Kitabı oku: «Geist und Leben 2/2015», sayfa 3
Wo sind „wir“ anders? Ein Grenzdiskurs
Ganz praktisch treibt die ersten Christ(inn)en eine Konsum-Frage um:8 Die Stadt feiert auf den Straßen mit einer festlichen Prozession, anschließend werden die geopferten Rinder gebraten. Seltener kostenloser Fleischgenuss lockt: zugreifen oder ablehnen, verzichten und auffallen? Die Geschäftsfreunde laden ein, die Kolleg(inn)en treffen sich, die Delikatesse des Abends ist ein Braten – Fleisch aus einer heidnischen Opferzeremonie: vor allen Farbe bekennen, auf keinen Fall mit „den Götzen“ in Kontakt treten? Oder den ganzen Götzenkult für Humbug halten, im Stillen dem Schöpfer danken und zugreifen? Ist Götzenopferfleisch mit dem Christsein vereinbar?
Ein rigoroses „Nein“ kommt von den sog. Sendschreiben an die Gemeinden in Pergamon und Thyatira, Kleinasien (Offb 2,12–17.18–29; vgl. auch die Ablehnung der „Nikolaiten“ in Ephesus in Offb 2,6). Sie polemisieren gegen die falsche Lehre eines „Balaam“ bzw. der „Nikolaiten“ (2,6.14.15) und einer Prophetin „Izeabel“ (2,20).9 Die ist fix auf den Punkt gebracht: „Götzenopferfleisch essen“ und „huren“ (2,14.20)10. Ohne jegliche Interessen an deren theologischen Gründen werden die Träger(innen) dieser Position demontiert, der Kompromiss mit dem Mainstream abgelehnt.
Warum so rigoros? Die Sendschreiben ziehen eine akute Bedrohungskulisse auf. Ephesus hat Unbestimmtes „getragen wegen meines Namens“ (2,3); Mitgliedern der „bettelarmen“ und damit ohnehin marginalisierten Gemeinde in Smyrna (2,9) steht „Leid“, konkret ein Gefängnisaufenthalt und damit de facto ein Konflikt mit politischen Institutionen bevor (2,10) – mit möglicher Todesfolge (2,10f.). Die Gemeinde in Pergamon blickt schließlich auf die Tötung des „treuen Zeugen“ Antipas zurück (2,13). Die „Überwinder“-Sprüche am Ende jedes Sendschreibens sprechen die Sprache des Kampfes – Kräftemessen, Entmachtungsversuche, Verletzung. Auch wenn die Verursacher der Repressalien nicht beim Namen genannt werden, so stehen die Zeichen auf Abgrenzung von einer als feindselig empfundenen Umgebung. Überall, wo die Sendschreiben gelesen werden, stützt die Inszenierung eines Kaiser- und Götterkults das Imperium, die Stadtgemeinschaft, den Mainstream, die aktuellen Machthaber – für die Sendschreiben mit ihrer Erfahrung von Bedrängnis und Martyrium eine mythologisch eingedunkelte („Satan“) Machtsphäre. Sich mit ihr zu kompromittieren hieße in den Augen der Sendschreiben, sie zu verharmlosen, sich um ein Stück Fleisch an sie zu „verkaufen“ – v.a. aber, an der Grundfeste des Monotheismus zu rütteln.
Auch andere Protagonisten des Urchristentums lehnen den Genuss von Opferfleisch ab, stimmen also in der Sache überein – kommunizieren dies aber in ganz anderem Stil: Die Apostelgeschichte inszeniert eine entsprechende Auflage an Heid(inn)en als Weisung „von oben“, von einem Jerusalemer Leitungsgremium, die per Brief dekretiert wird (Apg 15,28f.). Den anspruchsvollsten Weg wählt sicher Paulus: Im (brieflichen) Dialog (vgl. 1 Kor 8–10)11 stellt er sich den Gegenargumenten – und versucht, zu überzeugen. Nicht zuletzt wirft er die Rücksicht auf die Anfechtungen des „schwachen“ Bruders in die Waagschale (1 Kor 8,1–13).
