Kitabı oku: «Geist und Leben 3/2015», sayfa 2
Kritik an Kirche und Christentum
Manches von dem, was Simone Weil außerhalb der Kirche hielt, ist durch die Theologie des 20. Jhs. und durch das II. Vaticanum im Sinne Weils weiterentwickelt worden. Sie hätte sich mit Sicherheit darüber gefreut, dass das Pastoralkonzil anders als die Vorgängerkonzilien kein einziges anathema sit mehr ausgesprochen hat, galt doch der Gebrauch dieser beiden kleinen Wörter für sie als das größte Hindernis für ihren Eintritt in die Kirche.16 Auch die letztlich positive Beurteilung anderer Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, besonders aber die Anerkennung eines „Strahls der Wahrheit“ in anderen Religionen wäre ganz in ihrem Sinn.17 Hätte Weil die Erklärung des Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen lesen können, wäre ihr der Schritt über die Schwelle der Kirche vermutlich leichter gefallen.18
Andere ihrer Kritikpunkte und Anfragen sind hingegen ungebrochen aktuell. Da ist zum einen die Mahnung zur Entweltlichung: Für Weil war es das Grundübel des Christentums, dass es sich zu sehr auf die Macht des Römischen Reiches eingelassen und damit die dem Evangelium gemäße Armut und Unschuld verloren hat: „Die Schönheit der Welt ist im Christentum fast verloren gegangen, weil das Römische Reich aus ihm eine politische Religion gemacht hat.“19 Eine solche Verweltlichung und Politisierung reicht bis in die Eschatologie: „Wie sehr muss das Römische Reich das Christentum vergiftet haben, damit sie das Paradies wie den Hof eines Kaisers beschreiben?“20 Spätestens mit Konstantin habe die Kirche eine Macht gewonnen, die zur Folge hatte, dass sie ihre spirituelle Kraft – die sie in den ersten Jahrhunderten im Dialog mit der griechischen (v.a. platonischen) Philosophie noch hatte – mehr und mehr verlor.
Daneben kritisiert Weil v.a. das hebräische Denken, das für sie nationalistische Züge hat. Nur einige Stellen von Ijob, Jesaja, Daniel, Ezechiel und aus den Psalmen lässt sie als kompatibel mit der „wahren Religion der Liebe“ gelten. Das Grundproblem der Kirche liegt für Weil darin, dass „Israel und Rom dem Christentum ihren Stempel aufgedrückt [haben], Israel dadurch, dass das Alte Testament als heiliger Text übernommen wurde, Rom dadurch, dass es das Christentum zur Staatsreligion machte, was dem gleichkam, wovon Hitler träumte.“21 Damit haben beide zur Entwurzelung des Christentums beigetragen und die Kirche trägt heute durch die Mission zur Entwurzelung der Völker Afrikas, Asiens und Ozeaniens bei.
Damit verbunden ist ein zweiter beständiger Kritikpunkt Weils, den man mit der (fehlenden) Demut vor dem Geheimnis bezeichnen könnte. Diese ist in der Kirche immer dann nicht zu spüren, wenn man das Übernatürliche gleichsam in Gebote, Gesetze, Dogmen und Verbote pressen möchte. Einer zu engherzigen Theologie fehlt es für Weil am Respekt vor dem Universum, in dem Gott verborgen und gestaltlos zugegen ist. In diesem Sinn sprechen die Christ(inn)en (und zwar sowohl Katholiken als auch Protestanten) manchmal zu viel von den heiligen Dingen, wo sie diese besser im Schweigen anbeten sollten.
