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Sakrament der Nachfolge
Erneuerungen und Vertiefungen der kirchlichen Ehetheologie durch Amoris laetitia
Papst Franziskus setzt in Amoris laetitia neue Akzente für die kirchliche Ehetheologie. Aus dogmatischer Sicht ist seine Beschreibung der Sakramentalität der Ehe weiterführend. Eine sakramentale Ehe zu schließen ist dem Papst zufolge auch für Katholiken keineswegs selbstverständlich, vielmehr Konsequenz und Ausdruck des Glaubens, der auch in der Lebensform Gestalt finden soll. Julia Knop
Nach einem etwa zweijährigen umfassenden Beratungs- und Diskussionsprozess, dessen Höhepunkte zwei synodale Versammlungen einer repräsentativen Größe des Weltepiskopats waren, erschien am 8. April 2016 die auf den Josefstag 2016 datierte nachsynodale Exhorte Amoris laetitia (AL) von Papst Franziskus. Anders als vormalige Bischofssynoden und anschließende päpstliche Schreiben wurden Prozess und Ergebnis von einer breiten Öffentlichkeit intensiv wahrgenommen und entsprechend der jeweiligen Debattenlage und Erwartungshaltung vor Ort kommentiert. Hierzulande richtete sich das Augenmerk besonders auf Themen der Partnerschafts- und Familienethik, in denen die katholische Kirche bisher und womöglich grundsätzlich hinter den derzeit dominanten Imperativen westlicher Gesellschaften zurückbleibt: dem Imperativ zu einer grundsätzlichen Säkularisierung sozialer Reglements und politischer Entscheidungsfindung und in Konsequenz dem Imperativ, auf allen gesellschaftlichen Ebenen gegen Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung, Lebensform und Lebensentscheidung vorzugehen.
Im Hintergrund mancher Debatte um die Familiensynode stand daher ausgesprochen oder unausgesprochen auch die grundsätzliche Frage, was denn überhaupt ein kirchliches Urteil in Fragen legitimiere, die in säkularen Gesellschaften allein der Gewissensentscheidung des einzelnen obliegen. Fragen wie die nach der Akzeptanz homosexueller Partnerschaften, der Öffnung aller kirchlichen Ämter und Funktionen für Frauen und der vollen Integration von in zweiter Zivilehe verheirateten Paaren sind zu neuen Gretchenfragen geworden. Dabei haben sich die Rollen umgekehrt. Heute befragt keine fromme Margarethe einen religionslosen Faust, sondern die säkulare Moderne die Kirche: Wie hältst du, Kirche, es mit den Errungenschaften der Neuzeit?
Je nach kirchen- oder gesellschaftspolitischem Standort sagt Franziskus den einen zu diesen Fragen in Amoris laetitia zu wenig, den anderen zu viel bzw. zu vieles zu wenig eindeutig. Zu den hermeneutischen Grundregeln im Umgang mit Texten gehört freilich, einen Text nicht zuerst auf eigene Anliegen und Interessen zu durchforsten und am Maß der eigenen Erwartung Defizite zu markieren, sondern sich umgekehrt in die Leserichtung des Textes hineinzubegeben und auf die Anliegen und Schwerpunkte des Autors tatsächlich einzulassen. In Amoris laetitia streift der Papst durchaus die Felder moderner Gretchenfragen – aber sie stehen nicht im Mittelpunkt. Mittelpunkt der Exhorte ist eine Erneuerung und Vertiefung kirchlicher Ehetheologie und -spiritualität. Daraus ergeben sich im Nachgang durchaus Konsequenzen für die eine oder andere Gretchenfrage; zumindest die der kirchlichen Integration wiederverheiratet Geschiedener spricht Franziskus selbst an (AL, Kapitel 8), nicht ohne sie aber zuvor theologisch umfassend grundzulegen.
