Kitabı oku: «Gemeinsames Gebet», sayfa 7

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2. Gottesdienst als Anti-Götzendienst

Die Situierung christlicher Existenz «zwischen den Zeiten» der beiden Advente Christi korrespondiert der Nüchternheit der Erkenntnis, dass, solange der Gottesdienst auf dieser Erde noch nicht mit dem der himmlischen Heerscharen in eins fällt, sich die Frage nach dem rechten, «vernünftigen Gottesdienst»190 nur im Horizont der Differenz von Gottesdienst und Götzendienst stellen lässt. Es versteht sich darum durchaus nicht von selbst, vom Gottesdienst unmittelbar und behende nach seiner «Pro»-Dimension zu handeln (pro me, pro nobis, pro-Kultur, pro-Sinn …), wenn das erste Gebot, keine anderen Götter wider Gott zu haben, zuallererst auf die «Anti»-Dimension dieser Doxologie insistiert. Vom Gottesdienst ist nicht einfach so zu reden, als wäre er «eingebettet» in eine jeweilige Kultur, die er in verschiedener Weise und verschiedenem Maß «absorbiert», «prägt» oder auch abstößt. Vielmehr ist der christliche Gottesdienst zuerst als Alternative, die Alternative zu den vielfältigen Doxologien zu verstehen, die sich jedes Raumes bemächtigen, in dem nicht die Herrschaft Christi proklamiert wird.

Noch ist die Herrschaft Christi gekennzeichnet durch das Miteinander und Gegeneinander von Offenbarsein und Verborgensein, von Bezeugung und Bestreitung. Solange der Triumph Christi über die Mächte und Gewalten noch der endgültigen Besiegelung durch die Auferstehung aller Toten am Ende der Geschichte harrt, wenn mit der Besiegung des Todes auch das Ende aller Loyalitätsansprüche dieser Mächte gekommen sein wird191, solange wird der christliche Gottesdienst den notwendigen Beiklang einer Gegen-Doxologie behalten, in der den Ansprüchen jener Mächte schon heute kräftig widersprochen wird. |66|

Während die Betrachtung des Gottesdienstes als Kulturphänomen seit Schleiermacher192 dazu tendierte, in ihm die verschiedenen Reifegrade religiösen Selbstbewusstseins artikuliert zu finden, und somit den Glauben primär in Differenz zum Unglauben (gewissermaßen als Null-Summe des Glaubens) in den Blick nahm, knüpft unser Zugang über die doxologische Existenzform an die reformatorische Auffassung an, wonach der Glaube in primärer Differenz nicht zum Unglauben, sondern zum Aberglauben steht. Je deutlicher Glaube als Existenzvollzug verstanden wird, der notwendig doxologisch grundiert ist, desto mehr verliert die Vorstellung vom Unglauben als einer menschlichen Existenzmöglichkeit an Plausibilität. Die Differenz, in der sich der Christusglaube vorfindet, wäre darum eben spezifisch zu einem «Aber-Glauben», einem Glauben, der sich an einen Abgott hängt, und sich somit «gegen» Christus stellt.193

Wird diese Einsicht ernst genommen, dann gehört es zur Signatur des christlichen Gottesdienstes, ihn dezidiert als Widerstand gegen den Aberglauben und Götzendienst zu feiern: als grundsätzliche Alternative zur bunten Vielfalt von sich immer wieder neu generierenden Liturgien, in denen die Knie sich beugen vor den tyrannischen Mächten und Gewalten anstelle des Schöpfers und Herrn der Welt. So kommt Gottesdienst spezifisch als Raum der Freiheit zur Erfahrung, als ein «Ruhen» von den eigenen Werken im Ansehen der Werke Gottes, aber auch als Freibleiben von den mannigfachen Sogwirkungen, Ansprüchen und Herrschaftsansprüchen, denen menschliches Leben – ansonsten hilflos – ausgesetzt ist.