In diesem Zusammenhang ist auch auf die so gen. kontextuelle Theologie und die Diskussion um die pluralistische Religionstheologie hinzuweisen. Wo steht Weil in dieser Diskussion? Für eine inklusivistische Position spricht bei ihr, dass ihre persönliche mystische Beziehung und Verehrung für Christus größer war als die für Platon, Herodot, Dionysos, Buddha, Krishna, Osiris oder andere Offenbarer der göttlichen Wahrheit. Für einen Pluralismus bzw. Universalismus spricht hingegen, dass sie von ihrem philosophischen Denken her eindeutig die Position vertritt, dass Gott in allen Religionen und Kulturen präsent ist, ja sie bezeichnet Osiris und Krishna „vielleicht“ als Inkarnationen des Logos vor Christus.22
Auch wenn man Weil nicht in allen ihren Ausführungen hinsichtlich der Mystik folgen mag, verdient ihre Aussage, dass die Mysterien nicht „zu Gegenständen des Glaubens verkommen“23 dürfen, Zustimmung. Notwendig ist eine demütige, mystagogische Theologie, die sich von anderen Religionen und Kulturen berühren lässt, ohne ihr eigenes Proprium aufzugeben. Denn bei aller Offenheit für andere Religionen und Mythologien findet sich bei Weil immer auch eine klare Christozentrik: „Man sollte meinen, mit der Zeit wäre es so weit gekommen, dass nicht mehr Jesus, sondern die Kirche als der hienieden inkarnierte Gott galt.“24 Der Unterschied besteht für sie darin, „dass Christus vollkommen war, während die Kirche mit zahllosen Verbrechen besudelt ist“ (ebd.). Dem entspricht, dass nicht das Bild vom mystischen Leib Christi für sie entscheidend ist, sondern das paulinische vom in uns wohnenden Christus (Gal 2,20). Man kann auch ohne die „Freude, dem mystischen Leib anzugehören“, Christus treu sein bis in den Tod.
Weitherzigkeit hinsichtlich der Spendung der Sakramente wäre ein weiteres Motiv, das sich aus ihren Texten ergeben könnte. Die Kirche hat nach Weil nicht das Recht, Menschen, die aufgrund ihrer Vernunfteinsicht zu einer anderen Überzeugung in Glaubensfragen gekommen sind, die Sakramente zu verweigern, denn sie haben „vielleicht keine Sünde begangen“. Man darf „sie des Brotes des Lebens [nicht] berauben.“25 Andererseits schreibt sie, dass „das Amt der Kirche als kollektive Bewahrerin des Dogmas (…) unentbehrlich [ist]. Sie hat das Recht und die Pflicht, jeden, der sie in dem besonderen Bereich dieses Amtes ausdrücklich angreift, mit der Entziehung der Sakramente zu bestrafen.“26 Weil erkennt der Kirche also durchaus eine Schutzfunktion gegenüber falschen Lehren zu. Sie darf feststellen, dass manche Meinungen irrig sind. Aber sie darf niemanden zwingen, etwas zu glauben, was sie von ihrer Vernunfteinsicht nicht glauben und annehmen können. Es darf keine „Verpflichtung der Intelligenz“27 geben. Offen bleibt, wie sich die Kirche bei der Zulassung zu den Sakramenten gegenüber sündigen Menschen verhalten soll.
Trotz ihres tiefen Verständnisses für den Sinn des Sakramentalen zeigt Weil gelegentlich die Tendenz, den Sakramentenempfang synkretistisch zu spiritualisieren: „Alle, die die Nächstenliebe und die Hinnahme der Weltordnung, einschließlich des Unglücks im reinen Zustand besitzen, all diese, ob sie auch dem Anschein nach als Atheisten leben und sterben, sind gewiss gerettet (…) Sie sind neu geboren worden aus Wasser und Geist, auch wenn sie niemals getauft wurden; sie haben das Brot des Lebens gegessen, auch wenn sie niemals kommuniziert haben.“28 Nach ihr braucht der Mensch weder die reale Taufe noch die Kommunion. Er hat diese längst empfangen durch die Liebe und Sehnsucht nach dem Göttlichen und der Schönheit der Welt. Dennoch kann Weil nicht zur Anwältin einer liberaleren Praxis der Sakramentenspendung gemacht werden. Ihre Sicht geht über die rechtliche Frage der Zulassung hinaus und richtet sich auf den innersten Kern der Gottesbeziehung, der im Letzten unabhängig von kirchlichen Vorgaben ist.
