.
Man kann das alles mit guten Gründen für zu wenig halten, aber dass in Westdeutschland zwei Jahrzehnte lang keine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit stattgefunden hätte, ist schlicht falsch.
2. Der freiheitliche Verfassungsstaat als Antwort auf das Scheitern von Weimar
Dass die Verfassungen der Länder und dann auch des Bundes nach 1945 Erfahrungen aus dem Scheitern der Weimarer Republik verarbeiteten, kann nicht überraschen. In den Verfassunggebenden Versammlungen saßen nicht wenige, die schon in der Weimarer Zeit politisch tätig gewesen waren, auch nicht wenige, die unter der Verfolgung der Nationalsozialisten schwer gelitten hatten. Die Verfassungen mancher Länder, so auch die des Freistaates Bayern, nehmen Bezug auf die Vergangenheit. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wurde in den Anfangsjahren nach 1949 oft gelesen und interpretiert als Gegenbild zur Weimarer Verfassung, deren „Fehler“ man bewusst vermeiden wollte. Das ist zwar eine Überzeichnung, und in der wissenschaftlichen Diskussion besteht heute Konsens darüber, dass Weimar keineswegs in erster Linie an seiner Verfassung scheiterte. Dennoch sind die Spuren der Verarbeitung früherer Erfahrungen im Grundgesetz unübersehbar. Ich beschränke mich auf die Aufzählung der diesbezüglichen Hauptelemente.
Am Anfang steht der Fundamentalsatz von der unantastbaren Würde des Menschen, auf deren Achtung und Schutz alle staatliche Gewalt verpflichtet wird. Das ist die Grundlage der wertgebundenen und abwehrbereiten Demokratie, die sich das Recht nimmt, ihre Gegner in die Schranken zu weisen; anders als die positivistisch verstandene Weimarer Verfassung, die dem demokratischen Prozess glaubte keinerlei Schranken setzen zu dürfen. Entsprechend gelten die im Grundgesetz formulierten Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht, als solches einklagbar und alle staatlichen Gewalten bindend. Dem entspricht, dass das Grundgesetz Verfassungsänderungen nur unter erschwerten Bedingungen zulässt und in Art. 79.3 sogar eine sogenannte Ewigkeitsklausel enthält, die die Art. 1 und 20 (die Grundrechtsbindung und Staatsgrundprinzipien) von jeder Verfassungsänderung ausnimmt. Die Weimarer Verfassung stand dagegen in jeder Hinsicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers.
Ein weiterer Grundzug unseres Grundgesetzes ist die Stärkung der Regierung, insbesondere des Bundeskanzlers, und die Beschränkung der Befugnisse des Bundespräsidenten auf repräsentative Aufgaben, was allerdings im Zusammenspiel der Organe mehr bedeutet, als nur das Gemeinwesen zu repräsentieren. Ganz wichtig ist aber, dass er im Unterschied zur Weimarer Verfassung über keinerlei Rechte im Notstand verfügt, welcher vielmehr erst Ende der 60iger Jahre eine komplizierte Regelung fand. Das Grundgesetz begründet eine rein parlamentarische Demokratie, praktisch ein enges Zusammenwirken von Parlamentsmehrheit und Regierung, und es verhindert, anders als die Weimarer Verfassung, dass das Parlament sich aus seiner Verantwortung stehlen kann im Vertrauen auf die Ersatzautorität eines Präsidenten. Das sogenannte konstruktive Misstrauensvotum gegen den Kanzler, inzwischen in vielen anderen Verfassungen nachgeahmt, soll eine nur negative Opposition des Parlaments verhindern.
Typisch für die „abwehrbereite Demokratie“ des Grundgesetzes ist schließlich, dass Gegner der Demokratie ihre Grundrechte verwirken können und dass verfassungsfeindliche Parteien verboten werden können. Für beides bedarf es eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts – womit schließlich das Verfassungsorgan genannt ist, das weit über den Staatsgerichtshof der Weimarer Zeit hinaus in vielerlei Hinsicht der eigentliche Hüter der Verfassung geworden ist.