Julia Knop
geb. 1977, apl. Prof. Dr. theol.; z. Zt. Lehrstuhlvertretung am Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster; Studium und Promotion in Bonn, Habilitation in Freiburg/Br., weitere Lehrstuhlvertretungen in Wuppertal und Heidelberg.
Die folgenden Ausführungen gehen einem Aspekt der Erneuerung der Ehetheologie durch Papst Franziskus nach: der Frage der Sakramentalität der Ehe. In der theologischen Rezeption des Schreibens wurde dieser Punkt bisher kaum thematisiert; er dürfte gleichwohl für die Dogmatik und die ökumenische Diskussion durchaus folgenreich sein.
GRADUALITÄT DER HEILS- UND LEBENS- GESCHICHTE(N)
Die familienbezogene Ehe gilt in allen christlichen Konfessionen als Gabe und Ordnung des Schöpfers, die menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnissen entgegenkommt. Die Weitergabe menschlichen Lebens wird in religiöser Lesart der Welt als Zeichen der fortdauernden Schöpfertätigkeit Gottes verständlich. Zu den Sakramenten zählt die Ehe jedoch nicht in allen Konfessionen. Auch innerhalb der römischen Kirche erfolgte ihre Aufnahme in die Reihe der Sakramente erst spät. Die früheste lehramtliche Nennung stammt aus dem zweiten Laterankonzil 1139. Das spricht noch nicht gegen die Sakramentalität der Ehe; die Herausbildung eines präzisen Sakramentsbegriffs war ein langer und komplexer Prozess. Einmal eingereiht, behält die Eheschließung zudem einen Sonderstatus, weil sie sich nicht ohne Weiteres in die Kategorien und Konzepte der v.a. durch die Scholastik geprägten Sakramententheologie einordnen lässt. Die Einsetzung der Ehe, ihre besondere Gnadenwirkung, die Frage des Spenders, die Bestimmung von Form und Materie dieses Sakraments sowie, umfassender, das Verhältnis von Theologie, Liturgie und Kirchenrecht in Sachen Ehesakrament sind bis heute Gegenstand der theologischen Auseinandersetzung.
Dass die Ehe in protestantischer Lesart kein Sakrament ist, liegt neben der schwierigen neutestamentlichen Fundierung der Ehe als Sakrament im Wesentlichen daran, dass sie von alters her und konfessionenübergreifend zunächst der Schöpfungsordnung zugeordnet wird. Diese Zuordnung bricht Franziskus in Amoris laetitia konstruktiv auf. Weiterhin sieht er den Ehebund zwischen Mann und Frau in der Schöpfung grundgelegt, unterscheidet aber verschiedene heilsgeschichtliche Stationen. Dazu dient die durch die Kardinäle Schönborn und Kasper in Erinnerung gerufene und dann v.a. durch die außerordentliche Synode 2014 (vgl. Relatio Synodi 2014, Nr. 13–16) herausgearbeitete Hermeneutik der Gradualität. Aufs Ganze der Theologie- und Sozialgeschichte, aber auch auf die lebensgeschichtliche Dynamik einer Paarbeziehung gesehen zeigt sich mit Hilfe dieser Optik eine dynamische, graduelle Entwicklung hin zur sakramentalen Ehe. Als Lebensbund in der Schöpfung grundgelegt, zählt die Ehe als Sakrament zur Erlösungsordnung, weil sie unter gläubigen Getauften zum Medium der Heiligung und Weg der Nachfolge Christi werde.