Alltägliche „Außenwirkungen“
Kontakt mit anderen Göttern ist also für Christ(inn)en tabu – doch was tun im viel weiteren Kontakt mit den „Anderen“ außerhalb der Mahlsituationen? Hier geben 1 Petr und Röm 12 Auskunft, auch aus einer Minderheits- und Unterdrückungserfahrung heraus (z.B. Röm 8,31–39; 1 Petr 2,11; 3,14–16; 4,14–16).
Die Christ(inn)en des 1 Petr haben ihr Leben neu ausgerichtet- und die „Anderen“ in ihrer Umgebungskultur hinter sich gelassen. Sie haben sich damit verbessert, wird doch das Frühere als „unnütz“ und „Unkenntnis“ deklariert (1,14.18). Die Innovation verdankt sich allerdings der Initiative Gottes. Aller neuer Lebenswandel reagiert auf die Erwählung, die Vorleistung Gottes: kein Grund zur Überheblichkeit ggü. denen, die den „alten“ Lebensstil beibehalten haben (1,14–2,10).
Von außen schlagen den Angesprochenen nun Verbalinjurien, Kriminalisierung und „Leiden“ entgegen. 1 Petr empfiehlt, darauf mit demonstrativ „guter“ Praxis zu reagieren: Der geforderte Abstand zu „fleischlichen Begierden“, so 1 Petr 2,11 summarisch, ist ein ethischer Topos der Umgebungskultur, in der Philosophie und Lebenskunst die menschliche Selbstkontrolle idealisieren. Ein gemeinsames Verständnis von moralisch gutem Leben ist notwendig, wenn sich 1 Petr nicht nur die Widerlegung der Verleumdung von außen erhofft (2,12; 3,16), sondern sogar damit rechnet, dass die Anderen aufgrund von Beobachtung den Gott der Christ(inn)en anerkennen werden (1 Petr 2,12; vgl. 3,1). Was ausstrahlt, sind ein harmonischer und loyaler Umgang miteinander;12 Mitleid und Demut13 – und der Ausstieg aus einem Vergeltungskreislauf (3,8f.), wie er sich bereits in jesuanischer Tradition findet (Mt 5,39–41.44f.; Lk 6,27–29). Darüber hinaus gilt es für die Christ(inn)en, sich dort unterzuordnen, wo – weit entfernt von Gleichheit der Person oder demokratischer Meinungsbildung – gesellschaftliche Übermacht herrscht: im Staat, im Haus (1 Petr 2,13–3,7). Wenn gefordert, sollen die Christ(inn)en auch zu einem verteidigenden „Wort von der Hoffnung“ greifen, doch dies im Stil von „Milde“, „Furcht“, mit „gutem Gewissen“, wiederum also in Bescheidenheit (1 Petr 3,15f.).
Die Analogien zu diesen Weisungen für Außenbeziehungen in Röm 12 sind, auch bei unterschiedlichen Akzenten, erstaunlich: „(9) … das Böse verabscheuend, am Guten hängend (vgl. 1 Petr 2,12; 3,11) … (12) in der Hoffnung euch freuend, in der Bedrängnis euch geduldend (vgl. 1 Petr 2,20) … (14) Segnet, die euch verfolgen, segnet, und verflucht nicht … (17) keinem Schlechtes für Schlechtes zurückgebend (vgl. 1 Petr 3,9), das Gute vordenkend vor allen Menschen. (18) Wenn es von euch aus möglich ist, mit allen Menschen in Frieden lebend (vgl. 1 Petr 3,11), (19) nicht euch selbst verteidigend – sondern gebt dem Zorn Raum, geschrieben ist nämlich: Mir gehört die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr (vgl. 1 Petr 2,23; 3,12). (20) Sondern: Wenn dein Feind hungert, mache ihn satt; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Wenn du nämlich das tust, wirst du Feuerkohlen auf seinen Kopf häufen. (21) Werde nicht vom Schlechten besiegt, sondern besiege mit dem Guten das Schlechte.“ (vgl. 1 Petr 3,13)14 Es scheint, als hätte sich der Weg der demonstrativen Güte und Zurückgenommenheit im Umgang mit „den Anderen“ bewährt.