Mystikerin innerhalb und außerhalb des Christentums
Die Widersprüchlichkeit in den Aussagen Weils in Bezug auf Christentum und Kirche bleibt auch nach dem Durchgang durch einige ihrer wichtigsten Schriften bestehen. Sie selbst bezeichnete sich als „Christin außerhalb der Kirche“29: „Ich habe immer als einzig mögliche Haltung die christliche Haltung angenommen. Ich bin sozusagen im christlichen Geist geboren, aufgewachsen und immer darin verblieben.“30 Dabei identifiziert sie sich besonders mit dem Katholizismus: „Wenn es eine religiöse Tradition gibt, die ich als mein Erbe ansehe, so ist es die katholische Tradition.“31 Insofern sie durchdrungen ist von der Liebe zum Gekreuzigten, insofern das Evangelium für sie die volle Wahrheit geheimnisvoll beschreibt und die Sakramente das Heil in Fülle enthalten, kann man Weil tatsächlich als Christin bezeichnen. Dies wird dadurch bestätigt, dass die Beschäftigung mit anderen Religionen und mystischen Traditionen des Ostens und der Antike letztlich in ihr die Liebe zu Christus verdoppelt haben.32
Dennoch wäre Weils „Christentum“ noch einmal näher zu bestimmen. Wenn es tatsächlich weniger im Katechismus und den Dogmen, sondern mehr in der Mystik und der Liturgie liegt, muss man fragen: Kann man diese beiden Seiten (anders formuliert: Amt und Charisma) so gegeneinander ausspielen? Muss an Weil nicht selbst die Frage gestellt werden, ob sie das Christentum, das immer kirchlich vermittelt ist oder eben nicht ist, überhaupt richtig verstanden hat? Umgekehrt hat sich die Kirche die Frage zu stellen, ob sie die Beschäftigung mit der christlichen Mystik und den mystischen Traditionen aller Zeiten nicht vertiefen müsste, um im Dialog mit anderen Religionen zukunftsfähig zu bleiben. Seit dem II. Vaticanum sind ermutigende Fortschritte gemacht worden, auch von lehramtlicher Seite (wenn man an die positiven Beurteilungen anderer Religionen der letzten drei Päpste denkt). In diesem Sinn ist ihr mystischuniversales „Christentum“ weiterhin inspirierend.
Weil bleibt eine Grenzgängerin zwischen dem Christentum und den mystischphilosophischen Traditionen anderer Völker und Zeiten. Sie steht auf ihre ganz eigene Weise an der „Peripherie“, am Rand, auf den wir nach den Worten von Papst Franziskus nicht nur in sozialer, sondern auch in religiöser und kirchlicher Hinsicht blicken sollen. Mit ihrer philosophischen Position bewegt sich Weil auf einer Schwelle, die es ihr erlaubt, den Blick von innen und von außen auf Kirche und Christentum zu lenken. Damit kann sie zu einer Horizonterweiterung beitragen und eine Art Anwältin einer „philosophischen Reinigung“ werden: „Die philosophische Reinigung der katholischen Religion hat nie stattgefunden. Um sie durchzuführen, muss man drinnen und draußen stehen.“33 Simone Weil stand mit ihrem Leben und Denken tatsächlich drinnen und draußen und kann damit heute Inspiration sein, um Brücken im interreligiösen Dialog zu schlagen und darüber hinaus den tiefen Schatz der eigenen mystischen Tradition neu zu entdecken.
1Zu ihrer Biographie vgl. S. Pétrement, La vie de Simone Weil, 2 Bd. Paris 1973 (dt. Übersetzung von E. Fischer, Simone Weil. Ein Leben. Leipzig 2008). Vgl. auch J.M. Perrin / G. Thibon, Wir kannten Simone Weil. Paderborn 1954; J. Cabaud, Simone Weil. Die Logik der Liebe. München 1968; E. T. Winter, Weltliebe in gespannter Existenz. Grundbegriffe einer säkularen Spiritualität im Leben und Werk von Simone Weil (1909–1943). Würzburg 2004.