3. Widerstand nach außen – und innen

Bevor die Widerständigkeit des Gottesdienstes in ihren konkreten Bezügen und Einzelaspekten weiter ausgelotet wird, erscheint es ratsam, zu klären, wie sich diese Frage zur Frage nach dem «Geltungsanspruch» des Gottesdienstes nach außen verhält. Allzu leicht kommt hier nämlich ein falscher Zungenschlag ins Spiel, in dem die widerständige Kraft des Gottesdienstes, die in ein radikales Entweder-Oder stellt, verwechselt wird mit einem abstrakten «Absolutheitsanspruch» des Christentums gegenüber anderen Religionen.

Die Frage nach dem Verhältnis des christlichen Gottesdienstes zu den religiösen Praktiken anderer Religionen ist komplex und kann hier nicht in der notwendigen |67| Breite und Tiefe erörtert werden. Worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist, dass der Anspruch, der sich mit dem christlichen Gottesdienst verbindet, der Anspruch des darin verehrten Herrn auf das ganze Leben der Gläubigen (Kol 3,17) ist und nicht ein solcher Anspruch, den die Gläubigen daraus für sich ableiten und gegen andere in Anschlag bringen könnten. Es gehört gerade zu den Eigentümlichkeiten des christlichen Gottesdienstverständnisses, dass dieses Geschehen nicht als «Veranstaltung» der Kirche aufgefasst wird. Wenn in diesem Zusammenhang gerne auf die doppelte Genitivbestimmung verwiesen wird, wonach «Gottesdienst» sowohl den Dienst Gottes an den Menschen umfasst als auch den Dienst des Menschen an Gott, so wird hier doch auch die Reihenfolge zu bedenken sein, in der genitivus subiectivus den obiectivus theologisch regiert. Auch die gottesdienstliche poiesis, das, was Menschen am Gottesdienst arbeiten, vorbereiten, gestalten, ist umfangen und bestimmt vom göttlichen Handeln an den Menschen. Weil dieses kritische Abhängigkeitsverhältnis hier waltet, als Freiheit des Geistes Gottes, der niemals in bestimmte Produktionsvorgänge eingebunden werden kann, darum gilt die Herausforderung, liturgisches Handeln auf Gottes Handeln «einzustimmen», mit diesem «zusammenzustimmen».194 Das Missverständnis eines «Absolutheitsanspruchs» gegenüber den religiösen und gottesdienstlichen Praktiken anderer Religionen könnte nur auf dem Hintergrund einer pneumatologisch irregeleiteten Auffassung entstehen, wonach die Kirche über den Gottesdienst verfügen würde und ihn als ihren Besitzstand auf den Markt konkurrierender spiritueller Angebote bringen könnte.195

Die radikal-kritische und in der Tat exklusive Dimension des Gottesdienstes, die in diesem Beitrag herausgearbeitet werden soll, leitet sich nicht vom Anspruch der Gläubigen auf «ihren» Gottesdienst her, sondern umgekehrt vom umfassenden und exklusiven Anspruch des im Gottesdienst angerufenen Herrn auf das Leben der Gläubigen. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem dieser Anspruch des «äußeren Wortes» ausgesprochen und ergriffen wird. Die Bewegungslogik geht hier also von außen nach innen und nicht umgekehrt, wie dies im Rahmen einer Ausdruckslogik gedacht würde.196 Expressivistische Gottesdienstvorstellungen, denen zufolge es in diesem darum ginge, individuelle innere Befindlichkeiten auszudrücken197, wären |68| einer solchen Rivalität der Ansprüche prinzipiell enthoben, da es für sie im «Kern» (buchstäblich) um das Immer-Gleiche ginge, das sich lediglich in vielfältigen Formen nach außen hin ausdrückt. Diese Ausdrucksformen könnten folgerichtig im Einzelnen nur solange als radikale Alternativen untereinander verstanden werden, solange sie noch nicht über ihr eigenes Wesen als Ausdrucksphänomene aufgeklärt wären. Die in der Aufklärung propagierte monistische «Vernunftreligion» konnte darum (in diesem Sinn) folgerichtig den Streit um den «rechten» Gottesdienst gewissermaßen als abergläubisch abtun, als einen Streit, der auf der Ebene eines voraufgeklärten «bloßen Kirchenglaubens» verharrend die notwendig pluralen Ausdrucksformen liturgischer Gestaltung (oder Lehrtraditionen) mit dem Kern der Sache selbst verwechselte. In dieser Wendung setzte sich die «Vernunftreligion» präzise an die Stelle des christlichen Gottesdienstes, als dem neuen «Jenseits» des Aberglaubens.