Auf Kurs bleiben: Christliche „Fernbeziehungen“15
Was die Binnenbeziehungen angeht, gilt den Christ(inn)en auf der Face-to-Face-Ebene vor Ort das (kulturell etablierte) Ideal der Einmütigkeit – doch wie bleiben die verstreuten Grüppchen untereinander in Kontakt, geschweige denn Teil eines gemeinsamen Ganzen?
Erstes Mittel der Wahl sind – und das mag angesichts der Schwierigkeiten einer antiken Reise erstaunen – persönliche Begegnungen. Nicht nur die Missionare(n) wie Paulus und seine Mitarbeiter(innen) oder Petrus, die Brüder des Herrn und die übrigen Apostel (vgl. 1 Kor 9,5) reisen auf den Land- und Seewegen zwischen Palästina und Italien. Paulus hört durch die „Leute der Chloe“ vom Streit in Korinth (1 Kor 1,11); Stephanas, Fortunatus und Achaikus, wohnhaft in Korinth, besuchen Paulus in Ephesus (1 Kor 16,17); Paulus gibt Phoebe aus Kenchreae wohl seinen Brief nach Rom mit (Röm 16,1f.). Mit Selbstverständlichkeit hören wir bei Paulus von hoher Mobilität. Paradebeispiel ist das Ehepaar Priska und Aquila, ursprünglich aus Rom, von dort nach Korinth ausgewiesen (Apg 18,2), mit Paulus nach Ephesus übersiedelt (1 Kor 16,19), und wahrscheinlich wieder nach Rom zurückgekehrt (Röm 16,3–5). Den Reisenden bieten gerade die christlichen Schwestern und Brüder eine unkomplizierte Anlaufstelle in der fremden Großstadt. Wieder und wieder wünscht sich auch Paulus, persönlich zu kommen (z.B. Röm 15,22–24; 1 Kor 16,5–7). Ist das nicht möglich, dienen Briefe als nicht ganz adäquater Ersatz – die Dichte einer Face-to-face-Kommunikation können sie nicht erreichen.
Doch nicht immer verlaufen die Besuche anderer Christ(inn)en in den Gemeinden harmonisch. Teils tragen sie ihre jeweiligen Positionen herein: Verfechter(innen) der Beschneidung verunsichern die Galater(innen) (Gal 6,12f.); „Super-Apostel“ in Korinth stellen Paulus in den Schatten (2 Kor 11,5). Schon früh kommt es in Antiochia zum Eklat zwischen Petrus und Paulus, als dort „Jakobusleute“ aus Jerusalem auftauchen und Petrus vom Essen mit den „Heiden“ abbringen (Gal 2,11–14).
Gerade in puncto jüdischer Abgrenzungspraktiken reibt sich also das Urchristentum. Und dies, obwohl nach Darstellung des Paulus (Gal 2,1–10; differierend: Apg 15,1–35) hier ein praktischer Konsens zwischen dem Jerusalemer Führungsteam und einer Delegation aus Antiochia persönlich ausgehandelt worden war: Aufteilung der Missionsgebiete – die Judenchrist(inn)en im Jerusalemer Gebiet leben weiter mit den Abgrenzungsgeboten, die von Antiochia gegründeten heidnischen Gemeinden gleichberechtigt ohne.
Bei zwei nicht kompatiblen Theorien und Praktiken der Gemeinden erweist sich die Zusammengehörigkeit auf einer ganz anderen Ebene: durch eine Solidaritätsaktion (Gal 2,10). Paulus sammelt in einem groß angelegten Projekt unter seinen heidenchristlichen Gemeinden Gelder für die Armen des „anderen Flügels“ in Jerusalem (vgl. z.B. 1 Kor 16,1–4; 2 Kor 8f.; vgl. auch die Sammlung in Antiochia nach Apg 11,27–30). Röm 12,13 trifft den Nagel auf den Kopf mit dem Ideal, sich die Bedürfnissen der übrigen „Heiligen“ zu eigen zu machen und auch der Gastfreundschaft nachzujagen.
