Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis»
EHP – Edition Humanistische Psychologie
Hg. Anna und Milan Sreckovic
Herausgeberin und Herausgeber
Gianni Francesetti, Gestalttherapeut, Facharzt für Psychiatrie, internationaler Trainer und Supervisor, Programm-Koordinator des Internationalen Trainings für einen gestalttherapeutischen Ansatz zur Psychopathologie, Präsident der EAGT und der italienischen NUO (FIAP, Italienischer Verband der Psychotherapie-Gesellschaften), früherer Präsident der SIPG (Società Italiana Psicoterapia Gestalt), Mitglied von EAP, NYIGT, SPR. Er hat zum gestalttherapeutischen Ansatz zur Psychopathologie viele Arbeiten und Kapitel geschrieben und Bücher herausgegeben.
Michela Gecele, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapeutin, sie lehrt in den Gestalttherapie-Trainingsprogrammen des Istituto di Gestalt HCC. Sie arbeitet seit 19 Jahren in einer öffentlichen Einrichtung für psychische Gesundheit und koordiniert seit drei Jahren eine psychologische und psychiatrische Einrichtung für ImmigrantInnen. Sie hat Artikel und Bücher auf dem Gebiet der Psychiatrie, Psychotherapie und über transkulturelle Fragen geschrieben. Sie ist Mitglied des HR&SR Komitees der EAGT.
Jan Roubal, Doktor der Medizin, ist Psychotherapeut, Facharzt für Psychiatrie, Trainer und Supervisor. Er lehrt Psychotherapie und Psychiatrie an der Masaryk Universität in Brünn. Er hat in einem psychiatrischen Krankenhaus, vor allem mit depressiven PatientInnen gearbeitet. Derzeit ist er in einer Privatpraxis tätig. Er ist Mitglied von EAP, EAGT, SPR und leitet das Forschungskomitee der EAGT.
© EAGT und 2013 by Franco Angeli s.r.l., Milano, Italy u. d. Titel: Gestalt Therapy in Clinical Practice. From Psychopathology to the Aesthetics of Contact. (= Gestalt Therapy Book Series)
© für die deutsche Ausgabe 2016 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Gevelsberg www.ehp-verlag.de
In Zusammenarbeit mit der European Association for Gestalt Therapy EAGT herausgegeben von Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie DVG e.V. und Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie ÖVG e.V. | |
Die Übersetzung wurde finanziert von: | |
Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie DVG e.V., | |
Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie ÖVG e.V., | |
Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik |
Aus dem Englischen von Anna Jell Bearbeitung und Lektorat: Rita Kloosterziel
Redaktion: Nina Andres, Dieter Bongers, Victor Chu, Kathleen Höll, Veronica Klingemann, Andreas Kohlhage, Manuela Manderfeld, Inge Matthies, Friedhelm Matthies, Thomas Maurer, Christiane Molkenbuhr, Bertram Müller, Christian Rabanus, Peter Schulthess, Achim Votsmeier-Röhr, Beatrix Wimmer, Deidre Winter, Rosemarie Wulf
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich
Umschlagentwurf: Gerd Struwe, Uwe Giese
– unter Verwendung eines Bildes von Imke Pitro-Riedel: »o. T.« –
Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin Gedruckt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
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print-ISBN 978-3-89797-085-4
epub-ISBN 978-3-89797-590-3
pdf-ISBN 978-3-89797-591-0
Für Isadore From
Inhalt
Vorwort zur englischen Ausgabe (Leslie Greenberg)
Einleitung der Herausgeber (Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal)