4. Widerständigkeit als Grundzug christlichen Gottesdienstes

Wenn die These von der Widerständigkeit als Grundzug des Gottesdienstes zutrifft, müsste sich diese Dimension an allen seinen «Momenten» aufweisen lassen. In der Tat wäre es ebenso reizvoll wie fruchtbar, dieses Unterfangen im Blick auf die einzelnen Vollzüge des eucharistischen Gottesdienstes anzugehen, von der trinitarischen Eröffnungsformel bis zum Schluss-Segen. Da eine solche umfassende Analyse den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, möchte ich mich im Folgenden beschränken auf einige lediglich angedeutete Beispiele, um dann an einer Stelle etwas ausführlicher zu werden.

«Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes, und des Heiligen Geistes» ist nicht lediglich eine «Grußformel», die den Beginn der Feier markiert. Derjenige, der diese Formel spricht, spricht eben gerade nicht in seinem eigenen Namen,198 sondern stellt das ganze nachfolgende Geschehen «Gottesdienst» unter den Namen des Dreieinigen. Durch den Aufruf dieses Namens werden die Feiernden nicht «begrüßt», sondern dezidiert in die Gegenwart dieses Gottes gestellt, und somit in einen Herrschaftsbereich, in dem alle anderen Ansprüche ruhen.

Wird die Widerständigkeit des Gottesdienstes im Erwartungshorizont gehalten, scheint sie auch an weniger offensichtlichen Stellen auf wie etwa der des Gebets. Das Vaterunser als die explizierte «Grammatik» christlichen Betens wird dann mit Nachdruck auf die Possessivpronomen zu sprechen sein: «geheiligt werden dein |69| Name» – und nicht der eines anderen Mächtigen; «dein Reich komme» – anstelle der Verwirklichung irgendwelcher anderen Herrschaftsansprüche; «dein Wille geschehe» – und nicht der Wille irgendeines anderen, des Beters oder derer, dessen Loyalitätsansprüchen sich der Beter ausgesetzt sieht.

Auch für die Sozialstruktur der Gemeinde, die im Abendmahl exemplarisch wird, gilt diese Widerständigkeit. Zwar sind alle Getauften geladen, und doch können zum Tisch des Herrn nur diejenigen hinzutreten, die auch bereit sind, sich mit den dort versammelten Sündern gemein zu machen – so wie Jesus mit Zöllnern und anderen offensichtlichen Sündern gegessen und sich dadurch den Zorn und das Unverständnis der damaligen Wächter über religiöse und sittliche Standards auf sich gezogen hatte (Mk 2,16–17). Das Herrenmahl ist ein praktizierter Widerspruch zu den sozialen, moralischen oder anders kodifizierten Stratifizierungen der Menschheitsfamilie.

Wir haben von der Widerständigkeit des Gottesdienstes bewusst in einem generellen Sinn gesprochen – als einer Dimension, die sich nach verschiedenen Richtungen ausloten lässt, in denen Widerstand konkret wird. Die Rede von der Widerständigkeit hat den Vorteil einer Heuristik: Mit dieser Dimension zu rechnen heißt, auf konkrete Momente aufmerksam zu werden, in denen der Gottesdienst spezifisch Widerstand gegen bestimmte Mächte und Gewalten aufbietet. Letztere sind generell dadurch charakterisiert, dass sie Anspruch auf das gesamte menschliche Leben erheben, müssen aber je und je erst im Konkreten als die schematisierenden Mächte dieses Aeons (Röm 12,2) erkannt und benannt werden.

