Kitabı oku: «Hoffnungsmorgen», sayfa 2

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Annekatrin Warnke

verurteilt

An meinen geliebten Neffen Pontius Marcus, es schreibt Pontius Pilatus, fünfter Statthalter der römischen Provinz Judäa.

Lieber Marcus,

dein Brief kam heute gerade recht. Seit gestern bin ich in düsterer Stimmung. Gesegnet sei deine spitze Feder! Der neueste Klatsch aus meinem geliebten Rom hat mich ein wenig aufgeheitert.

Nun kann ich ja von deinen Sonnenstrahlen auf Papyrus nie genug bekommen. Sie wärmen mich schon einige Jahre in dieser unwirtlichsten und freudlosesten aller römischen Provinzen. Oft genug habe ich bei dir klagen dürfen, meinen Unmut ausdrücken können: Warum geht Rom nicht härter vor gegen dieses aufmüpfige Volk? Warum bin ich gehalten, mich mit den religiösen Autoritäten dieses unkultivierten Landes gutzustellen? Es ist demütigend, so tun zu müssen, als nähme ich diese heuchlerische oberste Priesterriege ernst …

Aber ich will dich nicht zum wiederholten Mal mit meiner allgemeinen Empörung langweilen. Du wirst deinen alten Onkel besser verstehen, wenn ich dir die jüngsten verstörenden Ereignisse schildere: Gestern, am frühen Morgen, brachte der jüdische Rat einen Gefangenen zu mir. Der Wortführer dieser Bande war der Hohepriester Kajafas. Von diesem unsäglich religiösen Machtmenschen habe ich dir mehrfach berichtet. Auch gestern Morgen machte er sich nicht zu meinem Freund. Lautstark verlangte er zunächst, dass ich auf dem Vorplatz meines Palastes erscheine. Die Juden sind überzeugt, dass sie unrein werden, wenn sie das Haus eines Nichtjuden betreten. Unverschämtheit!

Aber die Politik Roms ließ mir keine Wahl. Ich musste diesem hochnäsigen Gesindel zu Willen sein. Du kannst dir denken, wie es um meine Laune bestellt war. Sie wurde nicht besser, als ich die Beschuldigung hörte, die Kajafas vorbrachte. Dieser Gefangene – sein Name war Jeshua – solle das Volk aufgewiegelt haben, weil er ein Gotteslästerer sei. Was interessiert es mich, ob dieser seltsame jüdische Gott verlästert wird oder nicht? Dieser Gefangene interessierte mich auch nicht. Ein Gesindel mehr oder weniger – was soll’s?

Ich war willens, diese leidige Angelegenheit so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Zunächst legte ich dem jüdischen Rat nah, den Mann nach seinem eigenen Gesetz zu verurteilen. Aber sie wollten unbedingt ein Todesurteil haben. Hinrichtungen in besetzten Gebieten hat Rom sich vorbehalten, wie du weißt.

,Nun gut‘, dachte ich. ,Spreche ich halt das Urteil und kann dann in Ruhe zu meiner unterbrochenen Morgenmahlzeit zurück.‘

Und dann stand ich diesem Jeshua gegenüber. Ich hatte ihn in den Palast bringen lassen, um nicht länger auf meinem Vorplatz herumstehen zu müssen. Ich war spontan beeindruckt von diesem Mann.

Er wirkte überhaupt nicht wirr und rebellisch wie die meisten dieser jüdischen Wanderprediger, die bei ihren religiösen Führern in Ungnade fallen. Er war ruhig und gefasst, seine Ausstrahlung gefiel mir. Nicht einmal versuchte er, seine Ankläger schlechtzumachen oder sich zu verteidigen.

Und dann traf er mich mit knappen Worten mitten ins Herz. Ich fragte ihn: „Bist du der König der Juden?“

„Mein Königtum stammt nicht von dieser Welt“, antwortete er. „Ich wurde geboren und bin in die Welt gekommen, um die Wahrheit offenbar zu machen und als Zeuge für sie einzutreten. Wem es um die Wahrheit geht, der hört auf mich.“

Was soll ich sagen, liebster Neffe? Obwohl ich Jeshua eine entwaffnende Antwort gab, nämlich: „Was ist Wahrheit?“, hatte ich doch das Gefühl, der Wahrheit gerade begegnet zu sein. Ich wollte nicht, dass dieser Mann gekreuzigt wird!

