Kitabı oku: «Geist und Leben 2/2016»
Inhalt
Heft 2 | April–Juni 2016
Jahrgang 89 | Nr. 479
Notiz
Mystik der offenen Augen
Saskia Wendel
Nachfolge
Mit Güte und Liebe Freunde gewinnen. Die Sendung des Johannes Bosco
Alois Kothgasser SDB
Eine Heilige der Dunkelheit. Mutter Teresa von Kalkutta und ihre Erfahrung der Gottesferne
Philipp Müller
Aktives Geben von uns selbst. Der algerische Christ Pierre Claverie OP
Christoph Benke
Bin ich der Hüter meines Bruders? Spiritualität für Immigrant(inn)en
Hung Trung Pham SJ
Nachfolge | Kirche
Der Gekreuzigte als Lebensspender
Josef Pichler
Wer ist Judas?
Margareta Gruber OSF
Ort des Verrats. Leben im Schatten von Plötzensee
Claudia Elisheva Kundrun OCD
Verrat zwischen Vorsehung und Freiheit. Sergij Bulgakovs Apologie des Judas
Regula Zwahlen
Nachfolge | Junge Theologie
Agnus Dei. Annäherung an ein Motiv nach Francisco de Zurbarán
Anna Albinus
Reflexion
Singt dem Herrn ein neues Lied. Vom geistlichen Gehalt Neuer Musik
Tobias Hermanutz
Gebet und Vorsehung im Offenen Theismus
Johannes Grössl
Das Ruusbroec-Institut. 90 Jahre Studium der Frömmigkeit in den Niederlanden
Guido de Baere SJ
Kirche (geht nur) mit* den Frauen
Maria Blittersdorf
Lektüre
Weisungen der Väter. Eine Buchreihe über „Urtexte der Mönchsväter und Ordensgründer“
Barbara Müller
Buchbesprechungen
Impressum
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Deutsche Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz; Satz)
Redaktionsbeirat:
Bernhard Bürgler SJ/Wien, Margareta Gruber OSF/ Vallendar, Stefan Kiechle SJ/München, Bernhard Körner/Graz, Simon Peng-Keller/Zürich, Klaus Vechtel SJ/Frankfurt, Saskia Wendel/Köln
Redaktionsanschrift:
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Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei:
Reihe Ignatianische Impulse, Echter Verlag
Lebendige Seelsorge, Echter Verlag
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Saskia Wendel | Köln
geb. 1964, Professorin für Systematische Theologie, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
Mystik der offenen Augen
Für viele Menschen scheinen Spiritualität, zumal eine von der Mystik geprägte, und Nachfolgepraxis nicht zusammenzupassen. Mystik und Spiritualität, so eine nicht selten vertretene Meinung, haben eine individualistische, ja privatistische Note, die Praxis der Nachfolge Jesu dagegen, die den christlichen Glauben wesentlich bestimmt, bedeutet v.a. Einsatz und Engagement für die Anderen. Geschieht die Nachfolge in der Welt, so richtet sich der mystische Weg doch augenscheinlich ins eigene Innere, in den „Grund der Seele“, in die „innere Burg“, und auch das Spirituelle hat für viele jedenfalls zunächst eher mit dem eigenen Erleben zu tun denn mit einer auf die Anderen bezogenen Nachfolgepraxis.