2S. Weil, Das Unglück und die Gottesliebe. Mit einem Vorwort v. T.S. Eliot. München 21961, 60 (= UG).
3J.M. Perrin / G. Thibon, Wir kannten Simone Weil, 69 [s. Anm. 1].
4Vgl. S. Weil, Lettre à un religieux. Paris 1951. Hier zitiert in der dt. Übersetzung von F. Kempf: S. Weil, Entscheidung zur Distanz. Fragen an die Kirche. München 1988 (= ED), 37: „Die Kirche ist nur in einer einzigen Hinsicht vollkommen rein: als Bewahrerin der Sakramente. Nicht die Kirche ist vollkommen, sondern Christi Leib und Blut auf dem Altar.“
5Vgl. zum Thema Weil als Mystikerin J. Cabaud, Simone Weil, 172–187. 257–272 [s. Anm. 1]; R. Kühn, Vom Rationalismus zur personalen Transzendenz. Simone Weils religiöse Entwicklung, in: Ephemerides carmeliticae 36 (1985), 83–120; E. T. Winter, Weltliebe, 41–59 [s. Anm. 1]. Biographisch fallen die mystischen Erlebnisse Weils in das Jahr 1938 sowie in ihre Zeit in Paris und Marseille (1940–42). Die erste entscheidende Wende zum Christentum lässt sich aber schon in die Jahre 1935/36 datieren.
6Vgl. zum Folgenden UG 47–51 [s. Anm. 2].
7Vgl. den Text des Prologs bei J. Cabaud, Simone Weil, 184f. [s. Anm. 1] bzw. R. Kühn, Rationalismus, 105f. Zur Interpretation vgl. ebd., 104–120 [s. Anm. 5].
8S. Weil, Cahiers. Aufzeichnungen. Hrsg. und übers, von E. Edl / W. Matz. 4 Bd. München 1991/1993/1996/1998, hier: Cahiers 3, 128.
9S. Weil, Cahiers 4, 309 [s. Anm. 8].
10 Ebd., 313 [s. Anm. 8].
11 S. Weil, Cahiers 2, 155 [s. Anm. 8].
12 UG, 201 [s. Anm. 2].
13 UG, 214 [s. Anm. 2].
14 S. Weil, Cahiers 2, 297 [s. Anm. 8].
15 Demgegenüber tritt die Bedeutung der Auferstehung und der Wunder stark zurück. Vgl. ED, 45: „Wenn in den Evangelien jede Erwähnung der Auferstehung Christi fehlte, fiele es mir leichter zu glauben. Das Kreuz allein genügt mir.“ [s. Anm. 4].
16 Vgl. UG 61f.: „Ich bleibe auf Seiten aller Dinge, (…) die in die Kirche, dieses universale Haus der Aufnahme, keine Aufnahme finden können, aufgrund dieser beiden kleinen Wörter.“ [s. Anm. 2].
17 Vgl. R. Wimmer, Simone Weil. Person und Werk. Freiburg i. Br. 2009, 186: „Weil hätte dieses Umdenken zweifellos freudig begrüßt, zugleich aber eine energischere (…) Auseinandersetzung gefordert.“
18 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate), Art. 2.
19 S. Weil, Cahiers 4, 126 [s. Anm. 8].
20 Ebd., 227 [s. Anm. 8].
21 ED, 35 [s. Anm. 4].
22 Siehe zum christl. Universalismus v.a. S. Weil, Lettre à un religieux, Paris 1951 (dt. ED). Vgl. ebd., 27. 53: „Die unterschiedlichen authentischen religiösen Überlieferungen sind unterschiedliche Reflexe derselben Wahrheit, und vielleicht gleicherweise kostbar.“ [s. Anm. 4]. R. Wimmer, Simone Weil, 188, unterscheidet zw. exklusivem, inklusivem und relationalem Universalismus; er sieht bei Weil letzteren gegeben. Dieser wird definiert als „offen für die Anerkennung und Übernahme religiöser Wahrheiten aus anderen religiösen Lebensformen.“ Doch bleibt fraglich, ob Weil wirklich alle religiösen, mythischen und philosophischen Überlieferungen als gleichwertige Wege zum Heil versteht. Ihre persönliche mystische Erfahrung spricht für die Einzigartigkeit Jesu Christi. Zum ganzen Thema vgl. ebd., 147–194 [s. Anm. 17]. Ders., Simone Weil interkulturell gelesen. Nordhausen 2007.