Gradualität ist in Amoris laetitia einerseits ein phänomenologisches, andererseits ein konstruktives Mittel. Es dient nicht nur zur Wahrnehmung eines Zustands, sondern auch zur gewissenhaften Beurteilung des Potenzials, das einer konkreten Situation innewohnt. Jede Partnerschaft ist Aufgabe (AL 232) und Weg (AL 211), der nicht mit der Eheschließung endet, sondern während ihrer gesamten Dauer begangen wird und entsprechend begleitet werden muss. Daraus ergeben sich erhebliche Konsequenzen für eine individuelle und situationsgerechte Begleitung von Paaren und Familien vor (AL 205; 293) und nach der Eheschließung und auch im Falle einer Trennung. Ehepastoral müsse, so Franziskus, „Seelsorge der Bindung“ (AL 211) sein: Unterstützung der psychosozialen und affektiven Reife, Konfliktfähigkeit und Spiritualität der Partner als Paar (AL 205–232). Die Paare selbst ermutigt er zu einer guten Vorbereitung und Entfaltung der eigenen Bindungsfähigkeit, zum ernsthaften gegenseitigen Kennenlernen (AL 209f.) sowie zur bewussten Vorbereitung auf die Trauliturgie (AL 213).
Er wendet hier wie so häufig den Blick von einer Darlegung der Doktrin zur Optimierung ihrer biographischen Realisierungsbedingungen. Der Papst macht also nicht die objektive Lehre, sondern die jeweilige tatsächliche Möglichkeit eines Paares als diejenige Weise der Nachfolge verständlich, „die Gott selbst inmitten der konkreten Vielschichtigkeit der Begrenzungen fordert, auch wenn sie noch nicht völlig dem objektiven Ideal entspricht“ (AL 303). Nicht nur die Situation selbst, auch die Verantwortung der Betroffenen für das Gewordensein, die Gestalt und Zukunft ihrer Beziehung wird auf diese Weise in die Logik der Gradualität einbezogen.
SAKRAMENT DER NACHFOLGE UND WEG DER HEILIGUNG
Wer heiratet – und dazu soll auf breiter Basis ermutigt werden (AL 131; 212) – möge dies weder übereilen noch unnötig verzögern (AL 132), es aus guten Gründen, in Freiheit (AL 217) und mit der nötigen psychoaffektiven Reife und Bindungsfähigkeit tun. Andernfalls würde man von einer religiösen Institution und Tradition „gefangen“ werden, die den einzelnen oder das Paar überfordere und Scheitern vorprogrammiere (AL 132; 210; 218). Franziskus rät Brautleuten in Amoris laetitia und zu anderen Gelegenheiten sehr deutlich dazu, im Vorfeld der Hochzeit nicht nur die Tragfähigkeit der Paarbeziehung realistisch zu überprüfen, sondern sich auch in einem geistlichen Prozess der Frage auszusetzen, ob und wie sie im Glauben gelebt und sakramental besiegelt werden könne. Offenbar hält er dies unter den gewandelten gesellschaftlichen Umständen auch unter Christen nicht für selbstverständlich bzw. rät dazu, es nicht für selbstverständlich zu halten.
Auf der theologischen Grundlage der Synodendokumente, besonders der Relatio von 2014, beschreibt er das Sakrament bzw. den Lebensstand der Ehe analog zum Lebensstand der Ehelosigkeit als eigenständige kirchliche Berufung, als konkrete Form der Nachfolge Jesu Christi, als „christologisches Zeichen“ (AL 161) sowie, trinitarisch geweitet, als Zeichen des göttlichen Lebens (AL 71; 121; 161). Wie jede Berufung, sei auch die Berufung zur sakramentalen Ehe weder eine Selbstverständlichkeit, für die jedermann und jedefrau qua Geschöpf „gemacht“ und befähigt wäre, noch erschließt sie sich ohne Weiteres außerhalb des christlich-kirchlichen Deutungskontextes.
Die Ehe als Sakrament verstehen und leben zu können, ist Franziskus zufolge daher nicht nur eine Frage des Getauftseins. Es ist auch eine Frage der Beteiligung und Mündigkeit im Glauben, der Deutung und Gestaltung des gemeinsamen Lebens im Licht der Geschichte Gottes mit den Menschen (AL 30; 221). Sakrament ist die Ehe nicht „als gesellschaftliche Konvention, … leerer Ritus oder … bloß äußerliche[s] Zeichen einer Verpflichtung. Das Sakrament ist eine Gabe für die Heiligung und die Erlösung der Eheleute, denn ihr gegenseitiges Sichgehören macht die Beziehung Christi zur Kirche sakramental gegenwärtig“ (AL 72 als Zitat der Relatio Synodi 2014, Nr. 21).