Statt zu meiner Morgenmahlzeit zurückzukehren, war ich nun bereit, mich für Jeshua einzusetzen. Also ging ich hinaus zu Kajafas und der übrigen Priestermeute und sagte ihnen: „Ich sehe keinen Grund, diesen Mann zu verurteilen.“

Aber sie ließen nicht locker, behaupteten weiter, dass Jeshua das Volk aufwiegelt. Mir war klar, dass die Priesterschaft neidisch auf den Erfolg war, den Jeshua mit seiner Ausstrahlung bei der Bevölkerung hatte. Leider war mir auch klar, dass ich die religiösen Führer nicht brüskieren durfte. Wie schon gesagt – Rom und seine Besänftigungspolitik …

Dann fiel mir Herodes ein. Da Jeshua aus Galiläa stammte, war dieser jüdische König von Roms Gnaden als Erster zuständig. Wenn ein Jude Jeshua freisprechen würde, könnte sich der Zorn der Priester nicht gegen Rom richten. Und ich wäre fein raus. Also schickte ich Jeshua zu Herodes, der glücklicherweise gerade in Jeruschalajim weilte.

Die Priester hatten unterdessen eine große Volksmenge gegen Jeshua aufgewiegelt. Als ich der Menge mitteilte, dass Herodes und ich Jeshua begnadigen wollten, schrien sie: „Nein! Kreuzige ihn!“

Ich habe dir ja schon mal von dem Brauch berichtet, dass ich zum jüdischen Pessachfest einen Gefangenen freigebe, den das Volk bestimmen darf. Gestern war der Tag vor diesem Pessachfest. Also guckte ich einen ganz üblen Buschen aus, der wegen Mordes im Gefängnis saß. Er heißt Barrabas. Ich stellte die Menge vor die Wahl, entweder ihn oder Jeshua zu begnadigen. Ich war unglaublich schockiert, als die Menge schrie: „Gib uns den Barrabas frei!“ Ich verglich diesen üblen Gesellen mit Jeshua und verstand die Welt nicht mehr.

Und nicht, dass du denkst, ich hätte mir irgendwie die Sinne vernebeln lassen von einer charismatischen Persönlichkeit! Gut, ich kann mein Faible für ihn nicht erklären. Als ich Jeshua begegnete, war er auf den ersten Blick nicht anziehender als andere jüdische Verbrecher. Sein ehemals weißes Gewand war schmutzig, voller Schweiß und Blutstropfen. Eklig wirkte das, als hätte er Blut geschwitzt! Er sah völlig fertig aus nach einer langen Verhörnacht und roch auch nicht besonders gut. Trotzdem strahlte er Würde aus. Und irgendwie – ja. ich kann das nicht anders ausdrücken – Liebe. Oder Güte? Nicht nur Herodes und ich wollten Jeshua retten, deiner Tante Claudia ging es ganz genauso. Noch während ich auf dem Richterstuhl saß, schickte sie mir eine Botschaft: „Lass die Hände von diesem Gerechten! Seinetwegen hatte ich letzte Nacht einen schrecklichen Traum!“

Ach, Marcus, du ahnst nicht, was für eine Angst mich da ergriffen hat! Das war die dritte Bestätigung der Wahrheit: Jeshua war unschuldig! Ich selbst wusste das ja sofort, als ich mit ihm gesprochen hatte. Selbst Herodes, dieser leichtfertige Genussmensch, hatte das erkannt. Und nun stellte sich auch noch heraus, dass Claudia auf einem wundersamen Weg zur gleichen Erkenntnis gekommen war.

