Kitabı oku: «Kakanien oder ka Kakanien?», sayfa 3

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Kakanien im Wandel – Annäherungen

Musils Kakanien
Die Frage nach dem Realitätsgehalt eines literarischen Topos

Ernst Bruckmüller

Musil als Quelle?

Ob die literarische Schilderung Kakaniens im achten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil eher als realistische Schilderung des alten Österreich (oder Österreich-Ungarn?) oder eher als literarische Überhöhung bzw. Verfremdung anzusehen ist, ist für Germanisten nicht besonders relevant. Für Historiker (und -innen) ist diese bekannte Stelle hingegen eine nur allzu große Versuchung, sie zu zitieren – man erspart sich angesichts der Eleganz der Musil’schen Sätze eigene Formulierungsmühsal. Der Autor dieser unmaßgeblichen Zeilen ist dieser Versuchung selbst erlegen (Bruckmüller 2001, 282–284).

Allerdings hat uns Musil selbst ein paar wichtige Warnschilder aufgestellt. So versichert er an einer Stelle, dass „weder an dieser Stelle noch in der Folge der glaubwürdige Versuch unternommen werden wird, ein Historienbild zu malen und mit der Wirklichkeit in Wettbewerb zu treten“ (Musil 2016a, 270; vgl. Wolf 2011, 32). Und an anderer Stelle betont Musil, dass ihn „die reale Erklärung des realen Geschehens“ nicht interessiere (Musil 2015a; vgl. Wolf 2011, 32). Später (1941) gestand Musil selbst, der Roman sei ihm doch unter der Hand „ein historischer Roman“ geworden (Musil 2015b; vgl. Wolf 2011, 32). Zu dieser Zeit war Kakanien ja angesichts des von Hitler ausgelösten Zweiten Weltkrieges und unfassbarer Gräuel aller Art schon sehr weit weg von der realen Welt der damaligen Europäer. Die den Hintergrund für Musils so zahlreiche verschiedene menschliche Typen und Charaktere bildende Habsburgermonarchie war durch den zweiten, gegenüber 1918 erheblich schlimmeren zivilisatorischen Bruch von 1933/45 nur mehr als relativ harmlose, leicht skurrile Erscheinung erinnerbar.

Auch der Doyen der österreichischen Geschichtsforschung, Gerald Stourzh, warnte übrigens davor, Musil unbesehen als ,Quelle‘ für die Analyse der Gesellschaft und des politischen Systems der Habsburgermonarchie zu verwenden (vgl. Stourzh 1991, 64). Er betonte, dass Musils Kakanien sehr stark aus der Wiener Sicht skizziert sei und Ungarn nur unzureichend mit einbeziehe. Stourzh versuchte dies an Hand des bekannten Diktums über den Staatsnamen zu belegen: Kakanien

nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. (Musil 2016a, 49)

Stourzh fügt hinzu: In Budapest sahen die Dinge anders aus; es genüge, Péter Hanáks Darstellung der historischen Parallelaktion von 1898 in Ungarn, des Widerspiels von fünfzigjährigem Revolutionsgedenken und verkrampftem Thronbesteigungsjubiläum Franz Josephs zu lesen, um dies zu sehen (vgl. Stourzh 1991, 64). Stourzh kritisiert ferner – in einer Fußnote – die bekannte Formulierung Musils zum kakanischen Parlamentarismus:

Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. (Musil 2016a, 49)

Doch gab es diesen Notstandsparagraphen (Art. 14. des Gesetzes über die Reichsvertretung) eben nur in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern, also in „Cisleithanien“ – aber nicht in Ungarn! (Vgl. Stourzh 1991, 64) Wie auch immer – das Kakanien-Kapitel und spätere Teile des Buches, die sich mit Problemen des kollektiven Bewusstseins in jenem eigentümlichen Staatswesen befassten, sind nicht die Frucht essayistischer Schnellschüsse, sondern Ergebnisse eines komplexen und langwierigen Formulierungsprozesses, in dem es stets darum ging, auf den jeweiligen Sachverhalt passende Beschreibungen zu finden. Musil war ein hervorragender Kenner jener untergegangenen Welt. Er wusste daher sehr gut, worüber er schrieb.