Diese sind ihrem Auftreten nach pluriform; sie können politisch-ökonomisch konfiguriert sein (als totaler Staat), aber auch sozial (als Klassengesellschaft oder öffentliche Meinung), intellektuell (als Ideologie) oder kulturell (etwa als komplett absorbierende «verschlingende» Medien). An einem Beispiel soll die Widerständigkeit des Gottesdienstes nach verschiedenen Seiten und Richtungen nun etwas weiter ausgeleuchtet werden. Ich wähle ein auf den ersten Blick eher harmlos erscheinendes Beispiel, an dem die Widerstandsdimension des Gottesdienstes nicht offen zutage liegt, sondern erst bei genauerem Hinsehen deutlich wird: das Beispiel gottesdienstlicher Lesungen.199

5. «Gegenlese»: zum Ethos gottesdienstlicher Lesungen

In den folgenden Überlegungen soll es noch nicht einmal um die kritische, widerständige Qualität der biblischen Texte als solcher gehen, die jeweils zur Verlesung anstehen. Was uns vielmehr beschäftigen soll, ist die Frage, welches Ethos in der |70| Praxis der gottesdienstlichen Lesungen zutage tritt und mit welchen gesellschaftlichen Trends und Praktiken dieses Ethos in ein kritisches Verhältnis tritt. In welchem Sinn lässt sich diese Praxis als «Gegenlese» verstehen? Zwei Frontstellungen sollen im Folgenden bedacht werden: die Widerständigkeit gegenüber (a) der Verwertungsmentalität im Hinblick auf pädagogisch motivierte Rationalisierungen der Lesungen, insbesondere die Tendenz zum Weglassen der alttestamentlichen Lesungen, sowie gegen (b) den Ubiquitätsanspruch der Interpretation im Hinblick auf die Selbständigkeit der Lesungen gegenüber der Predigt. Ausblickend (c) soll dann der Auslegungsanspruch der Texte selbst aufgenommen werden und im Sinne der Vorstellung «performativer Interpretation» als Aufgabe der Gemeinde als ganzer gekennzeichnet werden.

5.1 Widerstand gegen pädagogische Rationalisierung, Verwertungsmentalität und Israel-Vergessenheit

Der die gesellschaftliche Wirklichkeit auf allen Ebenen bestimmende Trend zur Rationalisierung schlägt sich im Gottesdienst vieler (jedenfalls evangelischer) Kirchgemeinden in der Reduktion der Lesetexte auf zwei oder gar einen einzigen nieder. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Die Mehrzahl von zudem oft schwierigen Texten überfordere, wie es heißt, die Aufnahmekapazität der Hörer, insbesondere in einer Zeit, in der die Menschen massenmedial zu immer kürzeren Aufmerksamkeitsspannen erzogen werden, in denen ihnen Informationen zudem multi-sensorisch zugespielt werden. Warum sollten die Gottesdienstbesucher einer langen Reihe von nur vorgelesenen Texten ausgesetzt werden, wenn sie davon allenfalls einen Bruchteil aufzunehmen in der Lage sind – von der Möglichkeit, die Texte zu verstehen und zu verdauen, ganz zu schweigen. Wäre es darum nicht sinnvoll, auf Qualität anstatt auf Quantität zu setzen und vielleicht nur eine Lesung zu haben, die dafür aber auch entsprechend pädagogisch aufbereitet wäre und in der Predigt zur geistigen Verdauung «aufgearbeitet» würde?

Nun sind solche Rationalisierungstendenzen keineswegs neu. Von den ursprünglichen vier altkirchlichen Lesungen (Gesetz – Propheten – Epistel – Evangelium) und den bald durch Zusammenfassung der beiden ersten Kategorien als «alttestamentlich» zum Standard gewordenen drei Lesungen ist etwa in der Zeit der Aufklärung oftmals nur der eine zu predigende Text übriggeblieben. Erst die liturgischen Reformen in den 1960er und 1970er Jahren haben sowohl für die katholische Weltkirche als auch für die meisten evangelischen Kirchen wieder dazu geführt, drei Lesungen vorzusehen. Jedenfalls für den Bereich der Kirchen in der EKD scheint die Tendenz in jüngerer Vergangenheit aber wieder rückläufig, wie sich etwa im neuen Gesangbuch der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern dokumentiert, dessen liturgischer Kalender die alttestamentliche Lesung unterschlägt. Die im Bereich der Kirchen der EKD heute am häufigsten anzutreffende |71| Variante dürfte die der Zweigliedrigkeit sein, die sich auf Epistel und Evangelium beschränkt.