Von außen, aus der Beobachterperspektive, ist die so bestimmte sakramentale Dimension einer Partnerschaft nicht erschwinglich; sie braucht die Beteiligtenperspektive der Glaubenden, die sich gemeinsam in die Nachfolge Christi stellen und diesen Weg sakramental besiegeln wollen. Sollte diese Dimension den Brautleuten fremd bleiben, wenn sie etwa den liturgischen Ritus aufgrund seiner Feierlichkeit anstreben, ohne die Eheschließung aber im Glauben füllen zu können oder zu wollen, dann kann das Franziskus zufolge nicht ohne Bedeutung für die Frage sein, ob sie tatsächlich eine sakramentale Ehe schließen. Damit gewichtet er die subjektive Dimension der Sakramentenfeier, das opus operans, stärker als es das geltende Kirchenrecht tut, wonach jede Ehe unter Getauften als Sakrament verstanden werden müsse (CIC 1983, can. 1055 § 2).
Wenige Wochen nach Veröffentlichung von Amoris laetitia entwickelte er diesen Gedanken weiter. Vor einem pastoralen Konvent der Diözese Rom im Juni 2016 sagte er, allzu viele junge Leute heirateten faktisch unfrei, beispielsweise aus der Euphorie der Verliebtheit heraus oder weil ein Kind unterwegs sei, weil familiäre Zwänge dies erforderten oder man ein großes Fest feiern wolle. Wenn neben solchen Faktoren noch die menschliche und geistliche Reife, d.h. letztlich: die menschliche und geistliche Freiheit, nicht hinreichend gegeben sei, hält er es für geboten, die Sakramentalität solcher Eheschließungen ernsthaft zu hinterfragen. Die Verschlankung der Eheannullierungsverfahren, die er in Mitis Iudex Dominus Iesus bereits 2015 verfügt hatte, ist Konsequenz dieser Einschätzung und dem Papst zufolge ein Gebot der Redlichkeit und der Barmherzigkeit der Kirche.
LEBENSFORM UND SAKRAMENT
Wenn die sakramentale Eheschließung im Unterschied zur „natürlichen“ Ehe und anderen Partnerschaftsformen Darstellung des Glaubens und konkreter Weg der Christusnachfolge ist, müsse, so Franziskus, „die Entscheidung, zu heiraten und eine Familie zu gründen, Frucht einer Prüfung der eigenen Berufung sein“ (AL 72; vgl. 121). Diese Berufung hat allgemeine anthropologische und spezifisch theologische Dimensionen: Sie betrifft sowohl die Entscheidung für eine Lebensform (Ehe vs. Ehelosigkeit) als auch die Indienstnahme dieser Lebensform für die konkrete Weise, wie ein getaufter und gläubiger Christ sich in einem Akt bewusster und öffentlicher Wahl in die Nachfolge Jesu stellt (sakramentale Ehe vs. gebundene Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen).
Für Franziskus unterscheiden sich Ehe und Ehelosigkeit in der Pointe ihrer Zeichenhaftigkeit, nicht aber darin, dass beide „christologische[.] Zeichen“ (AL 161) sind. Während die zölibatäre Lebensform eschatologisches Zeichen Christi, des Auferstandenen, sei, erklärt er die Ehe als historisches Zeichen Christi, des Inkarnierten. Die Eheleute stellten das göttliche Leben des dreieinen Gottes dar, der sich in der Menschwerdung Jesu, seinem Leben und Kreuz, mit der geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit unseres menschlichen Lebens vereint hat (AL 161). Nicht ganz scharf ist Franziskus‘ Differenzierung zwischen Sakrament und Lebensform, insofern er nicht Ehe und Ordination (d.h. das Sakrament), sondern Ehe und Ehelosigkeit (d.h. die Lebensform), einander gegenüberstellt, beiden Seiten aber strukturanalog eine gleichwertige sakramentale Zeichenhaftigkeit und Medialität zumisst.