Es bleibt eine wesentliche, von Stourzh bereits angedeutete Unschärfe: Bei Musil gibt es nur ein Kakanien. Es waren aber in Wahrheit zwei: die österreichisch-ungarische Monarchie, die nach außen einheitlich auftrat (wenigstens prinzipiell, nicht immer) und deren Institutionen mit dem Kürzel „k.u.k.“ versehen waren (der Hof, die gemeinsame Armee, das gemeinsame diplomatische Corps waren „kaiserlich und königlich“), und der westliche Teil dieser Monarchie, „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“, deren Institutionen mit „k.k.“ (kaiserlich-königlich) abgekürzt wurden. Musil widmet sich zumeist dieser Ländergruppe, die seit 1915 auch offiziell „Österreich“ hieß, thematisiert aber in verschiedenen Abschnitten auch das Gemeinsame (oder nicht Gemeinsame) der gemeinsamen Monarchie.

Die Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Habsburgermonarchie in jenen knappen sieben Dekaden zwischen 1849 und 1918 ist in den letzten Jahrzehnten zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand zahlreicher Historiker geworden. Ich erwähne hier vor allem das vielbändige Werk Die Habsburgermonarchie 1848–1918, das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde und wird (vgl. Wandruszka/Urbanitsch 1973–1993 bzw. Rumpler/ Urbanitsch 2000 ff.). Einen neuen Interpretationsversuch legte Pieter Judson (2017) vor. Und so weiter. Wir wollen uns nun einigen Aspekten der historischen kakanischen „Realität“ (die ja immer nur in Anführungszeichen möglich ist) und ihren Musil’schen Brechungen zuwenden.

Schwarz-gelb und Rot-weiß-grün

Im Kapitel 42 des Mann ohne Eigenschaften thematisiert Musil das österreichischungarische „Staatsgefühl“:

Dieses österreichisch-ungarische Staatsgefühl war ein so sonderbar gebautes Wesen, daß es fast vergeblich erscheinen muß, es einem zu erklären, der es nicht selbst erlebt hat. Es bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem Ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses zweite war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war. Der Österreicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie, was das gleiche bedeutet wie einen Österreicher mehr einem Ungarn weniger diesen Ungarn, und er tat das nicht etwa mit Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe, die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebensowenig leiden wie die Ungarn ihn, wodurch der Zusammenhang noch verwickelter wurde. Viele nannten sich deshalb einfach einen Tschechen, Polen, Slowenen oder Deutschen, und damit begann jener weitere Zerfall und jene bekannten „unliebsamen Erscheinungen innenpolitischer Natur“, wie sie Graf Leinsdorf nannte, die nach ihm „das Werk unverantwortlicher, unreifer, sensationslüsterner Elemente“ waren, die in der politisch zu wenig geschulten Masse der Bewohner nicht die nötige Zurückweisung fanden. (Musil 2016a, 269 f.)

Und, nach der Versicherung, der Autor wolle kein Historienbild malen (wir haben oben darauf hingewiesen!), verweist er darauf,

[…] daß die Geheimnisse des Dualismus (so lautete der Fachausdruck) mindestens ebenso schwer einzusehen waren wie die der Trinität; denn mehr oder minder überall gleicht der historische Prozeß einem juridischen mit hundert Klauseln, Anhängseln, Vergleichen und Verwahrungen, und nur darauf sollte die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Ahnungslos lebt und stirbt der gewöhnliche Mensch zwischen ihnen, aber ganz und gar zu seinem Heil, denn wenn er sich darüber Rechenschaft geben wollte, in was für einen Prozeß, mit welchen Anwälten, Spesen und Motiven er verstrickt ist, könnte ihn wahrscheinlich in jedem Staat der Verfolgungswahnsinn packen. (Musil 2016a, 270 f.)