23 S. Weil, Cahiers 2, 217 [s. Anm. 8].
24 ED, 31 [s. Anm. 4].
25 UG, 63 [s. Anm. 2].
26 Ebd., 65 [s. Anm. 2].
27 ED, 50 [s. Anm. 4].
28 Ebd., 28f. [s. Anm. 4].
29 Ebd., 8 [s. Anm. 4].
30 UG, 42 [s. Anm. 2].
31 S. Weil, La connaissance surnaturelle. Paris 1950, 87.
32 Vgl. UG, 52 [s. Anm. 2]. Vgl. auch R. Kühn, Rationalismus, 102f.: „Anstatt hierin einen Beweis für ihren unorthodoxen Glauben zu sehen, sollte man den universalen Ansatz ihres Versuchs beachten, der auf alle religiöse und profane Wirklichkeit die empfangene Mitteilung Christi anwenden will und in dem Geheimnis des Kreuzes einen neuen Wirklichkeitshorizont erahnen lässt. Trotz aller Kritik scheint hierin ein theologischer Konsens erreichbar zu sein.“ Es bleibt dabei, „dass Christus im Mittelpunkt ihrer Erfahrung steht“ [Herv. RK; s. Anm 5].
33 Vgl. S. Weil, Cahiers 2, 260 [s. Anm. 8].
N
Reto Friedmann | Neunkirch
geb. 1965, Radiokünstler, Journalist BR, Diploma in Theology of Spirituality, derzeit Masterstudium in Religionslehre in Luzern
Hugo Ball zwischen Dada und Katholizismus
Auswege eines Künstlers nach 1914
Dadaismus und christliche Spiritualität scheinen für eine Liaison auf den ersten Blick nicht gerade prädestiniert zu sein. Umso erstaunlicher ist der Umstand, dass diese Zeitschrift bereits 1928 einen Beitrag über den Begründer des Dadaismus publizierte. Unter dem Titel Hugo Ball als Hagiograph. Aussprache eines Modernen über Aszese und Mystik1 rezensierte J. Stiglmayr Balls Byzantinisches Christentum.2 Damit war er allerdings keine Ausnahme, widmeten Hugo Ball in anderen kirchlichen Publikationen z.B. auch R. Guardini3 und O. Casel4 Rezensionen. Gemeinsam ist den Autoren, dass sie ob dem hitzköpfigen Querschläger fremder Herkunft verwundert die Augen reiben und den Exoten mit einem Fragezeichen versehen. Auf die genannten Rezensionen folgte aber im Kontext der katholischen Kirche für lange Zeit keine weitere Auseinandersetzung mit Ball. Der dadaistische Einbruch in die christliche Spiritualität könnte somit als geschichtliche Episode mit anekdotischem Wert abgebucht werden.
Rückblickend fällt auf, dass die drei Autoren den Ersten Weltkrieg als Kontext für die Entstehung des Byzantinischen Christentums nicht thematisierten. Um Ball und seine Rekonversion zu verstehen, ist ein solches Verständnis aber unabdingbar. In diesem Licht wird die in dem Buch ausgefaltete monastische Spiritualität zu einem Gegenprogramm zum damaligen Militarismus. Diesen Blick will der vorliegende Beitrag nun auf den „sonderbaren Heiligen“5 und „Bischof der Avantgarde“6 werfen und so die Frage stellen, in welcher Hinsicht der Dadaist, Dichter, Anarchist, Regisseur, Hesse-Biograph und Journalist für heutige christliche Spiritualität von Interesse sein könnte.