Rückschau
Diesen Rückblick auf die Klärungsprozesse in den verstreuten frühen Christengemeinden haben wir in komfortabler Lage vorgenommen: Im Panorama überblicken wir den gesamten Mittelmeerraum, im Zeitraffer sehen wir, wie sich Lösungen fanden und die Entwicklung fortschreitet. Zeit und Überlieferung haben eine chaotische Informationsfülle auf handliche Perikopen-Häppchen reduziert.
In den Herausforderungen jeweils aktuell erlebter Diasporasituationen fehlt all dies. Mit eingeschränkter Perspektive, emotional involviert in Verlusterfahrungen, stehen wir vor einem offenen Prozess – in dem morgen alles anders sein kann. Dennoch müssen wir uns hier und heute verhalten, als Personen, die dem Label „Christ(in)“ gerecht werden wollen: Position beziehen – Grenzen orten – Beziehungen eingehen. Vielleicht kann uns dabei bestärken, wie unbefangen sich die Christ(inn)en von damals in eine Diaspora-Situation begeben haben – ein paar Handvoll Leute in einer Großstadt. In schlichtesten, aber sinnenfälligen Ritualen wie der wöchentlichen Mahlfeier finden sie Rhythmus, Verankerung, Angenommensein; mit dem Mut zur höchstpersönlichen Anteilnahme pflegen sie Kontakt, auch über weite Strecken; wenn die christlichen Gruppen unter den „Heiden“ sich ganz praktisch mit Jerusalem solidarisieren, dann entsteht Einheit über inhaltliche Probleme hinweg; die wenigen Christusgläubigen begegnen den „Anderen“ mit einem großen Herzen, im Vertrauen auf die Kraft des Guten; ihr alltägliches Konsumverhalten – Stichwort Götzenopferfleisch – ist ein Statement, das auch „Andere“ zum Nachfragen veranlasst: ein Verzicht auf Genuss, auf willkommene Stärkung aus Überzeugung? Ein paar Handvoll Leute in einer Großstadt gestalten ihre Zwischen-Räume – wie wir glauben, letztlich durch die Zeiten geleitet.
Liturgische Anamnese
K
Stephan Wahle | Freiburg i.Br.
geb. 1974, Dr. theol. habil., Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Dogmatik und Liturgiewissenschaft der Universität Freiburg
stephan.wahle@theol.uni-freiburg.de
Das Gedächtnis im Heute feiern
Zur existenziellen Bedeutung liturgischer Anamnese
Mit der Erinnerung tun wir uns hierzulande sehr schwer.16 Besonders in Deutschland und Österreich bleibt Erinnerung auch 70 Jahre nach Kriegsende und dem Zusammenbruch eines menschenverachtenden Regimes, wie es die Welt nie zuvor gesehen hat, eine höchst umstrittene Angelegenheit. Der Theologe J. B. Metz hat sich immer wieder für eine „anamnetische Kultur“ stark gemacht, die an die Stelle historisierender Vergegenständlichung dieses Grauens tritt.17 Wiederholt hat er von der Bedeutung eines lebendigen Gedächtnisses im Sinne von „gefährlichen Erinnerungen“18 gesprochen, weil nach seinen Analysen eine Kultur auch gegenwärtige Strukturen von Ungerechtigkeit und Unfreiheit aufzudecken vermag, sofern deren Mitglieder um die Grundlagen der eigenen Kultur nicht nur wissen, sondern diese auch verinnerlichen. Doch welche Bedeutung hat noch ein nationales, kulturelles Gedächtnis in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft und angesichts globaler Vernetzungen? Zweifelsohne gehört Auschwitz zur Identität Deutschlands; gilt dies aber auch für die hier lebenden Migrant(inn)en? Und welche Rolle spielen die großen Erzählungen des Christentums für das Leben und Handeln in unserer Zeit, v.a. für die Vielen, die diesen Erzählungen nicht (mehr) trauen können? Auch wenn in politischen Dokumenten vielfach das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas beschworen wird, stellt sich die Frage nach der faktischen Relevanz und Lebenswirklichkeit von Erinnerungskultur in postmoderner Gesellschaft.