Ja, so gemein konnte Musil sein – zuerst macht er uns neugierig, wie es mit diesem „Staatsgefühl“ wirklich aussah, dann flüchtet er sich in seine glänzende Ironie. Und wir stehen da und wissen wieder nichts. Tatsächlich gab es ja damals noch keine entwickelte Sozialforschung, und anders als im späten 20. Jahrhundert haben wir keine Ergebnisse von Umfragen über österreichisches, ungarisches oder gar österreichisch-ungarisches Staats-oder Nationalbewusstsein. Wir können daher nur in der überreichen damaligen Publizistik oder in den zahllosen seither erschienenen Büchern nachlesen, was es zu diesem Thema alles gibt, und das ist in der Tat sehr viel. Eine recht präzise Zusammenfassung bietet Gerald Stourzh in dem von uns schon eingangs zitierten Aufsatz. Danach gab es für praktisch alle Ungarn, die ein „Staatsgefühl“ hatten, immer nur Ungarn als Gegenstand ihrer Identifikation und Verehrung. Auf Grund einer verwickelten Vorgeschichte musste dieses heilige Ungarn 1867 einen König akzeptieren, dessen Armee noch 1849 gemeinsam mit den Russen die freiheitsliebenden Ungarn niedergezwungen hatte. Nachdem jener aber einige Kriege verloren hatte, musste er sich zu Verhandlungen mit den Ungarn bequemen, die zum so genannten „Ausgleich“ führten, worauf ihn die Ungarn krönen ließen und weiterhin als legitimen König akzeptierten. Dass dieser König daneben auch noch Kaiser von Österreich war und neben Ungarn noch eine Reihe anderer Königreiche und Länder regierte, konnte man vernachlässigen, viel schlimmer für den ungarischen Nationalstolz war aber die Tatsache, dass man im „Ausgleich“ einige mit jenen Ländern gemeinsame Institutionen zugestanden hatte, etwa eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Armee. Diese Gemeinsamkeiten zu reduzieren oder ganz zu beseitigen, war seit 1867 das Ziel der leidenschaftlichsten Ungarn, die sich gerade deswegen bei Wahlen auch immer mehr durchsetzten.1

Der Frage des kollektiven Bewusstseins in Kakanien widmet sich Musil auch in einem weiteren Kapitel (Nr. 98) mit dem schönen Titel ,Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist‘:

Man tut heute so, als ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag. Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königliche österreichische. Ihr begreiflicher Wahrspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war „Mit vereinten Kräften!“ Das hieß viribus unitis. Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile, Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß seither in der amtlichen Sprache „Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name aus Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Illyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gegeben, als noch ein ganzer schwarz-gelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, – und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehen, daß es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schrecken von Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein. Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzufügen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist. (Musil 2016b, 218–220)

Die rot-weiß-grüne Jacke und die schwarz-gelbe Hose bieten ein schönes Bild für das Unvereinbare, das in der Habsburgermonarchie zusammengefügt war – es passte schon ästhetisch nicht zusammen. Würde man nach den Gründen dieser Unvereinbarkeit suchen, dann müsste man wohl ein paar weitere Musil’sche Paradoxien finden: Der österreichische Teil war kleiner als der ungarische – aber er war reicher bevölkert und wirtschaftlich höher entwickelt. Die Österreicher zahlten daher auch mehr als die Ungarn zu den gemeinsamen Angelegenheiten – aber die Ungarn waren darüber keineswegs froh, sondern wollten eigentlich möglichst gar nichts Gemeinsames, vor allem forderten sie beharrlich eine eigene, von der österreichischen getrennte Armee. Die Ungarn profitierten vom Wiener Kapital, das die ungarische Industrialisierung finanzierte (Komlos 1986, 77–136) – aber gleichzeitig nannten sie es mit Abscheu „fremdes“, ausländisches Kapital. Sie fühlten sich von Wien furchtbar ausgebeutet – aber die Geschlossenheit der ungarischen Eliten verschaffte ihnen bei Verhandlungen mit den Wiener Regierungen immer erhebliche Vorteile, so dass sie immer wieder ihre Wünsche und Forderungen durchsetzen konnten. Dabei ging es stets um die Anerkennung der selbstständigen ungarischen Staatlichkeit nach außen, was sich durch die eigene Unterschrift ungarischer (und österreichischer) neben den gemeinsamen Ministern in internationalen Verträgen äußerte (vgl. Stourzh 20002).