Vorwort zur deutschen Ausgabe (Veronica Klingemann und Beatrix Wimmer)
Vorwort: Klinische Gestalttherapie und die gesundheitspolitische Situation in Deutschland (Lotte Hartmann-Kottek)
Teil I: Grundlegende Prinzipien der Gestalttherapie in der Klinischen Praxis
1. Grundlagen und Entwicklung der Gestalttherapie im Kontext der Gegenwart (Margherita Spagnuolo Lobb)
Kommentar von Gordon Wheeler
2. Psychopathologie: Ein Gestalttherapeutischer Ansatz (Gianni Francesetti, Michela Gecele und Jan Roubal)
Kommentar von Peter Philippson
3. Diagnostik: Ein Gestalttherapeutischer Ansatz (Jan Roubal, Michela Gecele und Gianni Francesetti)
Kommentar, von Antonio Sichera
4. Entwicklungsperspektive in der Gestalttherapie: Die polyphone Entwicklung von Bereichen (Margherita Spagnuolo Lobb)
Kommentar von Ruella Frank
5. Situative Ethik und die ethische Welt der Gestalttherapie (Dan Bloom)
Kommentar von Richard E. Lompa
6. Forschung und Gestalttherapie (Ken Evans)
Kommentar von Leslie Greenberg
7. Die Kombination von Gestalttherapie und psychiatrischer Behandlung (Jan Roubal und Elena Křivková)
Kommentar von Brigitte Lapeyronnie-Robine
Teil II: Spezifische Kontexte und fokussierende Betrachtungen
8. Sozialer Kontext und Psychotherapie (Giovanni Salonia)
Kommentar von Philip Lichtenberg
9. Die politische Dimension der Gestalttherapie (Stefan Blankertz)
Kommentar von Lee Zevy
10. Multikulturelle Kontexte leben (Michela Gecele)
Kommentar von Talia Bar-Yospeh Levine
11. Gestalttherapie und Entwicklungstheorien (Giovanni Salonia)
Kommentar von Peter Mortola
12. Scham (Jean-Marie Robine)
Kommentar von Ken Evans
Teil III: Spezifische Lebenssituationen
13. Der goldene Käfig der kreativen Anpassung: Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Nurith Levi)
Kommentar von Neil Harris
14. Das Risiko der Psychopathologie im Alter (Frans Meulmeester)
Kommentar von Martine Bleeker
15. Verlust und Trauer. Manchmal lässt die Abwesenheit eines einzigen Menschen die ganze Welt leer erscheinen (Carmen Vázquez Bandín)
Kommentar von Gonzague Masquelier
16. Die Macht des »Vorwärtsgehens«. Trauma-Behandlung – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Ivana Vidakovic)
Kommentar von Willi Butollo
17. Einschätzung des Suizidrisikos (Dave Mann)
Kommentar von Jelena Zeleskov Djoric
Teil IV: Spezifische klinische Leiden
18. »Nach was sieht’s denn aus?« Demenz – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Frans Meulmeester)
Kommentar, von Katerina Siampani
19. Abhängiges Verhalten (Philip Brownell und Peter Schulthess)
Kommentar von Nathalie Casabo
20. Jenseits der Säulen des Herakles. Psychotisches Erleben aus gestalttherapeutischer Perspektive (Gianni Francesetti und Margherita Spagnuolo-Lobb)
Kommentar von Gary Yontef
21. Ein gestalttherapeutischer Ansatz bei der Behandlung von Depressionen (Gianni Francesetti und Jan Roubal)
Kommentar von Joe Melnick
22. Bipolares Erleben (Michela Gecele)
Kommentar von Daan van Baalen
23. Angst in der Situation: Störungen der Gestaltkonstruktion (Jean-Marie Robine)
Kommentar von Myriam Muñoz Polit
24. Panikattacken – Eine gestalttherapeutische Perspektive (Gianni Francesetti)
Kommentar von Nancy Amendt-Lyon
25. Gestalttherapie bei phobisch-zwanghaften Beziehungsstilen (Giovanni Salonia)
Kommentar von Hans Peter Dreitzel
26. Anorexie, Bulimie und Hyperphagie: Dramatische Formen weiblicher Kreativität (Elisabetta Conte und Maria Mione)