Verzweifelt versuchte ich, die Juden noch einmal davon zu überzeugen, Jeshua nicht hinrichten zu lassen. Aber sie schrien nur noch lauter: „Kreuzige ihn!“ Ich versuchte sogar, Jeshua dazu zu bringen, mir Rede und Antwort zu stehen, um einen Beweis seiner Unschuld vorbringen zu können. Doch er sprach nicht mehr mit mir. Ich bedrängte ihn und sagte: „Vergiss nicht, dass ich die Macht habe, dich freizugeben, aber auch die Macht, dich ans Kreuz zu bringen!“

Er sagte: „Du hättest keine Macht über mich, wenn Gott es nicht zugelassen hätte.“

Da hatte ich noch mehr Angst und wusste nur noch einen Ausweg. Auf die Idee hatte Herodes mich gebracht. Er hatte sich einen Spaß gemacht und dem fix und fertig aussehenden Mann ein Prachtgewand anziehen lassen. Das war grotesk und sah wirklich erbarmungswürdig aus. Ich dachte, diesen Eindruck könnte ich noch verstärken, und ließ Jeshua auspeitschen. Meine Soldaten verspotteten ihn und drückten eine Dornenkrone auf sein Haupt.

So – hilflos, beklagenswert und blutend – führte ich Jeshua noch einmal vor die Volksmenge. Ich hoffte auf ihr Mitleid, sagte nur: „Seht ihn euch an, den Menschen!“

Aber die Erregung der Menge wurde nur noch größer. „Kreuzigen, kreuzigen!“, so riefen sie lauter und lauter.

Im Einklang mit der Politik Roms blieb mir nichts anderes übrig, als ihnen ihren Willen zu lassen. Aber ich wollte unbedingt ein Zeichen setzen. Ich ließ mir eine Schüssel mit Wasser bringen. Vor allen Leuten habe ich mir die Hände gewaschen. Dabei sagte ich laut und deutlich: „Ich habe keine Schuld am Tod dieses Mannes. Das habt ihr zu verantworten.“

Ja, Marcus, ich weiß. Das war eine klägliche Vorstellung. Statt die Macht meines Amtes zu nutzen, habe ich mich dem Pöbel unterworfen – wider besseres Wissen und Gewissen. Aber du hättest diese Raserei der Menge erleben müssen! Da hätte ich nur mit Waffengewalt gegenhalten können. Und der Auftrag Roms lautet: Aufstände möglichst vermeiden. Das ist der Fluch eines hohen Amtes. Manchmal müssen persönliche Erkenntnisse zum Wohl des großen Ganzen hintanstehen.

Das soll dich aber nicht von deiner Entscheidung abhalten, im römischen Staat politische Karriere zu machen. Du hast da sicher eine glänzende Zukunft vor dir!

Ich selbst stecke immer noch mitten in den düsteren Grübeleien über mein Urteil. Gestern also wurde Jeshua gekreuzigt. Während dieser Zeit gab es mitten am Nachmittag stundenlange Sonnenfinsternis. Die war von unseren Auguren nicht angekündigt worden.

Du kannst dir vorstellen, wie mich – und auch Claudia – dieses Phänomen geängstigt hat. Sollte in der ganzen unglücklichen Geschichte doch eine höhere Macht das Sagen haben?

Am Sabbat heute herrscht Ruhe im ganzen Land. Der Leichnam von Jeshua ist noch vor Beginn dieses lähmenden wöchentlichen Ruhetags der Juden vom Kreuz genommen und begraben worden.

Kajafas hat mich genötigt, Wachen am Grab aufstellen zu lassen. Es ist mir eine Genugtuung, wie nervös dieser unsympathische religiöse Führer immer noch ist. Er sollte doch zufrieden sein. Jeshua ist tot! Aber Kajafas hat Angst: „Jeshua hat angekündigt, dass er am dritten Tag nach seiner Kreuzigung aufersteht. Seine Anhänger werden versuchen, seinen Leichnam zu stehlen, und behaupten, diese Auferstehung habe tatsächlich stattgefunden. Deshalb muss das Grab bis Montag bewacht werden“, hat er mir aufgeregt befohlen. Befohlen! Er – mir! Aber gut – auch das habe ich noch im Sinne Roms getan und die Wachen abgestellt.

Das ist die unsinnigste Verschwendung römischer Steuergelder überhaupt! Am Montag werden wir die Soldaten für zwei Tage Würfelspielen vor einer Höhle bezahlen müssen.

Ich bin gespannt auf deinen nächsten Brief mit dem neuesten Klatsch aus Rom! Welche peinlichen Folgen für Kajafas aus seiner unnötig angeforderten Grabbewachung entstehen, erzähle ich dir im nächsten Brief. Möge der Hohepriester sich ordentlich blamieren!