Die früheste vollere Beschreibung dessen, was im christlichen Gottesdienst zur Verlesung kam, findet sich in den «Apostolischen Konstitutionen» (VIII, 57), die wohl eine antiochenische Ordnung gegen Ende des 4. Jahrhunderts widerspiegeln, aber auf frühere Traditionen zurückgehen dürften. Hier ist von fünf Textgruppen die Rede: Gesetz, Propheten, Briefe, Apostelgeschichte und Evangelien. Wie weitere Zeugnisse aus den nachfolgenden Jahrhunderten zeigen, war die Zahl der Lesungen wohl nie ganz einheitlich, doch dominierte sowohl in der gallikanischen wie in der römischen Liturgietradition ein dreigliedriges Muster: Altes Testament – Evangelium (dessen Vortrag dem Diakon vorbehalten war) – andere Texte aus dem Neuen Testament.

Etwa ab dem 8. Jahrhundert aber verschwand die Lesung aus der Hebräischen Bibel aus dem Hauptgottesdienst der Gemeinden nahezu völlig. Für die römische Kirche blieben regelmäßige alttestamentliche Lesungen über ein ganzes Jahrtausend bis zur Liturgiereform im Zusammenhang des 2. Vatikanischen Konzils beschränkt auf die klösterlichen Gemeinden, wo sie im Rahmen der lectio continua der gesamten Bibel geübt wurden. Erst im römischen Lektionar von 1969 wurde die Dreigliedrigkeit auch für die sonntäglichen Eucharistiegottesdienste wieder eingeführt. Dies löste unterwartete und intensive ökumenische Impulse aus, die in gemeinsamen liturgischen Arbeitsgruppen aufgenommen wurden. Für eine Reihe englischsprachiger Kirchen mündete diese Arbeit in die Etablierung eines «Revised Common Lectionary» (1993), in dem alttestamentliche Texte als lectio continua in den «grünen» Zeiten (ordinary times) in den ansonsten von den kirchlichen Festen bestimmten Lesekalender eingefügt wurden.200 Dieses von Katholiken, Lutheranern und Anglikanern gemeinsam genutzte Lektionar entspricht dem römischen und basiert auf sogenannten «Bahnlesungen» (kontinuierliche Lesungen durch ein Buch, jedoch mit Auslassungen), so dass die zur Verlesung bestimmten Texte thematisch nicht aufeinander abgestimmt sind.

Da Luther für die Leseordnungen der evangelischen Gemeinden nicht an die mittelalterlichen, sondern an die altkirchlichen Lektionare anschloss, wurde die Unterschlagung der alttestamentlichen Texte für den Protestantismus zunächst revidiert. Allerdings wurde dieser wichtige Impuls in der weiteren Entwicklung der evangelischen Kirchen zum Großteil wieder abgeschwächt, indem die alttestamentlichen Perikopen unter die Kategorie «Epistel» subsumiert wurden. Die Kategorie «Epistel» hatte sich ja bereits in altkirchlicher Zeit als Sammelbezeichnung etabliert, als unter dieser Bestimmung nicht nur die Briefliteratur, sondern sämtliche neutestamentlichen Schriften außer den Evangelien firmierten. |72|

Die 1978 in der VELKD und den deutschen Unionskirchen eingeführte sechs-jährige Perikopenreihe (das römische Lektionar basiert hingegen auf einem drei-jährigen Intervall) sieht alttestamentliche Lesungen wieder als selbständige Einheit vor, allerdings nur in den Lesereihen drei bis sechs. Die Prinzipien der Liturgischen Kommission im Hinblick auf die Auswahl und Zusammenstellung der Texte waren von der Idee bestimmt, die Texte möglichst als thematische Einheit erscheinen zu lassen. So wurden sowohl Episteltexte als auch alttestamentliche Texte ausgewählt nach dem Erfordernis größtmöglicher Konsonanz mit dem Evangelium, das jeweils das «Thema» vorgibt. Diese pädagogisch motivierte Maßnahme ist freilich eine Engführung insofern, als sie den «Zusammenklang» der Texte nicht aktuell im Vorgang des geistgewirkten Hörens erwartet, sondern vorkonzipiert im Sinne eines (auch im Wochenspruch und Wochenlied anklingenden) «Themas». Was die selbständige Bedeutung des Alten Testaments anbelangt, hat sich zudem in der Praxis der meisten Gemeinden in der Wahrnehmung des lokalen ius liturgicum eine Reduktion auf zwei Lesungen ergeben, der üblicherweise die Texte aus der Hebräischen Bibel zum Opfer fallen.