Doch Spiritualität und Nachfolge stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern gehören zusammen. Schon Meister Eckhart wusste darum, dass in einer mystisch geprägten Spiritualität „Maria“ und „Martha“, Kontemplation und Aktion, nicht voneinander getrennt werden können, sondern einander bedürfen und wechselseitig ergänzen. Und Teresa von Ávila formulierte deutlich: „Werke will der Herr! (…) Dies ist die wahre Vereinigung mit seinem Willen.“1 Oder um es in Anklang an Immanuel Kants Verhältnisbestimmung von Denken und Anschauung zu sagen: Nachfolgepraxis ohne Mystik ist blind, Mystik ohne Nachfolgepraxis leer. Letzteres akzentuierte etwa Dorothee Sölle so: „Die ‚Hinreise‘, die in Meditation und Versenkung angetreten wird, ist die Hilfe der Religion auf dem Weg der Menschen zu ihrer Identität. Christlicher Glaube akzentuiert die ‚Rückreise‘ in die Welt und ihre Verantwortung. Aber er braucht eine tiefere Vergewisserung als die, die wir im Handeln erlangen: eben die ‚Hinreise‘.“2
Gerade moderne Mystiker(innen) wie Dag Hammarskjöld oder Madeleine Delbrêl bezeugten jene Einheit von mystischer Spiritualität und Nachfolgepraxis in einer Mystik der Welt, gelebt im Alltag, bis hin zu einer Mystik des Politischen. Das mystische Erleben diente Hammarskjöld als Grund und Motivation für sein konkretes politisches Handeln, welches er als Nachfolgepraxis verstand, und Delbrêls soziales Engagement erwuchs aus der von ihr bezeugten religiösen Erfahrung der Nähe Gottes, die in die Praxis der Solidarität mit den Schwachen drängt: „Wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, dass diese Welt, auf die uns Gott gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist.“3
Dorothee Sölle hat darauf aufmerksam gemacht, dass hier die Unterscheidung von mystischem Innen und politischem Außen schwindet, und mit Johann Baptist Metz kann man von einer „Mystik der offenen Augen“ sprechen. Im Unterschied zu derjenigen der „geschlossenen Augen“ kreist sie nicht nur um das eigene Innere und die eigenen religiösen Erfahrungen, sondern sie sucht das Antlitz des Anderen, insbesondere der Opfer, der Leidenden und der im Unglück Verharrenden, mitten in Geschichte und Gesellschaft, mitten unter den ‚Leuten von der Straße‘. Metz versteht diese „Mystik der Compassion“ explizit als eine „Mystik der Nachfolge“ und diese wiederum als politisch:
„Glaube ist (…) Nachfolge, Nachfolge des armen, des leidenden und gehorsamen Jesus. In dieser Nachfolge leben heißt: mit den Menschen immer umgehen ‚etsi Deus daretur‘; das heißt: für sie und mit ihnen so handeln, daß in dieser Praxis die Anerkennung Gottes mitgesetzt ist. Wer aber in seiner Praxis die Anerkennung Gottes mitsetzt, der handelt mit einem unbedingten Willen zur Gerechtigkeit für die ungerecht Leidenden (…). Dieses Leiden ist in seinem Kern durchaus politisch. Die Mystik der Nachfolge ist eine politische Mystik des Widerstands gegen eine Welt, in der Menschen behandelt und mißhandelt werden ‚etsi Deus non daretur‘.“4
Gerade in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Situation braucht es solch eine „Mystik der Nachfolge“ und der „offenen Augen“ und v.a. diejenigen, die aus ihr leben und handeln: Menschen, die allen Widerständen zum Trotz und mit einer gewissen Unbeugsamkeit in der konkreten Anerkennung Anderer die unbedingte, grenzenlose und ungeschuldete Anerkennung Gottes bezeugen.
1 | Teresa von Avila, Die innere Burg. Zürich 1989, 101. |
2 | D. Sölle, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen. Stuttgart 91988, 1. |
3 | M. Delbrêl, Die Liebe ist unteilbar. Freiburg i.Br. 22002, 71. |
4 | J.B. Metz, Zum Begriff der neuen Politischen Theologie. 1967-1997. Mainz 1997, 97f. |
Alois Kothgasser SDB | Salzburg
geb. 1937, em. Erzbischof von Salzburg, Mitglied der Salesianer Don Boscos
Mit Liebe und Güte Freunde gewinnen
Die Sendung des Johannes Bosco
„Ich bin immer vorangegangen, wie Gott es mir eingab und die Umstände der Zeit es erforderten.“1 Dies bekannte der Turiner Priester, Ordensgründer und Erzieher Johannes Bosco (1815–1888) von sich, der neben Adolph Kolping u.a. zu den großen Sozialaposteln des 19. Jhs. zählt. Der 200. Geburtstag des Ordensgründers, von dessen geistlicher Familie 2015 auf vielfältige Weise gefeiert, ist Anlass, die Leitmotive der Sendung Don Boscos zu rekapitulieren.