Es grüßt dich, mit herzlicher Umarmung, dein Onkel Pilatus. Schicke die Grüße an meinen Bruder und die ganze Familie weiter. Vale!

Fabian Vogt

getragen

Hey, Wirt! Schenk noch mal ein!

Ja, ja, mach ruhig richtig voll. Randvoll. Los, nicht so schüchtern. Oder denkst du, ich kann nicht zahlen?

Was hast du denn? Ist es, weil ich schwarz bin? Weil ich aus Kyrene komme? Weil ich anders aussehe als ihr?

Hör mal: Ich zahle meine Steuern genau wie jeder hier. Und meine Söhne, Alexander und Rufus, die blechen auch. Und wie! Und sie gehen jeden Tag auf den Acker. Wie ich, Simon. Ja, wir sorgen dafür, dass ihr … dass ihr alle was zu fressen habt.

Vergiss es.

Pass auf! Moment. Hier! Hier ist eine Münze.

Also, hör auf, mich so belämmert anzugucken, und gib mir noch was von dem Wein.

Du, ich mag es nicht, wenn man mich so anstarrt. Was hast du denn?

Ach so …

Ist es wegen des Bluts auf meinem Gewand?

Wart mal … hab ich etwa auch Blut im Gesicht?

Scheiße, ich bin ja überall total verschmiert. Warum sagt mir das denn keiner?

Du, echt, das tut mir leid. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Schlachter. Oder wie ein Priester, der gerade ein Opfertier zerlegt hat. Oder wie ein Wahnsinniger.

Glaub mir, so fühle ich mich auch.

Aber um dich zu beruhigen, Wirt: Ich bin kein Mörder. Das hier ist zwar das Blut von einem Menschen, aber ich habe niemanden umgebracht. Im Gegenteil.

Hey! Was glotzt ihr denn alle so? Kümmert euch um euren eigenen Kram.

ICH HABE NIEMANDEN UMGEBRACHT!

Also braucht ihr auch keine Angst zu haben. Ich tu keinem was zuleide. Ich will einfach nur was trinken. Auf den Schreck. Auf das Wunder.

Hey, du da. Steck das Messer weg. Hast du nicht zugehört? Ich bin nicht gefährlich.

Ist schon gut. Ganz ruhig.

Passt auf, ich erzähle euch, was passiert ist.

Moment, ich will erst noch einen ordentlichen Schluck nehmen.

Also …

Vorhin komme ich vom Feld zurück in die Stadt … und freue mich unfassbar auf ein deftiges Essen. Sarah, die Frau meines Sohnes Alexander, kocht freitags immer einen richtig fetten Eintopf.

Doch als ich direkt hinter dem Tor entlanglaufe, sehe ich schon von weitem, dass sie wieder mal ein paar arme Schweine durch die Straßen treiben … na ja … irgendwelche Typen eben, die zum Tod verurteilt wurden … und auf die vor der Stadt ein Kreuz wartet.

Gut, da bin ich halt hin. Ganz kurz.

Wollte nur schnell gucken, was das für Kerle sind.

Und ob dieser eine dabei ist … ihr wisst schon … dieser Jeshua, von dem sie alle seit Tagen reden. Der angeblich behauptet hat, er wäre der Messias, der von Gott verheißene Retter, auf den ihr Juden schon so lange wartet.

Na, ich bin kein Jude. Mir war die ganze Aufregung ziemlich egal. Aber wenn da einer so viel Aufmerksamkeit erregt, dann kann man ja mal einen Blick riskieren.

Und tatsächlich: Als ich mich zwischen zwei kräftigen, keifenden Frauen an den Straßenrand dränge, sehe ich ihn vor mir, keine zehn Meter entfernt.

Ich musste erst mal schlucken. Und wie.

Sie hatten ihn nämlich übel zugerichtet. Sein ganzer Körper war mit Striemen von Peitschen übersäht. Grausam. Und dazu haben sie ihm noch eine aus Dornenranken geflochtene Krone gewaltsam auf den Kopf gedrückt. Könnt ihr euch das vorstellen?

Glaubt mir: Die spitzen Dornen hatten sich richtig tief in seine Haut gegraben.

Ja, er konnte kaum noch etwas sehen, weil ihm das Blut aus den Wunden auf seiner Stirn direkt in die Augen gelaufen ist. Echt widerwärtig.