Diese Lesart der sakramentalen Ehe als kirchliche Berufung eines Paares verdankt sich ganz offenkundig ignatianischer Theologie und Spiritualität, in der Franziskus zu Hause ist. Dass Fragen der Wahl eines Lebensstandes zugunsten der individuellen Christusnachfolge nicht nur für Ordensleute und Klerus, sondern auch für die Mehrheit der Getauften fruchtbar gemacht wird, die eine Ehe begründen wollen, ist neu. In aller Regel identifizierte man bisher das Spezifikum einer sakramentalen gegenüber einer nichtsakramentalen, z.B. zivilen Eheschließung in ihrer (liturgischen) Ausdrücklichkeit und Verbindlichkeit, d.h. Unauflöslichkeit. Franziskus stellt diesen Anspruch nicht in Frage. Er spricht sich aber dafür aus, das Besondere der sakramentalen Eheschließung qualitativ statt quantitativ zu fassen und in der jeweiligen Konkretion der Christusnachfolge zu suchen. Sie bewusst zu wählen und individuell zu gestalten ist für den Jesuitenpapst Aufgabe und Auftrag für jeden getauften und gläubigen Christen. So folgen nicht nur Kleriker und Ordensleute einer bestimmten Berufung in eine Lebensform und ggf. in ein Amt, sondern auch alle christlichen Eheleute.
Amoris laetitia ist Einladung, Auftrag und Herausforderung: Die Getauften lädt der Papst ein, sich selbst den alten und neuen Gretchenfragen auszusetzen: Wie hältst du, Christ, es mit der Religion? Was ist deine Berufung und welche Lebensform gibt ihr eine passende Gestalt? Erlebst du deine Lebensweise – alleinstehend oder verheiratet, kinderlos oder als Eltern – als Weise zu glauben und als persönlichen Weg der Nachfolge Christi?
Die Pastoral steht vor der Aufgabe, die Lebenswege der Christen als Glaubenswege ernst zu nehmen, zu erschließen und zu begleiten, auf dass die Sakramente nicht nur als rituelle Dienstleistungen der Kirche, sondern als Besiegelung des Glaubens und der persönlichen Christusnachfolge erkennbar werden.
Die systematische Theologie muss sich der Herausforderung stellen, traditionelle Konzeptionierungen der Sakramententheologie kritisch zu durchdenken und ggf. weiterzuentwickeln. Das betrifft eine erneuerte, theologisch und pastoral tragfähige Verhältnisbestimmung von Glaube und Sakrament, eine ernsthaft heilsgeschichtliche Grundlegung der Sakramententheologie und nicht zuletzt das ökumenische Gespräch darüber, was die Beschreibung der sakramental geschlossenen Ehe als Berufung, d.h. Gnade, und als Weg der Heiligung durch Papst Franziskus für ihre theologische Einordnung bedeutet. ■
LITERATUR
Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die christlichen Eheleute und an alle christgläubigen Laien über die Liebe in der Familie, 19.3.2016.
Knop, Julia / Loffeld, Jan (Hg.), Ganz familiär. Die Bischofssynode 2014/2015 in der Debatte (Einordnung und Kommentierung des synodalen Prozesses vom Auftakt der Rede Walter Kaspers vor dem Konsistorium im Februar 2014 bis zu Amoris laetitia 2016), Regensburg 2016.