Kommentar von Irina Lopatukhina
27. Psychosomatische Störungen – Ein gestalttherapeutischer Ansatz (Oleg Nemirinskiy)
Kommentar von Giuseppe Iaculo
28. Beziehungsorientierte sexuelle Themen: Liebe und Begierde im Kontext (Nancy Amendt-Lyon)
Kommentar von Marta Helliesen
29. Persönlichkeitsstörungen. Diagnostische und soziale Bemerkungen (Michela Gecele)
30. Borderline: Die Wunde der verletzten Grenze (Margherita Spagnuolo Lobb)
Kommentar von Christine Stevens
31. Von der Großartigkeit des Bildes zur Fülle des Kontakts. Gedanken zu Gestalttherapie und narzisstischem Erleben (Giovanni Salonia)
Kommentar von Bertram Müller
32. Hysterie: Formale Definition und neuer Ansatz zu einem phänomenologischen Verständnis. Eine psychopathologische Neubewertung (Sergio La Rosa)
Kommentar von Valeria Conte
33. Gewalttätiges Verhalten (Dieter Bongers)
Kommentar von Bernhard Thosold und Beatrix Wimmer
Literatur
Ergänzende Literatur zur deutschen Ausgabe
AutorInnen
Vorwort zur englischen Ausgabe
Ein gestalttherapeutisches Handbuch zur Psychopathologie, das einen beziehungsorientierten Ansatz zu diesem komplexen Thema fördert! Dies ist ein bahnbrechendes und revolutionäres Buch. Neue Wege zu beschreiten ist immer von Kontroversen begleitet, und ich bin sicher, das wird bei diesem Buch nicht anders sein unter GestalttherapeutInnen und unter PsychiaterInnen und PsychologInnen, die sich am traditionelleren medizinischen Modell der Psychopathologie orientieren. GestalttherapeutInnen der ersten Generation wären wahrscheinlich schockiert und überrascht zu sehen, dass die Gestalttherapie bei schweren Störungen und Diagnosen wie Borderline oder Narzissmus angewandt wird. AnhängerInnen des medizinischen Modells andererseits werden es schwierig finden, manche Konzepte und Gedanken zu integrieren, wie z. B. die Tatsache, dass die Psychopathologie an der Kontaktgrenze entsteht, oder die Idee einer prozessorientierten ästhetischen Diagnose. Doch diese revolutionären Ideen werden hoffentlich einen Einfluss auf bestehende Ansichten zu Behandlung und Psychopathologie haben und dabei helfen, der Gestalttherapie eine Stimme im allgemeinen Dialog zu schwereren Störungen verleihen.
Die Gestalttherapie beschäftigte sich ursprünglich damit, das Wachstum des Selbst und eine größere Autonomie bei neurotischen Persönlichkeiten zu fördern. Als Teil der Dritten Kraft der Humanistischen Psychotherapien war sie Teil einer neuen kulturellen Bewegung. Die Gestalttherapie förderte eine Unterstützung der Autonomie und Kreativität bei Individuen, die das Bedürfnis verspürten, sich vom erstickenden gesellschaftlichen »Sollte« und von Familienintrojekten zu befreien. Selbstausdruck, Wachstum und Persönlichkeitsentfaltung waren die therapeutischen Ziele.
Der gestalttherapeutische Ansatz entwickelte sich, ohne schwereren Formen des Leidens und der Psychopathologie große Beachtung zu schenken. Die Gestalttherapie wurde nicht entwickelt, um schwerere Störungen wie Psychose, Selbstverletzung oder schwere Traumata und Persönlichkeitsstörungen wie Borderline oder Narzissmus zu behandeln. Perls pries die Gestalttherapie als Therapie der Wahl für »neurotische« Individuen an, doch er war sich offenkundig darüber im Klaren, dass er Gestalt-Techniken nicht bei psychisch schwer kranken Individuen anwenden konnte.