Doch dann ging auf einmal ein Raunen durch die Menge der Schaulustigen. Wie ein gemeinsamer unterdrückter Schrei.

Jeshua war hingefallen.

Unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen. Einige lachten. Andere fingen an, miteinander zu diskutieren.

Der gefallene „Messias“! Der Retter am Boden.

Und weil er so viele Wunden hatte, färbte sich unter ihm schon der Boden rot. Ja, sein Blut floss in die Ritzen zwischen den Steinen.

Zwei Soldaten zogen ihn hoch, zurück auf die Beine – und befahlen ihm, gefälligst weiterzulaufen.

Einer der beiden trat Jeshua dabei kräftig in den Rücken, was ihn wie eine Puppe nach vorne schnellen ließ.

Doch er stand einfach nur da.

Nein, so kann man es nicht sagen.

Jeshua bemühte sich. Er versuchte verzweifelt, ein Bein vor das andere zu setzen.

Taumelte schon wieder.

Wankte.

Verzog das Gesicht vor Anstrengung.

Und atmete so laut, dass man es durch die gesamte Straße hören konnte.

Da hob der eine Soldat angewidert die Hand und deutete auf mich.

„Was? Ich?“

Ich versuchte, mich unauffällig zu verdrücken. Vor allem, weil ich es hasse, dass mich alle wegen meiner dunklen Haut für einen Sklaven halten. Ich bin kein Sklave. Ich bin ein freier Mann. Wie ihr.

Doch der Römer kam schon drohend auf mich zu.

„Du da. Hilf diesem Verbrecher, sein Kreuz zu tragen. Ja, dich meine ich. Beweg dich hier rüber. Oder möchtest du im Gefängnis landen?“

Ich verfluche dieses elende Recht, das den Besatzern die Macht gibt, uns einfach willkürlich für irgendwelche Dienste in Anspruch zu nehmen. Aber was blieb mir übrig. Ich musste gehorchen.

Zögernd lief ich auf diesen Jeshua zu. So langsam, dass mir der Soldat schon einen Stoß versetzte.

O Mann, dachte ich. Wie sollte ich denn diesen groben Balken anfassen? Wie sollte ich das Ding bloß hochwuchten? Schließlich hing da ja ein Mensch dran.

Schließlich wurde mir klar: Ich konnte das Kreuz nur auf eine Weise tragen … dadurch, dass ich Jeshua selbst stützte.

So wand ich mich unter seinen rechten Arm, den sie schon an das Holz gebunden hatten, und legte meinen Arm um seine Hüfte, sodass er sein Gewicht ganz auf meine Schulter stützen konnte.

Er stöhnte kurz auf, weil ich vermutlich dabei in einige offene Wunden gegriffen hatte, aber es war wirklich der einzige Weg, ihm zu helfen.

Dann zog ich ihn mit mir. Schritt für Schritt. Die Straße entlang. Richtung Golgatha.

Danke, Wirt. Du erkennst, was ein Mann braucht. War mein Becher schon wieder leer? Na ja, Erzählen macht eben durstig. Das hast du gut erkannt. Gib hier dem Mann mit dem Messer auch noch einen Schluck. Er sieht so aus, als hätte er ihn nötig.

Wo war ich?

Genau, ich stolperte mit Jeshua durch die Menge. Angetrieben durch die erbosten Rufe der Römer.

Und dabei passierten lauter Dinge gleichzeitig. Zuerst spürte ich, dass Jeshua, der anfangs noch verzweifelt versucht hatte, selbst zu laufen, sich auf einmal ganz auf mich fallen ließ. Ja, er ließ sich von mir tragen. Und ein tiefer Seufzer kam aus seinem blutverklebten Mund.

Ich hatte sofort den Eindruck, er wolle mir – oder sich selbst – damit was sagen. Ich weiß nicht genau, was. Aber es fühlte sich an wie: „Man wird erst dann ganz ein Mensch, wenn man lernt, sich von anderen tragen zu lassen“?

Vielleicht irre ich mich aber auch. Die Situation war so unglaublich verworren.