Die Umstände der Zeit
Im Geburtsjahr Don Boscos 1815 endete der Wiener Kongress. Dem Untergang Napoleons folgte ein neuer Aufgang der europäischen Staaten unter der Dominanz Österreichs. Restauration und Romantik werteten den Glauben als Stabilisierungsfaktor der Gesellschaft und die religiösen Traditionen und Gefühle der Völker auf. Das enge Zueinander von Thron und Altar rief Initiativen hervor, welche Religionsfreiheit und die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat zum Ziel hatten. Wirtschaftliche und politische Krisen wie der Krieg zwischen Österreich und Piemont 1859 und das Ende des Kirchenstaates im Jahr 1870 kennzeichneten die Zeit ebenso wie antikirchliche Aktivitäten.
Johannes Bosco war geprägt von dem fruchtbaren Hügelland von Asti, aus dem er stammte. Weinberge, Mais- und Getreidefelder, Rinder- und Schafweiden kennzeichneten die Landschaft. Die Bevölkerung war mit Realismus wie mit Sinn für Arbeit und Familie ausgestattet.2 Nach dem frühen Tod des Vaters hielt die Mutter mit Hausverstand, Menschenkenntnis, Fleiß und tiefem Glauben die Familie zusammen. Das Leben in Gottes Gegenwart, die Mitfeier des Kirchenjahres und die Sorge für die anderen wurden Johannes mitgegeben: „Solange ich klein war“, schrieb Don Bosco, „lehrte mich meine Mutter beten. Sie ließ mich morgens und abends mit meinen Brüdern niederknien, und so beteten wir gemeinsam.“3 Früh lernte er aber auch Armut, Entbehrung und Arbeit kennen.
Ein wegweisender Traum
Zu seinen frühesten und bleibenden Erinnerungen zählt der „Berufungstraum“, der sich im Alter von 9 Jahren ereignete und sich in jeweils unterschiedlichen Formen 18 Jahre hindurch wiederholte: „Mit neun Jahren hatte ich einen Traum, der mir mein ganzes Leben im Gedächtnis blieb. Mir schien, als wäre ich in der Nähe unseres Hauses, in einem weiten Hof, wo eine große Schar von Buben spielte. Einige lachten, nicht wenige fluchten. Als ich das Fluchen hörte, stürzte ich sofort auf sie und suchte sie mit Schlägen und Schimpfen zum Schweigen zu bringen. In diesem Augenblick erschien ein ehrwürdig aussehender, vornehm gekleideter Herr. Sein Gesicht leuchtete so stark, daß ich es nicht anschauen konnte. Er rief mich beim Namen und sagte: ‚Nicht mit Schlägen, sondern mit Güte und Liebe wirst du sie als Freunde gewinnen‘.“ In weiterer Folge wird Johannes „neben dem Herrn“ auf „eine Frau von majestätischem Aussehen“ verwiesen. Inzwischen haben „Ziegen, Hunde, Katzen, Bären und einige andere Tiere“ die Stelle der Bubenschar eingenommen. Die „Lehrmeisterin“ erklärt ihm: „Siehst du, das ist dein Arbeitsfeld. Werde demütig, tüchtig und stark, und was du jetzt an diesen Tieren geschehen siehst, sollst du für meine Kinder tun“: Sie mögen „anstelle der wilden Tiere sanfte Lämmer“ werden.4 Gewiss könnte die Traumforschung aus heutiger Sicht Manches zur Auslegung dieses Traumes beitragen. Tatsache ist, dass Johannes Bosco beide vorkommenden Gestalten, obwohl nie ausdrücklich mit Namen genannt, stets auf Christus und Maria hin deutete. Hier finden sich die Grundelemente seiner Sendung.