Außerdem wurde die Gestalttherapie von vielen lediglich mit Techniken in Verbindung gebracht ohne den theoretischen Hintergrund, der ihre Praxis leitete. Sie verbreitete sich durch Workshops und Selbsterfahrung. Forschung und theoretische Entwicklung wurden mit Skepsis betrachtet, und die akademische Arbeit zur Gestalttherapie hat darunter gelitten. Das Bild der Gestalttherapie entwickelte sich dahingehend, dass sie als Wachstumstherapie und als auf schwere Störungen nicht anwendbar gesehen wurde.
Die Sicht auf die Gestalttherapie, die in diesem Buch geboten wird, ist erfrischend anders. Dieses Buch ist revolutionär in seinem Bemühen, das Thema der Psychopathologie aus einer gestalttherapeutischen beziehungsorientierten Perspektive zu betrachten, und es bietet eine spezifisch formulierte gestalttherapeutische Sicht auf das Verständnis von Psychopathologie. Es betrachtet die Psychopathologie als ko-kreiertes Feldphänomen, das an der Kontaktgrenze entsteht und das im Kontaktprozess verwandelt werden kann. Es handelt sich um einen lobenswerten Versuch, die Kernkonzepte einer gestalttherapeutischen Theorie der menschlichen Funktionsweise zu erweitern, um psychisch schwer kranke KlientInnen und psychotisches Verhalten zu verstehen.
Bis vor Kurzem gab es einen Mangel an theoretischer Entwicklung und Forschung in der Gestalttherapie, der die Anerkennung dessen, was die Gestalttherapie zu bieten hat, stark eingeschränkt hat. Als erfahrungsorientierte Therapie basierte die Ausbildung zum großen Teil darauf, die persönliche Erfahrung als eine Art des Lernens zu fördern. Dies führte zur Verunglimpfung intellektueller und wissenschaftlicher Zielsetzungen, zu einer Erhöhung des »Learning by doing« und dazu, dass nur das »Wissen durch Erfahrung« geschätzt wurde. Man musste es erleben, um es zu wissen. Dies stimmte mit der gestalttherapeutisch-phänomenologischen Theorie der Praxis überein, doch dieser Ansatz hatte so seine Probleme damit, Theorie und Forschung voranzutreiben. Dieser Ansatz setzte die Gestalttherapie der Gefahr aus, eine esoterische Praxis zu werden und jegliche Anerkennung als ernsthafter akademischer, professioneller und wissenschaftlich gültiger Ansatz zu verlieren. Der theoretische und klinische Ansatz, der in diesem Buch vertreten wird, ist ein Gegenmittel zu diesem Trend.
Mit dem Beginn des weltweiten Rufs nach evidenzbasierter Praxis fing die Gestalttherapie an, ihren Fokus zu verändern, und begann, theoretische Anstrengungen und Forschungsprojekte zu entwickeln und zu unterstützen. Eine anspruchsvolle Abhandlung der Psychopathologie, wie sie in diesen Kapiteln geboten wird, passt zu diesem neuen Weg und zeigt in eine neue Richtung. Meiner Ansicht nach kann es als Hilfe betrachtet werden, um neue Rahmenbedingungen für eine dritte Generation von GestalttherapeutInnen zu schaffen, einen Weg, der ganzheitlicher ist und theoretische Forschung und Praxis in einem phänomenologischen, beziehungsorientierten und empirischen Rahmen integriert.
Die Kapitel in diesem Buch konzentrieren sich auf viele klassische diagnostische Kategorien: Stimmung, Psychose, Persönlichkeit, Essstörungen und Psychosomatik, sexuelle Probleme, gewalttätiges Verhalten und Demenz. Obwohl sie klassische diagnostische Kategorien behandeln, versuchen die AutorInnen dieser Kapitel die Begegnung mit der KlientIn als zentrales Element zu betrachten, und bewahren die Bedeutung der Einzigartigkeit jedes Menschen und jeder Begegnung.