Gegen das Phänomen des Nicht-Mehr-Erinnern-Wollens und gegen die Skepsis über die Wahrhaftigkeit religiöser Überlieferungen steht das Zeugnis einer Liturgie, die in ihren vielfältigen Ausdrucksformen eine weit angereicherte Gedächtniskultur ist. Christliche Liturgie ist – wie auch die jüdische – wesentlich rituelle Vergegenwärtigung des Heilshandelns Gottes in der Geschichte. „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ – der Anamnesebefehl des Neuen Testaments, der das zentrale alttestamentlich-jüdische Erinnerungsgebot aufgreift und in christologischer Rezeption weiterträgt, bringt wie kaum ein anderes neutestamentliches Schriftwort den Inhalt christlichen Gottesdienstes auf den Punkt.
Liturgie wesentlich als Gedächtnisgeschehen zu interpretieren, ist jedoch nicht allein angesichts des gesellschaftlichen Kontextes problematisch. Aus theologischer Perspektive gelten immer noch die gegenreformatorischen Kanones über das Messopfer auf dem Konzil von Trient, wo es heißt: „Wenn jemand sagt, das Opfer der Messe sei nur ein Lob- und Dankopfer oder ein bloßes Gedächtnis (nudam commemorationem) des am Kreuz vollzogenen Opfers, nicht aber ein Sühnopfer; (…) gelte das Anathem.“19 Ein bloß mentales, subjektives Daran-Denken kann liturgische Anamnese also keineswegs meinen. Wie ist dann aber der vielschichtige Begriff „Gedächtnis“ in Bezug auf die Feier der Eucharistie und die christliche Liturgie insgesamt in rechter Weise zu verstehen, zumal Trient und auch das Zweite Vatikanische Konzil in Bezug auf das Messopfer doch von „memoria“20 oder „memoriale“21 sprechen?
Zur Beantwortung dieser Frage sollen in einem ersten Schritt einige Beispiele aus der Österlichen Dreitagefeier präsentiert werden, aus denen sich ein markanter Einblick in die spezifische Zeit- und Geschichtsstruktur römisch-katholischer Liturgie gewinnen lässt. Daran schließt sich eine liturgietheologische Erörterung an, die nach dem Zueinander menschlichen und göttlichen Gedenkens in der Liturgie fragt und dabei auf das Thema systematischer Liturgiewissenschaft zu sprechen kommt: das Verständnis von Zeit in der liturgischen Feier.22 Gegen Ende soll in einem kurzen spirituellen Ausblick die skizzierte Ausgangslage wieder aufgegriffen werden.
Einblick in das liturgische Zeitverständnis
Die grundlegende These lautet vorab: Wer dem umfassenden Sinngehalt christlicher Liturgie auf der Spur sein will, muss verstehen, wie die Liturgie die verschiedenen Ebenen menschlicher Zeitvorstellung – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – in Beziehung zueinander setzt. Diese These soll zunächst an drei Beispielen aus der Österlichen Dreitagefeier begründet werden. Das erste Beispiel stammt aus der Abendmahlsmesse am Gründonnerstag. Die Einleitung zu den Einsetzungsworten wird in dieser speziellen Messfeier um wenige Worte ergänzt: „Denn am Abend, an dem er ausgeliefert wurde und sich aus freiem Willen dem Leiden unterwarf – das ist heute –, nahm er das Brot und sagte Dank, brach es, reichte es seinen Jüngern und sprach: Nehmet und esset …“23 [Herv. SW]
Mit der Hinzufügung „das ist heute“ wird hier eine ganz spezifische Zeitstruktur explizit gemacht, welche unausgesprochen für jede Eucharistiefeier zutrifft. Die liturgische Feier des Gründonnerstags wird zu dem vergangenen und erinnerten Geschehen im Abendmahlssaal als gleichzeitig erachtet. In sprachlich fast nicht mehr aussagbarer Weise werden die Zeitebenen ineinander geschoben: Der Abend, an dem Jesus sich dem Leiden unterwarf, der ist heute!