Theologische Grundlinien
Don Bosco sah die konkrete Situation der verwahrlosten Jugendlichen in Turin: viele ihrer ländlichen Heimat entwurzelt, oft arbeitslos, kaum Bildungschancen, vielen Gefahren ausgesetzt, unwissend in religiösen Fragen. Der 1841 geweihte Neupriester, dem eine glänzende kirchliche Karriere offengestanden hätte, trifft eine „Option für die Armen“ und wendet sich mit voller Energie den Schwachen zu. Er war von der Notwendigkeit und Wirkkraft des priesterlich-apostolischen Einsatzes zutiefst überzeugt. Er glaubte an die von tiefem Verantwortungsbewusstsein getragene Mitarbeit des Menschen am Heilswirken Gottes, d.h. theologisch gesprochen an die universale Erlösung sowie an die Notwendigkeit und Dringlichkeit ihrer Vermittlung und Aneignung, überschattet von einer gewissen Heilsangst. Er war sich bewusst: Das Heil der anderen liegt zu einem guten Teil in den Händen der Seelsorger. Dieser Gedanke ließ ihn ein Leben lang nicht los. Sein Leitspruch war – in spiritueller Abwandlung von Gen 14,21 – da mihi animas, caetera tolle („Herr, gib mir Seelen, alles andere nimm“). Immer wieder zitiert er Pseudo-Dionysius Areopagita: „Das göttlichste aller göttlichen Werke ist es, mit Gott mitzuarbeiten an der Rettung der Menschen.“ Nicht selten betont er: „Wer einen Menschen zum Heil führt und rettet, hat sein eigenes Leben vorherbestimmt.“ Darum setzt er alle Mittel ein und bringt so viele Menschen als nur möglich in Bewegung, für dieses höchste aller Ziele zu arbeiten. Die Jugendlichen werden zu Aposteln ihrer Altersgefährten. Don Bosco war zuerst Priester, dann Erzieher. Die liebende Sorge des Guten Hirten bewegte ihn. Deshalb ist pastorale Liebe die Mitte des salesianischen Geistes.
Christus stirbt nicht
Johannes Boscos apostolisches Bemühen ist getragen von einem tiefen Verständnis für die Bedürfnisse und die Situation der Jugendlichen. Er will Gottes Liebe spürbar machen. Darum sucht er in Nachahmung des hl. Franz von Sales die Barmherzigkeit des Vaters und Christus als den Guten Hirten zu vergegenwärtigen. Don Alberto Caviglia, einer der besten Kenner Don Boscos, schreibt dazu: „Er hatte uns gern, er liebte uns, wir spürten es: Die ‚amorvolezza‘, die er zu einer der Grundsäulen seines Erziehungssystems machte, bedeutete einfach: die Jugendlichen gern haben, sie lieben.“5
Bereits der Berufungstraum verwies ihn auf Christus, den Guten Hirten. Der erste Entwurf der Konstitutionen der neu gegründeten Salesianer-Gemeinschaft aus dem Jahr 1858 nimmt dieses Bild im ersten Artikel auf. Und noch in seinem geistlichen Testament aus dem Jahr 1884 heißt es: „Unser wahrer Obere, Christus Jesus, stirbt nicht. Er wird immer unser Meister sein, unser Führer, unser Leitbild. Aber haltet daran fest, daß er zu seiner Zeit auch unser Richter sein wird und der Belohner für unsere Treue in seinem Dienst.“6
Vereinigung mit Gott
Woher schöpfte Don Bosco seine Liebe zur Jugend? Woher nahm er die Kraft, mit seinem ganzen Leben für sie da zu sein? Hier stößt man auf die Vereinigung mit Gott. Seine Maxime war nicht: ora et labora, sondern eher ora laborans oder auch labora orans. Darum wurde sein Leben auch als eine einzige und einzigartige „Vereinigung mit Gott“ bezeichnet. Es handelt sich um die „Gnade der Einheit“ von Aktion und Kontemplation, Gebet und Arbeit, die dazu helfen sollte, „jenen unermüdlichen Arbeitseifer zu erreichen, der geheiligt ist durch das Gebet und die Vereinigung mit Gott. Das sollte das charakteristische Kennzeichen der Söhne des heiligen Johannes Bosco sein.“7 Der Jugendapostel von Turin lebte, als sähe er den Unsichtbaren (vgl. Hebr 11,1–7). Hier ist auch der tiefste Grund seiner auffallenden Ruhe, seiner gleichbleibenden Güte und seiner steten Freundlichkeit zu suchen, obwohl ihn ein Berg von Arbeit belastete.8