Außerdem denke ich, dass dieser Ansatz dazu beitragen wird, einen der wesentlichen Punkte zu fördern, den ich vertrete, nämlich die Bedeutung der von mir Prozessdiagnose genannten Diagnose, die die HerausgeberInnen in ihrem Konzept der intrinsischen oder ästhetischen Diagnose zusammenfassen. Aus dieser Perspektive umfasst die Diagnosestellung die Beobachtung von einem Moment zum nächsten. Auch das Nachspüren, wo sich die KlientIn befindet, gehört dazu, eine funktionale Diagnose, die den nächsten Moment der TherapeutIn leitet. Dabei handelt es sich um eine ko-konstruktive Form der Beteiligung, die im Herzen eine Form der Diagnose ist, die zu einer differenzierten Intervention führt. Dem Prozess zu folgen, ein zentrales Prinzip der Gestalttherapie, ist also kein mystischer oder esoterischer Prozess, wild und kreativ, jenseits von Beschreiben und Verstehen, sondern vielmehr eine disziplinierte Art und Weise, das Offensichtliche zu erkennen, eine Form der Wahrnehmungs-Differenzierung, ähnlich wie bei RadiologInnen, die Scans ablesen, um Phänomene zu entdecken, die darauf hinweisen, dass bestimmte Prozesse im Inneren passieren. Wir sind der Ansicht, dass die Therapie von der Identifizierung bestimmter Marker als Indikatoren innerer Zustände profitiert, die Möglichkeiten für bestimmte Arten von Handlungen seitens der TherapeutInnen aufzeigen, die diesen Zuständen am besten entsprechen. Diagnose und Intervention unter diesem Licht zu sehen, trägt dazu bei, dass die Kunst und Wissenschaft der Psychotherapie gemeinsam in der Ausübung qualifizierter Praxis zusammenkommen.
Ich gratuliere den HerausgeberInnen dazu, einen Band geschaffen zu haben, der zur Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie beiträgt und die Komplexität des gestalttherapeutischen Ansatzes zur klinischen Praxis mit komplexen Problemen behandelt.
Leslie Greenberg
Toronto, Dezember 2012
Einleitung der Herausgeber
Dieses Buch begann als Projekt in Athen im Jahr 2007, während der 9. EAGT-Konferenz, als wir davon träumten, ein solches Werk zu schaffen. Wir interessieren uns alle seit vielen Jahren für Psychopathologie und besonders für die spezifische gestalttherapeutische Perspektive zu diesem Thema (siehe z. B. Francesetti 2007; Roubal 2007; Francesetti und Gecele 2009). Wir sind GestalttherapeutInnen und PsychiaterInnen und jede(r) von uns hat einen Prozess durchlebt, um diese Hintergründe zu integrieren. Die Gestalttherapie hat unsere Art, ÄrztInnen zu sein, grundlegend beeinflusst: menschliches Leiden zu verstehen, uns mit der therapeutischen Beziehung zu befassen, unsere KlientInnen zu unterstützen, auf uns selbst als TherapeutInnen Acht zu geben. Außerdem hat unsere klinische Erfahrung uns sensibler für spezifische Aspekte des Gestaltansatzes gemacht. Wir waren begeistert von der Vorstellung, die Unterstützung, die uns die Gestalttherapie als ÄrztInnen geboten hat, mit unseren KollegInnen zu teilen und einen Dialog zur klinischen Anwendung unserer Therapieform zu beginnen.
Drei Elemente sind zugleich Hintergründe und Ziele in unserer Arbeit gewesen: Zuallererst gab (und gibt) es eine Lücke zwischen der reichen klinischen Erfahrung vieler GestalttherapeutInnen und der verfügbaren Literatur. Literatur zur gestalttherapeutischen klinischen Arbeit ist ein grundlegendes Werkzeug für Studierende in Ausbildungsprogrammen und bietet zusätzlich eine Unterstützung für den fortlaufenden Dialog über Psychopathologie und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit. Diese Literatur ist auch relevant für den Ruf der Gestalttherapie bei KollegInnen anderer Therapieformen und stellt ein Mittel dar, einen Dialog mit ihnen zu führen: Nur allzu oft ist unser Ansatz ausschließlich mit Techniken identifiziert worden, ohne das Wissen um unseren reichen theoretischen Hintergrund, der unsere Praxis leitet. Dieses Buch ist also ein Versuch, auszudrücken und zu beschreiben, was GestalttherapeutInnen in ihrer klinischen Praxis machen und wie unser spezifisches Verständnis von Psychopathologie aussieht.