Es gehört zu den tragischen Entwicklungen der Geschichte des Christentums und seines Gottesdienstes, dass die frühe Dreigliedrigkeit der Lesungen nach Altem Testament, Epistel und Evangelium sowohl im Westen wie im Osten seit dem frühen Mittelalter auf eine Zweigliedrigkeit reduziert wurde, die das Alte Testament zumindest für die sonntäglichen Eucharistiegottesdienste bis auf wenige Ausnahmen (wie etwa die Ostervigil) verstummen ließ.201 Die Geschichte des christlichen Antisemitismus lässt sich wohl erst auf dem Hintergrund dieser empfindlichen «Leerstelle» in der Lesepraxis des Gottesdienstes für mindestens ein ganzes Jahrtausend verstehen. Das Alte Testament ist für Christen verzichtbar nur um den Preis des Identitätsverlustes, der sie vergessen lässt, dass sie selbst Teil der Geschichte Gottes mit Israel sind, so wie die Kirche als wilder Zweig aufgepfropft ist auf den Ölbaum des Volkes des ersten Bundes (Röm 11,16–24). Die ethische Dimension der Erinnerungspraxis an den Israelbezug der Kirche braucht angesichts der jüngeren deutschen Geschichte kaum eigens betont zu werden.

Die verbindliche Mehrzahl von biblischen Lesungen weist eine Widerständigkeit auf gegen die verbreitete Mentalität, alles nur nach dem Gesichtspunkt dessen zu bewerten, wie leicht und in welchem Maß es angeeignet und konsumiert werden kann. Gerade die Organisation unserer Medienwelt ist zunehmend vom Verwertbarkeitsgrundsatz bestimmt. So ist etwa das klassische journalistische Kriterium des «Informationswertes» eines Beitrags längst vom dem des «Nutzwertes» für den individuellen Leser in den Hintergrund gedrängt worden. |73|

In der liturgischen Handlung der lectio geht es nun aber gerade darum, den Überhang anzuerkennen, der den Texten als «Heiliger Schrift» über jede mögliche «Verwertung» zukommt. Verbum Dei ist immer mehr als das, was – zumal in einem einzigen Hörakt – verstehend angeeignet werden kann. Hier ist das Überständige also das Widerständige. Gerade auch die Erfahrung des Sperrigen an den Lesungen erinnert die Hörer der Schriftworte daran, dass die Kategorie der «Aneignung» ohnehin nicht in der Lage ist, die Rezeptionshaltung adäquat zu beschreiben, die jener besonderen Art von Texten angemessen ist. In dieser Perspektive nehmen sich freilich bereits die Kriterien der Liturgiekommission der VELKD, die in der Auswahl der Lesetexte auf «Lektionabilität» und «Prädikabilität» achten wollte, um also nur in sich selbst verständliche und «predigbare» Texte zuzulassen, nicht unproblematisch aus. So wichtig die Verständlichkeit im Gottesdienst ist (1Kor 14,1–25), so wenig darf dieses Anliegen zu einem ex ante wirksamen Selektionsmechanismus gerinnen. Der prinzipielle Überhang des reichen, überreichen Wortes über jedes Maß an Verstehen, geschweige denn an Verdauen und Verwerten, darf und soll im praktischen Arrangement der Lesungen zum Ausdruck kommen, indem eben mehr gelesen wird als jene Menge von «Informationen», von der man davon ausgehen kann, dass sie behalten oder gar verwertet werden kann.