Zur faktischen Unvereinbarkeit Ungarns mit den westlichen Kronländern der Monarchie hat Alphons Lhotsky eine sehr kluge Beobachtung beigesteuert (vgl. Lhotsky 19683). Er verwies auf einen Aufsatz von Otto Hintze, der schon vor Jahrzehnten auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den aus dem Karolingerreich entstandenen kontinentalen europäischen Staaten und den ringsumher liegenden „Randstaaten“ wie England, Schweden, Polen oder Ungarn hingewiesen hatte (vgl. Hintze 1929). In diesen „Randstaaten“ hatte sich nicht der karolingische Feudalismus durchgesetzt, sondern eine andere Staatsauffassung erhalten, die vor allem durch eine sehr starke Position des Adels und ein Fortbestehen der adeligen Selbstverwaltung in den regionalen Einheiten (Grafschaften, Komitaten) bis ins 19. Jahrhundert gekennzeichnet gewesen sei. Tatsächlich blieb in Ungarn eine große Zahl von Adeligen bestehen, in einem viel höheren Prozentsatz als in den westlichen Kronländern. Die westlichen Länder der Habsburger waren hingegen alle einmal Teil des Frankenreichs gewesen und hatten die kontinentaleuropäische Feudalentwicklung durchgemacht, die auf lange Sicht zu einer starken Reduzierung des Adels und zu seiner funktionellen Ablösung durch eine fürstliche und später staatliche Bürokratie geführt hatte. Dieser grundlegende Unterschied wurde von den Habsburgern bis Maria Theresia wohl nicht analysiert, aber respektiert. Seit Joseph II. war es mit dem Respekt vorbei, der Spätabsolutismus wollte die Ungarn genauso behandeln wie den Rest der Monarchie. Das misslang, einerseits wegen der schieren Größe des historischen Königreiches Ungarn, andererseits wegen des letztlich unüberwindlichen Widerstandes des so zahlreichen kleinen Adels. Der war in den ungarischen Zentrallandschaften konfessionell zu allem Überfluss außerdem dominant nicht katholisch, sondern primär calvinisch orientiert (vgl. Lhotsky 1968, 436).

Die Ungarn konnten 1867 einen magyarisch dominierten liberalen Einheitsstaat entwickeln, während „Österreich“ zwar zentralistisch blieb, aber dennoch auch etwas Föderalismus zuließ, samt dem Versprechen, dass die einzelnen „Volksstämme“ ihre Nationalität und Sprache pflegen dürften, und so weiter (vgl. dazu eine breit gefächerte Literatur, zusammengefasst etwa bei Bruckmüller 1996, bes. 237–316). Sie hatten daher auch die Chance, Schulen in ihren Muttersprachen zu besuchen, die Polen (Lemberg und Krakau) und Tschechen (Prag und zwei technische Hochschulen in Prag und Brünn) erhielten auch Hochschulen bzw. Universitäten in ihren Muttersprachen. Die „Österreicher“ wurden zwar nicht unter diesem Namen gerufen, aber sie hatten doch eine gemeinsame österreichische Staatsbürgerschaft, ebenso wie die Ungarn eine eigene ungarische Staatsbürgerschaft hatten. Die Ungarn sahen die Österreicher immer als Ausländer an, während das umgekehrt nicht im selben Ausmaß der Fall war. Man muss jedoch anmerken, dass männliche österreichische und ungarische Staatsbürger bei der gemeinsamen Armee bzw. bei den beiden gliedstaatlichen Teilarmeen, den ungarischen Honvéd bzw. bei der österreichischen Landwehr, nicht nur wehrpflichtig waren, sondern auch in der Reserve in Evidenz zu halten waren, für den Fall einer Mobilisierung. Das heißt aber, dass männliche Österreicher bzw. Ungarn im wehrpflichtigen Alter im jeweils anderen Land anders evident gehalten werden mussten als „normale“ Ausländer.4