Ein zweites Element, das uns zu diesem Projekt animiert hat, waren die Vorbehalte, die GestalttherapeutInnen oft gegenüber der Psychopathologie hegen. Es ist aus epistemologischen, historischen und politischen Gründen keine einfache Beziehung. Dennoch gibt es ein spezifisches gestalttherapeutisches Verständnis von Psychopathologie: Jedes psychotherapeutische Modell verfügt darüber, explizit oder implizit. Wir denken, dass die Lehre der humanistischen Bewegungen – die Einzigartigkeit jedes Menschen und jeder Begegnung – immer wertvoll bleibt: Die gestalttherapeutische Psychopathologie ist ein Verstehen des menschlichen Leidens durch unsere Theorie. Sie ist nicht dazu da, unsere KlientInnen mit Bezeichnungen zu versehen. Dieser Prozess ist eine wertvolle Unterstützung in unserer klinischen Praxis. Tatsächlich denken wir, dass das der Gestalttherapie zugrundeliegende Buch von Perls, Hefferline und Goodman gesundes und neurotisches Erleben gut beschrieben hat, dass seine wesentlichen Konzepte jedoch noch ausgeweitet werden können: So kann z. B. die Theorie des menschlichen Erlebens die Basis sein, um psychisch schwer erkrankte KlientInnen und psychotische Funktionsweisen zu verstehen.
Der dritte Punkt, der uns motiviert hat, war unsere Leidenschaft, menschliches Leiden als ein Feldphänomen zu verstehen: Wir haben täglich bei der Arbeit und in unserem Alltag mit Leiden zu tun und werden immer wieder aufs Neue von Leiden herausgefordert. Wir glauben und wir haben erlebt, dass die Gestalttherapie einen Schlüssel bieten kann, um leidenden Menschen beizustehen und sie zu unterstützen und zu verstehen. Zusätzlich bietet uns die Betrachtung menschlichen Leidens als Feldphänomen die Möglichkeit, das individuelle und das soziale Feld besser zu begreifen.
Dies waren die Motivationen, die uns – gepaart mit einem guten Stück Unwissenheit, was den Arbeitsaufwand anging – dazu gebracht haben, mit diesem Buch anzufangen.
Da unser Verständnis von Psychopathologie in vielen Kapiteln angesprochen wird, wollen wir uns hier auf den Untertitel konzentrieren: Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts. In dieser Zeile findet sich der Kern unserer Vision: Im Kontaktprozess kann das menschliche Leiden erreicht und verändert werden, und diese Verwandlung ist ästhetisch. Hier sind zwei Gedanken enthalten: Erstens, dass die Psychopathologie ein ko-kreatives Phänomen des Feldes ist, das an der Kontaktgrenze entsteht und im Kontaktprozess verändert werden kann. Zweitens, dass diese Verwandlung ästhetisch ist: Das heißt, dass sie mit unseren Sinnen wahrgenommen wird, mit ästhetischen intrinsischen Kriterien bewertet wird und sogar Schönheit erschaffen kann.1
Durch diese Mittel können wir die Psychopathologie ins Herz der gestalttherapeutischen Theorie bringen.
Wir wollen den LeserInnen verdeutlichen, dass die klinische Praxis nur eines der Felder ist, auf die die Gestalttherapie angewandt wird. Die gestalttherapeutische Theorie und Praxis können ein Arbeitsmodell für Organisationen, in der Kunst, der Bildung, in einer sozialen und politischen Dimension sein. Die Gestalttherapie kann als ein Weg gesehen werden, um die Gestaltung, den Prozess der Schaffung von Gestalten, die vereinte Gesamtheit der menschlichen Erfahrung zu unterstützen. Die Psychopathologie und die klinische Praxis sind also nur eines der Felder, in denen unsere Theorien nutzbringend angewandt werden können.