Vom wohl ersten Wortgottesdienst in der Geschichte, den der Schriftgelehrte Esra in der Perserzeit in Jerusalem abhielt, wird berichtet, dass dieser vom Morgen bis zum Mittag dauerte und dieses Muster sich an jedem folgenden Tag wiederholte, bis nach einer ganzen Woche das Gesetzesbuch (wohl das Deuteronomium) vollständig zur Verlesung gekommen war (Neh 8,3.18). Wie immer man über die Aufnahmekapazität der damaligen Gemeinde Esras denken mag, machen die Angaben Nehemiahs jedenfalls deutlich, dass es bei der Verlesung primär darauf ankam, das ganze Buch zur Verlesung zu bringen. Wichtiger als das Maß an Rezeption durch die einzelnen Gemeindeglieder war die Tatsache, dass der Gemeinde als ganzer das ganze biblische Wort zu Gehör gebracht wurde – unzensiert und ohne pädagogische Aufbereitung und Aufteilung in brauchbares und weniger brauchbares «Material». Dabei ist die meforasch des Gesetzes, die Esra gab, keineswegs sicher als «Erklärung» im Sinn auslegender Beigabe zu verstehen. Das hebräische Wort ist mehrdeutig und kann auch «Übersetzung» (im Falle Esras vom Hebräischen ins Aramäische) oder lediglich «deutliche Aussprache» meinen.202 Wenn Esras Wortgottesdienst als Vorläufer der Synagoge gelten kann, die sich seit dem 3. Jahrhundert vor Christus im Judentum etabliert hatte und nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 zur Normalform des jüdischen Gottesdienstes wurde, so ist der christliche Gottesdienst seinerseits in |74| seinem «Wortteil» von der synagogalen Tradition bestimmt, in der die fortlaufende Lesung von Gesetz und Propheten gebräuchlich war.

Die Einteilung der einzelnen Bücher in Sinnabschnitte (Perikopen, buchstäblich: ringsum umhauene, fest umgrenzte Stücke) hat sich erst im Laufe der Zeit im Zusammenhang der Entstehung kirchlicher Leseordnungen für die Liturgie entwickelt. Mitte des 2. Jahrhunderts findet sich bei Justin (gest. 165 n. Chr.) die Anweisung, solange zu lesen, «bis es genug ist». Dies zeigt, dass der Vorsteher der Gemeinde das Ende der Lesung entweder ad hoc (durch Fingerzeig) oder durch vorherige Absprache bestimmte, jedenfalls aber auf die Erfordernisse der jeweiligen Gemeinde und ihrer Situation hin spezifiziert.203

Auch bei Hippolyt (Kirchenordnung, Kanon 37) findet sich eine ähnliche Bestimmung, wenn er anweist, so lange zu lesen, bis die Gemeinde sich ganz eingefunden hat, auch wenn dies aufgrund längerer Dauer ein Abwechseln der Lektoren erforderte. Bei Basilius (Kanon 97) ist eine ähnliche Bestimmung zu finden, der zugleich ein Hinweis auf die Leseordnung zu entnehmen ist, woraus und in welcher Abfolge gelesen wurde. Auch hier werden Lesungen schon im Zuge des Sich-Einfindens der Gemeinde gehalten, und zwar aus den Psalmen, gefolgt von Epistel, Apostelgeschichte und dem Evangelium. Diese Abfolge dürfte zugleich ein Hinweis auf die Gewichtung der Lesungen aus den jeweiligen Textgruppen sein, die im Evangelium ihren Höhepunkt fanden.204

Diese Bestimmungen zeigen, dass es in der Frühzeit des christlichen Gottesdienstes eine Vielzahl von Lesungen gab, die eine besondere Aufmerksamkeit darauf erforderte, wann es jeweils «genug» war. Diese Aufmerksamkeit war allerdings auf die Länge der einzelnen Lesestücke bzw. der Lesezeit insgesamt bezogen und erlaubte keineswegs eine Reduktion der Textgruppen, deren Gesamtheit den Gläubigen die Heilsgeschichte in ihrer Erstreckung von der Zeit des ersten Bundes über die Evangelien bis zur Zeit der Kirche in den apostolischen Schriften vor Augen stellte. |75|

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