Noch eine Bemerkung zu den „Shakespeareschen Königreichen“ Lodomerien und Illyrien. Lodomerien hat es tatsächlich nie gegeben, man hatte es zu dem ebenso künstlichen „Galizien“ dazu erfunden, das ja bis 1772 ein Teil Polens war und dann habsburgisch wurde. Beide Namen verweisen auf mittelalterliche russische Fürstentümer (Halycz und Vladimir), die sich irgendwann in den ungarischen Königstitel verirrt hatten. Anders Illyrien: Das gab es staatsrechtlich schon, es wurde in den 1820er Jahren quasi in Nachfolge der Illyrischen Provinzen Frankreichs (1808–1814) geschaffen. Tatsächlich bestand es aus einigen getrennt verwalteten Teilen, mit Statthaltereien (Gubernien) in Laibach/Ljubljana (für Kärnten und Krain) und Triest (für das Küstenland), aber ohne irgendetwas sonstiges Gemeinsames. 1848 verschwand „Illyrien“ wieder von den Landkarten, ohne je ein eigenes staatsrechtliches Leben entwickelt zu haben (vgl. Haas 1958).

Da man „Österreicher“ nicht sagen durfte (diese Bezeichnung war reserviert nur für die Ober- und Niederösterreicher!), sollte, laut Musil, die kollektive Selbstbezeichnung nach den „Volksstämmen“ (so der Legal-Terminus) ihren Siegeszug angetreten haben. Nun, so einfach war das natürlich nicht. Die Musil’sche Freude an ironischen Formulierungen führt uns hier in die Irre – der Nationsbildungsprozess der „österreichischen“ Nationen war doch ein wenig komplizierter (vgl. Bruckmüller 1996, 237–275). Gar nicht erwähnt Musil die Kronländer, Königreiche, Herzogtümer oder was auch immer. Das ist befremdlich, weil die ihnen nachfolgenden Bundesländer im heutigen Österreich ja ein äußerst kräftiges Selbstbewusstsein entwickelten (vgl. ebd., 155–199). Aber gegen Ende der Monarchie, im ersten Jahrzehnt der 20. Jahrhunderts, war, wie dies Karl Renner 1917 formulierte, tatsächlich bereits „die Nation […] an die Stelle des Landes getreten […]“ (zit. nach Stourzh 1991, 66).5

Musil hat also in seiner ironischen Darstellung die staatsrechtlichen und gefühlsmäßigen Realitäten immer wieder – aber doch nicht immer! – in geschickten Formulierungen treffend umrissen. Dass die „Österreicher“ „keinen Begriff von sich hatten“, war wohl die Folge der österreichischen Staatstheorie der gemeinsamen Doppelmonarchie, die neben Ungarn die anderen (im Reichsrat vertretenen) Königreiche und Länder möglichst nicht als eigenen Staat auffassen wollte, sondern alle diese Länder ebenso wie Ungarn als Teile einer dritten Staatlichkeit, des (k. u. k.) „Über-Staates“ österreichisch-ungarische Monarchie ansahen, und diesem galt, soweit vorhanden, der Patriotismus der Bewohner der „österreichischen Reichshälfte“. Dass die Ungarn diese Staatstheorie ebenso vehement ablehnten, ist heute in Österreich weitgehend unbekannt. Für die nationalistischen unter ihnen (und das waren fast alle politisch Interessierten) gab es eben nur einen ungarischen Staat, der mit den übrigen (belanglosen) Territorien des ungarischen Königs in einem gewissen, nach Möglichkeit immer weiter zu lockernden Verhältnis stand. Der gemeinsame Kriegsminister stand nach dieser Auffassung nicht über den Regierungen in Wien und Budapest, sondern das Kriegsministerium war das gemeinsame Ministerium der ansonsten ganz „fremd“ nebeneinander bestehenden Staaten Ungarn und „Habsburgs nichtungarischer Rest“. Musil vertrat dagegen, wir haben oben schon darauf hingewiesen, bewusst oder unbewusst den „österreichischen“ Standpunkt einer gemeinsamen Staatlichkeit (vgl. Stourzh 1991, passim)

Gehemmte Modernisierung oder europäische „Normalität“?

Der Kakanien-Abschnitt im Mann ohne Eigenschaften vermittelt den Eindruck einer etwas gebremsten Modernisierung und einer nur moderaten Wirtschaftsentwicklung:

Dort, in Kakanien, […] gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. […] Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. […] Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, daß man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. (Musil 2016a, 47 f.)