Das alles sind institutionelle Regelungen, die aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit und aus dem damals weithin hilflosen Umgang mit seinen totalitären Gegnern gewonnen wurden. Sie wirken freilich nicht mechanisch, müssen vielmehr von der Politik ihrem Sinn nach angewandt werden. Die politische Stabilität eines Systems kann nicht von den Institutionen allein garantiert werden; sie hängt wesentlich davon ab wie die politischen Kräfte mit den Institutionen umgehen, und das hängt in erster Linie von der Politik der politischen Parteien ab. Dies soll abschließend mein Hauptthema sein.
3. Die politischen Parteien – Entwicklung und Akzeptanzprobleme
3.1 Die Entwicklung des Parteiensystems nach 1945
Im Unterschied zur Weimarer Verfassung registriert das Grundgesetz bekanntlich die Parteien positiv als Organe der politischen Willensbildung, unterwirft sie aber zugleich strengen Regeln, was ihre innere Ordnung, ihre Finanzierung und ihre Einstellung zum freiheitlichen Verfassungsstaat betrifft. Das Parteiensystem der Bundesrepublik erwies sich lange Zeit als ein Stabilitätsfaktor. Aus den noch bunten Anfängen entwickelte sich ein Zweieinhalb- oder Dreiparteiensystem. Die extremistischen Parteien von rechts und von links wurden vom Bundesverfassungsgericht verboten, die Sozialistische Reichspartei 1951, die Kommunistische Partei 1956. Die späteren zeitweiligen Erfolge der NPD, dann der Republikaner blieben sporadisch. Die SPD hatte sich unter ihrem ersten Vorsitzenden, Kurt Schuhmacher, schon klar gegen die KPD abgegrenzt und bildete im parlamentarischen System die starke Oppositionspartei, bis sie ab 1966 selbst Regierungsverantwortung übernehmen konnte. Die sehr viel kleinere FDP, die meistens für eine Koalition gebraucht wurde, vereinigte in sich die alten Linksliberalen (DDP in der Weimarer Zeit) und die Rechtsliberalen (die alte DVP).
Die Unionsparteien stellten in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Phänomen im Parteiensystem dar. Von ihren Gründern als Sammlungsbewegung gedacht sowohl zwischen den christlichen Konfessionen als auch zwischen sozialen, liberalen und konservativen Kräften, gelang es ihnen dank ihrer politischen Erfolge zunehmend, kleinere Parteien aufzusaugen. So verschwand faktisch die anfangs in Nordwestdeutschland noch starke katholische Zentrumspartei; die Bayerische Volkspartei spielte nur noch bis 1955 eine politische Rolle; die Deutsche Partei mit ihrem Schwerpunkt in Niedersachsen und der BHE (Partei der Heimatvertriebenen) ging anfangs der 60er Jahre in der Union auf. Neue gesellschaftlich-politische Probleme und besonders die Wiedervereinigung Deutschlands führten dann zu einer stärkeren Differenzierung des Parteiensystems, was hier nicht dargestellt werden muss.
3.2 Defizite in der Akzeptanz politischer Parteien.
Um die Akzeptanz der politischen Parteien in der deutschen Gesellschaft scheint es nicht sonderlich gut bestellt. Meine These dazu lautet, dass in dieser Hinsicht die Deutschen am wenigsten aus der Erfahrung der Weimarer Republik und der totalitären Parteidiktatur der Nazis gelernt haben. In Deutschland hat die Distanz des Durchschnittsbürgers zu den politischen Parteien Tradition. Man mochte und verstand ihren Streit nicht. Er störte die nationale Einheit. Diese Mentalität verdichtete sich gleichsam in berühmten Aussprüchen, die sich großer Zustimmung erfreuten. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 proklamierte Kaiser Wilhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Dabei war die Politik seiner Regierung parteiisch bis zu ihrem Untergang 1918. Auch die Ankündigung Hitlers im Jahr 1932, wenn er an die Macht komme, werde er die 30 Parteien aus Deutschland hinausfegen, fand große Zustimmung. Das Credo des Staatsrechtlers Carl Schmitt, der die NS-Diktatur theoretisch begründen half, lautete: Ein von Parteien beherrschtes Parlament löst die Staatsautorität auf. Nach 1945 wollten dann viele als „gebrannte Kinder“ von „Partei“ nichts mehr hören und aus ihrer Verführung durch die Nazi-Partei nicht lernen.