Im Vertrauen auf Maria
Don Bosco war ein Kind seiner Zeit. Gegenreformatorische Theologie und Frömmigkeit waren vorherrschend. Seelsorger und Katecheten förderten besonders die Marienverehrung unter dem Titel „Hilfe der Christen“. Indifferentismus, Unglaube und Hass gegen die Kirche machten sich da und dort breit. Maria wurde immer mehr als Vermittlerin zwischen Himmel und Erde angerufen. Wie sich Don Giovanni Cagliero, der spätere Kardinal erinnert, sagte Don Bosco zum Jahreswechsel 1862/1863: „Die Muttergottes will, daß wir sie unter dem Titel Maria, Hilfe der Christen, verehren. Die Zeiten sind so trist, daß wir es wirklich nötig haben, daß uns die Heilige Jungfrau hilft, den christlichen Glauben zu bewahren und zu verteidigen.“9 Ähnlich wie L. Grignon de Montfort lebte Don Bosco in einem Klima „marianischer Eschatologie“. Die gleichsam endzeitlichen Bedrängnisse riefen das Bedürfnis nach Hilfe und Schutz durch die mächtige Jungfrau hervor. Er war von ihrer mütterlichen Gegenwart und ihrem Schutz in den salesianischen Niederlassungen zutiefst überzeugt. Er stand in einer sehr persönlichen Beziehung zu ihr als Mutter, Lehrmeisterin und Helferin. Ohne diese, gewiss von der Eigenart seiner Zeit geprägten, intensiven Marienverehrung ist Don Boscos Werk nicht zu begreifen.10
Leitbild und Namensgeber
Franz von Sales galt als das bevorzugte Modell der Seelsorge im Priesterkonvikt von Turin. Wieviel Don Bosco von den großen Werken des „Lehrers der Gottesliebe“ gelesen hat, ist nicht bekannt. Gelegentlich zitierte er ihn. Er fand sich zur Gänze wieder in den Ausführungen über die Möglichkeit der Heiligung für alle, wie dies in der Philothea zum Ausdruck kommt. Es waren zwei Eigenschaften, die Don Bosco am Bischof von Genf faszinierten: der unermüdliche apostolische Eifer und die unerschütterliche Treue zur Kirche sowie die von Christi Vorbild getragene Güte und Sanftmut bei der Ausübung seines seelsorgerlichen Dienstes, seine Liebe und Freundlichkeit in den Umgangsformen.11 Im Alter von 26 Jahren fasste Don Bosco Vorsätze für sein priesterliches Leben. Einer lautete: „Die Liebe und die Güte des hl. Franz von Sales sollen mich in allen Dingen leiten.“12
Treue zu Kirche und Papst
Don Boscos reiche Kenntnis der Kirchengeschichte, sein gegenreformatorisches Wirken und nicht zuletzt die politische Situation der Kirche im damaligen Italien ließen ihn zum Anwalt der Kirche und des Papstes werden. Italien fand 1861 seine politisch-nationale Einheit, erfochten von zumeist liberalen und antikirchlichen Kräften. 1870 brach der Kirchenstaat zusammen. Für viele schien dies nahezu das Ende der Kirche zu bedeuten. Don Bosco verteidigte das im I. Vatikanischen Konzil erneut gefestigte Papsttum unablässig: „Jede Mühe scheint gering, wenn es um die Kirche und das Papsttum geht.“13 Er schrieb 1867: „Wer eins ist mit dem Papst, ist auch eins mit Christus, und wer dieses Band zerreißt, erleidet Schiffbruch auf dem stürmischen Meer und geht elend zugrunde.“ Mit Recht wird heute betont, dass Don Boscos Kirchlichkeit im historischen Kontext zu sehen und aus manchen Engführungen wie streng konfessionellem Denken, apologetisch-defensiver Einstellung etc. zu befreien ist. Die Grundlinien der Kirchlichkeit nach dem II. Vatikanischen Konzil – die Betonung der Mitverantwortung und Mitbeteiligung aller in der Kirche, innerkirchlicher und ökumenischer Dialog, Kirche als Communio – entsprechen dem Geist Don Boscos zutiefst.