Dieses Buch ist in vier Abschnitte unterteilt.
Der erste Teil konzentriert sich auf die grundlegenden Prinzipien in Verbindung mit der Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Hier finden Sie ein paar grundlegende Themen, die vor oder während der klinischen Arbeit besprochen werden müssen: Kernkonzepte und modernisierte Konzepte der Gestalttherapie, die gestalttherapeutische Perspektive zur Psychopathologie, Diagnose und Entwicklung, Ethik, Forschung und die Beziehung zwischen Psychotherapie und Medikamenten.
Im zweiten Teil werden spezifische Kontexte und Fokusse besprochen: Dieser Abschnitt unterstützt die Feldperspektive des Leiden des Individuums und hilft der LeserIn, es im Rahmen sozialer, politischer und multikultureller Dimensionen zu betrachten. Sie finden hier auch zwei spezifische Fokusse, die besonders relevant für die klinische Praxis sind: Entwicklungstheorien und Scham.
Im dritten Abschnitt werden besondere Lebensumstände und Risikosituationen besprochen: Kindheit, Pubertät, Alter, Verlust und Trauer, Trauma und Suizidrisiko.
Im vierten Abschnitt werden verschiedene klinische Leiden aus einer gestalttherapeutischen Perspektive untersucht. Dieser Abschnitt bietet einen Überblick über klinische Erfahrungen und Forschungen zu den psychopathologischen Hauptthemen. Wir haben uns mit vielen klassischen diagnostischen Kategorien befasst: Demenz, abhängiges Verhalten, Psychosen, depressives und bipolares Erleben, Anorexie, Bulimie und Hyperphagie, Psychosomatik, sexuelle Probleme, Persönlichkeitsstörungen (Borderline, Narzissmus, Hysterie), gewalttätiges Verhalten. Wir haben uns für diese Kategorien entschieden, weil sie zum aktuellen psychopathologischen und diagnostischen Vokabular gehören. Wir hoffen, dass die LeserInnen ihren eigenen Weg finden, sich auf diese Kategorien zu beziehen und sie gleichzeitig zu dekonstruieren, wenn die Begegnung mit einer KlientIn die Einzigartigkeit jeder Begegnung zeigt. Wir haben uns bemüht, diese Reise in allen Teilen dieses Bandes zu unterstützen.
Am Ende unserer Arbeit haben wir bemerkt, dass sich die Struktur dieses Buches vom ursprünglichen Projekt unterscheidet: Wir hatten geplant, uns in einem Band auf spezifische klinische Leiden zu konzentrieren, und jetzt ist das der letzte Teil von vieren. Wir denken, dass diese Entwicklung ein wichtiges Thema hervorhebt: Beim Sprechen über Psychopathologie riskiert man immer, einem gewissen Reduktionismus anheimzufallen. Im Einklang mit unserer gestalttherapeutischen Perspektive haben wir daher die Notwendigkeit gesehen, den Grund des klinischen Leidens und der Arbeit zu nähren und zu beleuchten. Auf diese Weise hat dieses Buch – in gewisser Weise spontan – seine endgültige Form angenommen: Eine ziemlich lange und komplexe Reise in den Hintergrund, bevor man sich dem spezifischen individuellen Leiden widmet. Letztendlich spiegelt diese Form einen theoretischen Eckpfeiler dieses Buches: Das individuelle Leiden entsteht aus einem beziehungsbezogenen Grund, und dies gibt der Therapie eine Bedeutung und eine Richtung.