Unterschiedliche Forschungen zur politischen Kultur registrieren seit langem den gleichen Befund: Parteien rangieren, was ihre Beliebtheit betrifft, weit unten, im Unterschied etwa zu den Institutionen der Justiz, der Polizei, auch noch der Regierungen. Politikwissenschaftler und Journalisten bringen das seit langem auf den Begriff der Parteienverdrossenheit und suchen die Gründe dafür in erster Linie im Verhalten von Parteien und Politikern. Ich frage mich allerdings, ob die Wissenschaftler nicht auch nach Gründen für diese Verdrossenheit bei den Bürgern fragen müssten – ob diese denn hinreichend wissen, wofür Parteien in einer Demokratie da sind und nötig sind.
Man registriert heute in der Bevölkerung eine Zunahme an politischem Interesse, auch an politischer Aktivität, zumal bei jungen Leuten. Aber diese Aktivitäten äußern sich vor allem in Bürgerinitiativen für bestimmte Anliegen und in Protesten gegen anderes; viele fühlen sich dabei besser, auch im moralischen Sinn, als bei politischen Parteien, und man ist stolz darauf, wenn man etwas verhindern konnte. Fast alle politischen Parteien verlieren dagegen zusehends an Mitgliedern.
Dem moralischen Überlegenheitsgefühl von Aktivisten gegenüber politischen Parteien kann man nicht oft genug entgegenhalten: Jeder und jede, der oder die sich politisch äußert oder betätigt, ergreift Partei. Das Politische ist das gesellschaftlich Umstrittene, das verbindlicher Regelung bedarf. Diese muss jeweils im Streit gefunden werden, und darin ist jeder, der Stellung nimmt, Partei.
Diesen Streit ständig so zu führen, dass Verbindlichkeit, allgemein Geltendes möglich wird, ist die Grundaufgabe von Parteien. Diese sind nicht ersetzbar durch Initiativen und Bewegungen für oder gegen einzelne Vorhaben. Die Aufgaben politischer Parteien sind in jedem Handbuch der Politikwissenschaft leicht nachzulesen: Personalrekrutierung für politische Ämter; Bündelung unterschiedlicher Interessen und ihre Integration in ein politisches Programm (politische Willensbildung) für die Regierung einer heterogenen Gesellschaft. Das geht über die Tätigkeit der spezifischen Interessenverbände weit hinaus, weil eben die Integration einander widerstreitender Interessen immer geleistet werden muss. Aber große Interessenverbände haben Millionen Mitglieder, während die Parteien Mitglieder verlieren.
Die Aufgabe der Integration von Interessen zum Zweck der Regierung kann auf den politisch-ethischen Begriff des Gemeinwohls gebracht werden. Parteien, die eine Gesellschaft als ganze regieren wollen, müssen ein Konzept vom Gemeinwohl entwickeln. Sie sind gleichsam Konkurrenten im Finden des jeweiligen Gemeinwohls; denn dieses ist nicht irgendwie vorgegeben – das ist das alte Missverständnis in Obrigkeitsstaaten –, sondern es ist aufgegeben, es muss jeweils gefunden und in Bezug auf Problemlagen definiert werden.
Politische Parteien streiten also gewissermaßen stellvertretend für die Gesellschaft um das Gemeinwohl – um das, was allen am ehesten zuträglich oder wenigstens zumutbar ist. Viele wohlmeinende Bürger und erst recht „Spießbürger“ mögen aber den politischen Streit nicht. Aber dieser ist unvermeidlich, und er ist Ausdruck einer freien, aber heterogenen Gesellschaft, und er braucht die Konkurrenz von Parteien. Schon ein flüchtiger vergleichender Blick in die heutige Staatenwelt lässt erkennen, dass dort, wo es kein einigermaßen funktionierendes Parteiensystem im beschriebenen Sinn gibt, Demokratie keine Stabilität erlangen kann.