Als zweites Beispiel ist die erste Auswahloration aus der Karfreitagsliturgie zu nennen, die nach einem stillem Einzug und der Prostratio oder dem Niederknien von Priester und Gemeinde vor dem leeren, ungeschmückten Altar gesprochen wird: „Gedenke, Herr, der großen Taten, / die dein Erbarmen gewirkt hat. / Schütze und heilige deine Diener, / für die dein Sohn Jesus Christus sein Blut vergossen / und das österliche Geheimnis eingesetzt hat, / der mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit.“24
Die gesamte Karfreitagsliturgie wird durch dieses in die Stille des Raumes gesprochene Gebet unter ein umfassendes Vorzeichen gesetzt: das Aufrichten eines Memorials an Gott. Es ist die Bitte um sein Gedächtnis, von dem die Erneuerung des in Kreuz und Auferstehung gewirkten Heils ausgeht. Mit dieser Bitte wird die Zielrichtung des Memorials der Karfreitagsliturgie nicht in die Vergangenheit, sondern in Richtung Zukunft gelenkt. Es ist der ewige Gott, der um das Gedächtnis seiner Heilstaten und so um sein Erbarmen für die gegenwärtig versammelte Gemeinde angerufen wird.
Schließlich ein drittes Beispiel aus dem Höhepunkt des Triduums, der Osternacht: Hier ist es das Exsultet, der eindrucksvolle Lobgesang auf die Osterkerze, der auf die spezifische Zeitstruktur dieser liturgischen Feier aufmerksam macht. Darin heißt es u.a.: „Dies ist ja das Fest der Ostern, / an dem jenes wahre Lamm getötet wird, / durch dessen Blut die Türen der Gläubigen gefeit sind. / Dies ist die Nacht, in der du am Anfang unsere Väter, die Nachkommen Israels, / nachdem sie herausgeführt waren aus Ägypten, / trockenen Fußes durch das Schilfmeer geleitet hast. / Dies also ist die Nacht, welche die Finsternis der Sünden / durch der Feuersäule Erleuchtung verscheucht hat. / Dies ist die Nacht, die heute auf der ganzen Erde Menschen, / die zum Glauben in Christus gekommen sind, / losgelöst von den Lastern der Welt und vom Dunkel der Sünde, / heimführt zur Gnade und den Heiligen zugesellt.“25
Durch das Exsultet als Ouvertüre der Osternachtsliturgie wird eine christozentrische Anamnese überschritten. Die gesamte Heilsgeschichte – angefangen von der Schöpfung, über die zentralen Heilserweise Gottes an seinem Volk Israel mit dem Exodusereignis als Interpretationsschlüssel in der Mitte, bis zur prophetischen Botschaft der messianischen Erlösung – wird in die eine Nacht der Ostern hineinverlagert. Im und mit dem Exsultet ziehen quasi die Gläubigen selbst zusammen mit dem Volk Israel durch das Rote Meer, durch die Wüste, über den Jordan ins gelobte Land, begleitet von Zweifel und Unglauben, Schuld und Umkehr. Und zugleich ist es Christus, der als ewiger Morgenstern, so am Ende des Gesanges, aus der Fülle der Zeit in das heutige Osterfest einbricht, um sich mit seiner Kirche zu verbinden. Schöpfung, Offenbarung und eschatologische Erlösung verschmelzen in der einen Nacht der Auferstehung Christi, die aber keine vergangene, sondern eine gegenwärtige Nacht ist.
Fragen wir nun aber konkret: Wie ist das zu verstehen, wenn in der Gedächtnisfeier des Letzten Abendmahls der Priester betet, dass nicht damals, sondern heute, im realen Moment der eucharistischen Versammlung Jesus das Leiden auf sich nahm? Warum muss Gott am Karfreitag überhaupt an seine großen Taten durch die Gedächtnisfeier seiner Gläubigen erinnert werden? Was hat es schließlich damit auf sich, das in der je heutigen Osternacht auch die „Nächte unserer Väter (und Mütter)“ gegenwärtig sein sollen? Mit anderen Worten: Was für eine Art von Gedenken wird hier praktiziert, das offensichtlich nicht bei einer individuellen Gedächtnisleistung von Menschen in ihrer sozialen, beziehungsweise kulturellen Verfasstheit aufgeht, das keine nuda commemoratio bildet? Rein logisch-rational müssen solche Formulierungen Verwunderung und Unverständnis hervorrufen.
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