Um gleich beim Letzten zu beginnen: Wien war um 1905 die viertgrößte Stadt Europas, nach London, Paris und Berlin, und die fünftgrößte der Welt – an der Spitze lag New York. Den fünften Platz teilte sich Wien übrigens mit Chicago (Hickmans Universal-Taschen-Atlas 1905, 25: Berlin: 2 Millionen, mit Vororten 2,85 Millionen; 31: Paris: 2,72 Millionen; 33: London: 4,6 Millionen; 39: Wien 1,88 Millionen; 63: New York: 3,72 Millionen; Grafik- und Kartenteil 25). Auf dem Kontinent lag Wien damals am dritten Platz. Die Musil-Lektüre vermittelt hier doch einen etwas „kleineren“ Eindruck. Vielleicht hat sich da während des Schreibens in den 1920er Jahren die inzwischen erfolgte Reduktion der früheren Reichshaupt- und Residenzstadt ausgewirkt?

Nun zur Wirtschaft und zu den Heeresausgaben. Mit der Wirtschaftsgeschichte der Habsburgermonarchie hat sich in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe von Historikern beschäftigt. Ich erwähne hier nur Gerschenkron (1988), März (1968), Good (1984), Komlos (1986), Sandgruber (1995), Rudolph (1976), Matis (1972)6sowie, speziell für Ungarn, Berend/Ránki (1973).

Sie stimmen soweit überein, dass

– die Habsburgermonarchie aus wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen Wachstumschancen bestanden, unter denen die böhmischen Länder (heute: Tschechische Republik) und (danach) die heutigen österreichischen Länder sich rascher entwickelten als andere;

– das stetige Wachstum (= Industrialisierung) um etwa 1825/30 eingesetzt habe, aber eine eindeutige „take-off“-Phase (wie in Großbritannien oder in Preußen) nicht nachweisbar sei;

– die Wachstumsraten bis um 1870 hinter dem Durchschnitt Europas lagen, dass jedoch danach ein Aufholprozess stattgefunden habe, der in Ungarn besonders stark ausgeprägt war. Die westliche Reichshälfte („Cisleithanien“) habe vor 1914 ein Pro-Kopf-Einkommen erreicht, das knapp unter dem Italiens, aber vor Spanien und Russland lag;

– man daher das Wachstumsmuster der Habsburgermonarchie weder mit England noch mit Preußen vergleichen könne, als vielmehr mit Frankreich, das einen ähnlichen, langsamen aber dauerhaften Modernisierungsprozess durchlief (vgl. Matis 1991, 113).

Der Eindruck, den Musils Kakanien-Kapitel im Hinblick auf die ökonomische Modernisierung bietet, widerspricht – alles in allem genommen – den Ergebnissen der wirtschaftshistorischen Forschung nicht. Das ,stimmt‘ auch in besonderer Weise für die Armee-Ausgaben. Musil spricht davon, dass man zwar Unsummen für die Armee ausgab, aber doch die zweitschwächste der Großmächte blieb. Im europäischen Vergleich lagen vor dem Ersten Weltkrieg die Staatsausgaben in absoluten Zahlen im Deutschen Reich am höchsten, gefolgt von Russland, Großbritannien, Frankreich und Österreich-Ungarn, pro Kopf lag Österreich-Ungarn hinter Deutschland, Großbritannien und Frankreich, auch hinter der Schweiz, aber noch vor Russland. Österreich-Ungarn hatte hohe Kosten für die Bedienung der Staatsschuld zu tragen (21 % der Gesamtausgaben) – die Folgen früherer kriegerischer Engagements (vgl. Hickmans 1905, 29). In der Heeresstärke im Frieden lag Österreich-Ungarn gemeinsam mit Großbritannien an vierter Stelle (hinter Russland, dem Deutschen Reich und Frankreich), im Kriegsfall konnte Kakanien aber erheblich mehr Mannschaften mobilisieren als Großbritannien – das dafür auf dem Meer als unschlagbar galt (203 Panzerschiffe, Österreich-Ungarn: 20). Jedenfalls rangierte Österreich-Ungarn aber überall vor Italien (offensichtlich hat Musil genau dies gemeint) (vgl. ebd., 35).