Ein wegweisendes Wort
Nimmt man die Grundlinien der Spiritualität Don Boscos zusammen, zeigt sich, dass das eingangs erwähnte Wort – „Ich bin immer vorangegangen, wie Gott es mir eingab und die Umstände der Zeit es erforderten“ – seine geistliche Gestalt zutreffend charakterisiert. Seine Quelle war das Leben Gottes selbst und die Sendung Gottes zum Menschen. Der rechte und ausführliche Umgang mit Gott führt auch zum rechten Umgang mit den Menschen. Er stand bei den Armen und Kleinen, weil er so tief und so sehr bei Gott stand. Es braucht auch heute prophetische Initiativen, die von Gott her auf die Menschen schauen – und umgekehrt, um die drängenden Fragen der Zeit und der jungen Generation zu beantworten.
1 | G. B. Lemoyne / A. Amadei / E. Ceria, Memorie Biografiche di S. Giovanni Bosco, Bd. I–XIX (= MB). Turin 1898–1948; hier: MB XVIII, 127. |
2 | Vgl. A. M. Kothgasser, Der Geist Don Boscos als Erbe und Auftrag. München 1981, 6. |
3 | T. Bosco, Don Bosco. Sein Lebensweg – sein Lebenswerk. München 1987, 32. |
4 | G. Bosco, Memorie dell Oratorio di S. Franceso di Sales dal 1815–1855 (= MO). Turin 1946, 23f. |
5 | Vgl. ders., Don Bosco. Profilo storico. Turin 1943, 91. |
6 | MB XVII, 258 [s. Anm. 1]. |
7 | Konstitutionen der SDB 1984, Art. 95. |
8 | S. dazu B. Maier / M. Maxwald (Hrsg.), Don Bosco Mystiker und Manager. Gottverbundenheit im aufreibenden Alltag. Zum 200. Geburtstag von Johannes Bosco 1815–2015. München 2015. |
9 | MB VII, 334 [s. Anm. 1]. |
10 | Vgl. zum Ganzen P. Stella, Don Bosco nella storia della religiosità cattolica. Bd. II: Mentalità religiosa e spiritualità. Rom 1969 (21979), 147–175. |
11 | Vgl. dazu A. Pedrini, Francesco di Sales e Don Bosco. Rom 1983; B. Gesing, Der hl. Johannes Bosco – ein geistlicher Schüler des hl. Franz von Sales? Eine spiritualitätsgeschichtliche Studie über das Verhältnis Don Boscos zu Franz von Sales (Benediktbeurer Schriftenreihe zur Lebensgestaltung im Geiste Don Boscos, 43). Benediktbeuren 2014. |
12 | MO, 115 [s. Anm. 4]. |
13 | MB V, 577 [s. Anm. 1]. |