„Priester, Engel oder Dichter“
Hugo Ball wird am 22. Februar 1886 in eine Familie der katholischen Diaspora von Pirmasens geboren.7 Die Religiosität der Familie Ball beschreibt die spätere Lebensgefährtin des Künstlers Emmy Hennings als schön, schlicht und kindlich.8 Als kleiner Junge will Ball „Priester, Engel oder Dichter“ werden.9 Besonderen Eindruck auf ihn machen gesungene Messen. Dabei ist er der Meinung, „die Singenden vernähmen unmittelbar das Wort Gottes. Priester, Messdiener und Chorsänger seien Auserwählte, denen der Einblick in den Himmel gewährt sei und die nun im Liede, die Neuigkeiten vom lieben Gott’ an die Gemeinde weitergäben.“10
In seiner Jugendzeit stößt Ball auf die Schriften Friedrich Nietzsches, die er autodidaktisch studiert.11 Dabei gerät er in Glaubenszweifel, es plagen ihn schwere seelische Kämpfe. Auch eine Beichte bringt keine Erleichterung. Er selber sagt dazu, er sei „vom Dolch der Exkommunion durchbohrt“12 worden. Nietzsche wird Ball zeitlebens beschäftigen, intensiv auch während seines Studiums der Philosophie, Germanistik und Geschichte.13 Seine Dissertation über Nietzsche in Basel beließ er unvollendet, um eine Stelle als Dramaturg und Regisseur der Münchener Kammerspiele antreten zu können.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellt im Leben Balls eine Zäsur dar. Um dem Militärdienst zu entgehen, emigriert er nach Zürich. Eine Verurteilung wegen Blasphemie für sein Gedicht Der Henker14 und die Lektüre von J. Tauler und Meister Eckhart15 deuten auf Glaubensambivalenzen in jener Zeit hin. 1916 gründet er das Züricher Cabaret Voltaire und damit den Geburtsort des Dadaismus. Emmy Hennings, Sophie Täuber, Hans Arp, Richard Hülsenbeck, Tristan Tzara und andere exilierte Künstler(innen) singen, sprechen, tanzen und spielen hier gegen den Wahnsinn des Krieges an.16 Auch in dieser künstlerischen Phase spielt die Religion für Ball immer wieder eine Rolle. Bezugnehmend auf die Aufführung des bruitistischen Krippenspiels mit der Kreuzigung als Schlussszene17 beschreibt er die Dadaisten als schwankendes „Häuflein Wanderpropheten, die die liebliche Kindheit unseres Herrn auf ihre Weise verkündeten.“18 Die „dadaistische Verkündigung“ gipfelt schließlich in der Aufführung der Verse ohne Worte – oder Lautgedichte am 23. Juni 1916.19 Überraschend packt Ball nach dieser Aufführung die Koffer und zieht zusammen mit Hennings ins Tessin. Hier setzt er sich vertieft mit dem Anarchismus und den Ursachen des Ersten Weltkriegs auseinander.20 In dieser politischen Phase können Carl Schmitt als Kontroverspartner und Ernst Bloch als Denkgenosse aufgefasst werden.21 Eine enge Freundschaft verbindet ihn mit Hermann Hesse, dessen erster Biograph er wird. Es entstehen die Schriften Michael Bakunin – Ein Brevier und Die Folgen der Reformation.22 Auch in der politischen Argumentation gegen den deutschen Militarismus spielt Religion eine zentrale Rolle. Bekennt sich Ball bereits 1916 bei seiner Ankunft im Tessin zu seinem Glauben, so beginnt er 1920 sein erstes religiöses Buch, das Byzantinische Christentum zu schreiben. Danach befasst er sich mit Exorzismus und Psychoanalyse.23 Doch während der Arbeit an seinem neuen Projekt erkrankt er an Magenkrebs.24 Am 14. September 1927 stirbt Ball einundvierzigjährig in St. Abbondio bei Lugano.