Nur kurz zum Thema der Überseeaktivitäten, die im Zeitalter des Imperialismus alle europäischen Staaten unternahmen, Kakanien jedoch nur in bescheidenem Maße: „Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft“ – wir denken da sofort an die bekannte Fahrt der Fregatte Novara (1856–59) (vgl. Ortner 2011). Nun hatte Kaiser Franz I. schon 1806 eine ganze Reihe wichtiger Exponate aus der Sammlung von James Cook in London erwerben und nach Wien bringen lassen. Es gab also auch im kontinentalen Wien durchaus ein Interesse an den neuen Erkenntnissen, die sich aus diesen Reisen ergaben – und an den oft pittoresken Details, mit denen man natürlich auch ein wenig prunken konnte. Unbedingt erwähnen muss man in diesem Zusammenhang die Reisen Johann Natterers in Brasilien. Er begleitete 1817 die Kaisertochter Leopoldine auf ihrer Reise nach Brasilien zwecks Verehelichung mit dem brasilianischen Thronfolger Dom Pedro. Die sehr sorgfältig geplante Reise erbrachte etwa 150.000 Objekte, Tiere und noch viel mehr Pflanzen oder geologische Stücke, die nach Wien gelangten und heute noch zu den zentralen Beständen des Naturhistorischen Museums gehören. Natterer blieb 18 Jahre in Brasilien. Er schickte nach Wien: 1.146 Säugetiere, 12.193 Vögel, 32.825 Insekten, 1.729 Gläser mit Eingeweidewürmern, 1.621 Fische und 1.800 Ethnografica (vgl. Riedl-Dorn 2011). Wir könnten auch an die bekannte Ida Pfeiffer denken, diese mutige Weltreisende, die aber privat und nicht im öffentlichen Auftrag unterwegs war.7

Zurück zur Novara. Auch diese Weltumseglung war sehr sorgfältig vorbereitet worden, die Geographische Gesellschaft, die Akademie der Wissenschaften, die Geologische Reichsanstalt, die Gesellschaft der Ärzte und die Zoologisch-Botanische Gesellschaft wirkten mit. Ein eigener Zeichner, Joseph Selleny, von dem überaus zahlreiche schöne Blätter erhalten sind, fuhr mit. Die Novara brachte 26.000 zoologische Exponate mit, 376 ethnographische Stücke, unzählige konservierte organische Dinge usw. Sie befinden sich größtenteils im Naturhistorischen Museum.

Wir denken ferner an die Arktis-Expedition von Peyer und Weyprecht (1872– 1874), die zwar nicht zum Nordpol führte, aber doch sehr weit in den hohen Norden kam und außerdem eine eigene Inselwelt entdeckte – das Franz Josefs-Land (vgl. Rack 2011). 1978 wurde eine Flaschenpost, die Weyprecht 1872 dem Meer übergeben hatte, von einem russischen Forscher entdeckt.

Die Weltreise des Thronfolgers Franz Ferdinand könnte ebenso unter diese Schiffsexpeditionen fallen – auch wenn sie in erster Linie der Gesundung des Erzherzogs diente. 1892/1893 hatte Franz Ferdinand auf ärztlichen Rat mit großem Gefolge eine Weltreise auf einem Kriegsschiff der österreichisch-ungarischen Marine unternommen. Man erklärte die Reise zur wissenschaftlichen Expedition, um so den wahren Zweck der Reise in den Hintergrund zu rücken. Die Reise führte von Triest nach Indien, Indonesien, Australien, Japan, Kanada und Nordamerika. Sie war auch als Sammlungsunternehmung so erfolgreich, dass sie die Grundlage für das heutige Wiener Weltmuseum bot. 14.000 ethnologische Objekte dieser Reise befinden sich heute noch dort. – Genug damit!

Bürger oder nicht Bürger:

Staatsbürgerschaft und Heimatberechtigung

Wie sieht es aus mit den staatsbürgerlichen Rechten? Musil widmet dieser Frage genau einen merkwürdigen Satz: „Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger.“ (Musil 2016a, 49)

Kann man das so stehen lassen? Es bestand seit dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch 1812 eine „österreichische Staatsbürgerschaft“ für alle Menschen in jenen Ländern, in denen dieses Gesetzbuch galt (also nicht in Ungarn!). Im Neoabsolutismus kam mit der Einführung des ABGB die gemeinsame Staatsbürgerschaft auch für Ungarn.

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