Auf jedes Kapitel folgt ein Kommentar, der von einer anderen AutorIn geschrieben wurde: Es war unser Ziel, eine zweite Meinung zu jedem Thema zu bieten, um es in einen breiteren kritischen Rahmen zu stellen, eine Art binokulare Perspektive, die eine dreidimensionale Betrachtung ermöglicht. Die LeserIn ist diesen unterschiedlichen Perspektiven ausgesetzt: ein komplexer Horizont, der die Komplexität des Feldes in diesem Moment aufzeigt. Das umfangreiche Literaturverzeichnis kann eine wertvolle Orientierung sein, die die meisten Teile der Literatur zur in der klinischen Praxis angewandten Gestalttherapie abdeckt. Wir haben ein paar sehr kritische Kommentare zu manchen Kapiteln erhalten: Wir denken, dass das ein Zeichen der Lebendigkeit ist, und ein Zeichen für ein sich entwickelndes Feld, in dem unterschiedliche Ansichten noch miteinander ringen und nach weiterer Diskussion verlangen.
Die Perspektiven in diesem Buch kommen von der verfügbaren Literatur und der spezifischen klinischen Erfahrung jeder AutorIn. Wir denken, dass dies ein wertvolles klinisches Kleinod ist, und hoffen, dass es zur Forschung auf diesen Gebieten anregt. Hypothetische klinische Konstruktionen zu haben, bietet tatsächlich einen guten Hintergrund für qualitative und quantitative Forschung.
Als HerausgeberInnen, die von einem gemeinsamen Hintergrund ausgegangen sind, haben wir während dieser Arbeit unsere Verschiedenheiten entdeckt und versucht, mit ihnen umzugehen. Und wir haben auch viele Unterschiede zwischen uns und den Autoren und den Autorinnen entdeckt. Wir haben in diesem Buch mehr als fünfzig Beitragende: Dies ist ein weiterer Grund für die Komplexität. Obwohl wir unser Bestes getan haben, um uns auf einen gemeinsamen Horizont hin zu orientieren, gibt es in allen Kapiteln und Kommentaren unterschiedliche Arten, Psychopathologie zu betrachten. Dieses Buch bietet ein Bild der Komplexität des gestalttherapeutischen Ansatzes, der in der klinischen Praxis angewandt wird. Die LeserInnen können die unterschiedlichen Ansätze mit der geographischen Herkunft der AutorInnen (sie kommen aus ungefähr zwanzig verschiedenen Ländern) und der Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie in Verbindung bringen. Eine reicher Grund und Zeuge eines wachsenden Feldes.
Abschließend hoffen wir, dass dieses Buch eine gute Form bekommen hat: Ein polyphoner Chor, in dem jede Stimme ihre eigenen Qualitäten hat und zu einem holistischen Ganzen beiträgt. Es ist jedenfalls die Form, die wir in diesen Zeiten fördern wollen und die unsere eigenen und die Ressourcen und Stärken des Feldes darstellt. Wir hoffen auch, dass dieser Band ein Ausgangspunkt für zukünftige Entwicklungen sein wird: ein Stimulus für TherapeutInnen und ForscherInnen, die Reichhaltigkeit der Gestalttherapie zu erweitern.
Wenn wir unsere oben beschriebenen Motivationen betrachten, können wir sagen, dass wir zufrieden sind: Wir denken, dass dieses Buch signifikante Literatur in einem breiten Feld darstellt und ein grundlegendes Werkzeug für die klinische Arbeit bieten kann.
Wir wollen dieses Buch Isadore From widmen: Seinen Anstrengungen, die Gestalttherapie zu einem kohärenten klinischen Ansatz bei der Behandlung von Psychopathologien zu machen.
Wir richten dieses Buch an unsere GestaltkollegInnen in der klinischen Praxis, an AusbildnerInnen und Auszubildende in ihrem lehrenden/lernenden Unterfangen. Aber auch an TherapeutInnen anderer Richtungen: Sie können hier einen neuen Weg entdecken, Psychopathologie zu behandeln, und in einer Zeit des Dialogs und der Integration hoffen wir, dass dieser Band eine Brücke zwischen unterschiedlichen Perspektiven bildet.
Gianni Francesetti
Michela Gecele
Jan Roubal