Auf jeden Fall fühlte es sich an, als sprächen wir miteinander. Lautlos. Über unsere Körperflächen, die aneinandergedrückt wurden. Und ich erkannte, dass in diesem zerschundenen, gemarterten und gedemütigten Körper trotz all des Leids eine ungeheure Kraft wohnte. Keine Kraft der Muskeln. Eine Kraft der … keine Ahnung, wie ich es ausdrücken soll … eine Kraft eben. Und zwar eine unglaubliche Kraft.

Als ich Jeshua gerade fragen wollte, was er mir denn sagen wolle, stürzte eine Frau vom Straßenrand auf uns zu, zog ein Tuch aus Muschelseide aus ihrem Gewand und wischte dem Mann zärtlich das Blut aus den Augen.

„Ich bin Veronika“, sagte sie, „erinnerst du dich an mich, Jeshua? Ich bin die Frau, die zwölf Jahre lang an Blutfluss gelitten hat. Ich wurde geheilt, als ich dein Gewand berührte. Ich musste nur dein Gewand anfassen. Und mein Leiden war beendet. Das werde ich dir nie vergessen.“

Aus Jeshuas Kehle kam ein Röcheln. Doch ich sah, dass er sie erkannte. Und er hielt ganz still, als der feine Stoff über seine Haut glitt.

Sofort kam der römische Soldat und riss Veronika weg. Brutal. „Lass die Verurteilten in Ruhe. Kapiert?“

Ich stapfte ängstlich weiter und sah noch aus den Augenwinkeln, dass die junge Frau völlig verblüfft auf ihr Tuch starrte, als hätte sich darin das Gesicht Jeshuas verewigt. Aber das war sicher nur eine Täuschung.

Ich kann nicht sagen, wie lange wir zusammen brauchten, Jeshua und ich, bis wir die Schädelstätte erreichten. Waren es fünfzehn Minuten? Oder eine ganze Stunde? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Nein, als hätte ich schon Anteil an der Ewigkeit.

Irgendwann herrschte mich der Soldat an: „Das reicht. Den Rest schafft er allein. Verpiss dich!“

Ich schaute Jeshua fragend an.

Er nickte. Unmerklich.

Dann sagte er leise: „Simon, Schalom.“

Er kannte meinen Namen? Dabei waren wir uns noch nie zuvor begegnet.

Doch das war nicht das Entscheidende.

Das Entscheidende begriff ich erst, als ich meine Hand ansah, die ganz mit seinem Blut bedeckt war.

Hier, seht ihr diese Hand?

Schaut genau hin. Ganz genau!

Fällt euch etwas auf?

Nein, natürlich nicht.

Und das … das ist das Wunder.

Lasst es mich erklären …

Als ich ein Kind war, da ist mir ein schwerer Holzbalken auf die Hand gefallen. Damals brach sie mehrfach – und wuchs völlig falsch wieder zusammen. Ja, meine Hand war verkrüppelt. Total schief … etwa …

Schaut, ich kann es gar nicht mehr richtig nachmachen. So schräg stand meine Hand all die Jahre ab. So!

Bis eben. Bis sie Jeshuas Körper auf seinem letzten Weg hielt. Und er mich heilte.

Jetzt greife ich den Becher mit Wein genau so wie jeder von euch.

Ihr glaubt mir nicht?

Meint ihr, das Erlebte hätte mir die Sinne verwirrt?

Oder: Ich hätte jetzt vor lauter Aufregung doch zu viel von dem guten Wein gekostet?

Dann kommt mit.

Ja, ihr alle.

Kommt mit in unser Haus. Da sind meine Söhne, meine Schwiegertöchter und meine Enkel. Die werden euch bestätigen, dass ich ein Krüppel war.

Wirklich. Ich meine das ernst. Es ist gar nicht weit. Nur ein paar Minuten.

Ja, auch du. Steck dein Messer weg und vertraue. Einmal nur.

Wisst ihr: Ihr müsst mir nicht glauben.

Ist ja auch egal.

Ich weiß nur eines: Wenn dieser Mann, dieser Jeshua, der Messias war … also: Wenn er es ist, dann ist er nicht nur der Messias der Juden. Dann ist er der Messias für alle Menschen.

Selbst für mich, der ich schwarz bin und aus Kyrene komme.

Wollen wir los?

Sagt mir: Wer kommt mit?

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22 aralık 2023
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9783865069689
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