Theologischer Paradigmenwechsel und neue pastorale Spielräume
Das Nachsynodale Apostolische Schreiben Amoris laetitia
Kein päpstliches Lehrschreiben der jüngeren Zeit fand eine so unterschiedliche, ja gegensätzliche Aufnahme wie das Nachsynodale Apostolische Schreiben Amoris laetitia von Papst Franziskus. Die Bandbreite der Reaktionen reichte von grundsätzlicher Zustimmung und Anerkennung über ein verhaltenes Lob, das auch der Enttäuschung über den Kompromisscharakter mancher Aussagen Raum gab, bis hin zu einer unverhohlenen Ablehnung durch – teilweise hochrangige – konservative Kreise, die ihr besonderes Loyalitäts- und Gehorsamsverständnis durch den Versuch unter Beweis stellen, den Papst wieder auf ihre eigene Linie zu bringen. In der Tat lassen sich die Ausführungen von Amoris laetitia über weite Strecken unterschiedlich interpretieren, je nachdem, welchen hermeneutischen Verstehensschlüssel man an sie anlegt. Eberhard Schockenhoff
ZWEI GEGENSÄTZLICHE LESARTEN UND DER STREIT UM DIE DEUTUNGSHOHEIT
Geht man von der Prämisse aus, dass Papst Franziskus nichts anderes sagen konnte und wollte, als was ohnehin der kirchlichen Lehre zu den Fragen von Ehe und Familie und zur Weitergabe des Lebens entspricht, wird man die zahlreichen Rückverweise auf Äußerungen seiner unmittelbaren Vorgänger Papst Benedikt XVI. und Papst Johannes Paul II. im Sinne einer ungebrochenen Kontinuität interpretieren. Amoris laetitia hätte dann nur einen neuen, im Sprachduktus ungewohnten Verkündigungsstil für das gefunden, was schon immer in den entsprechenden kirchlichen Lehraussagen enthalten war. Die Lesart, die Franziskus in vollkommener Kontinuität zur Lehre seiner Vorgänger interpretiert, muss freilich vieles Ungesagte hinzudenken, das explizit nirgends in Amoris laetitia ausgeführt wird. Das scheinbar Fehlende muss um der doktrinären Vollständigkeit willen ergänzt werden, so dass die Gedankenführung des Apostolischen Schreibens von Papst Franziskus durch einen unausgesprochenen, darin angeblich vorausgesetzten Subtext traditioneller lehramtlicher Grundaussagen untermalt wird. Eine solche Lesart beraubt sich selbst der Möglichkeit, den weitreichenden Paradigmenwechsel zu erkennen und mitzuvollziehen, den Papst Franziskus in dem nachsynodalen Lehrschreiben vornimmt.
Folgt man dagegen der hermeneutischen Regel, dass auch Ungesagtes oder Nicht-mehr-Gesagtes zur Aussage eines lehramtlichen Textes gehört, ergibt sich ein anderes Bild. Dann zeigen sich Umbrüche und Neuansätze in der Gedankenführung und im Argumentationsduktus von Amoris laetitia, die noch stärker hervortreten, wenn man dieses jüngste Apostolische Schreiben mit früheren lehramtlichen Aussagen zu Ehe und Familie vergleicht. Liest man Amoris laetitia nicht im Horizont der Erwartungen, die im Vorfeld der römischen Bischofssynode an eine fundamentale Neuorientierung der kirchlichen Sexualethik gestellt wurden, sondern im direkten Gegenüber zu früheren Lehrdokumenten wie Familiaris consortio oder den Aussagen des Weltkatechismus zu Sexualität und Liebe, Ehe und Familie, so treten bedeutsame Unterschiede hervor. Dann zeigt sich: Es geht dem Papst um nicht weniger als um den Wechsel von einer objektivistischen, auf eine statische Wesensmetaphysik gegründeten Morallehre zu einer evangeliumsgemäßen, praxisnahen Theologie, die sich durch eine größere Lebensrelevanz auszeichnet.
Eberhard Schockenhoff
geb. 1953, Dr. theol.; Priester, Universitätsprofessor für Moraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.
DAS VORZEICHEN: SKEPSIS GEGENÜBER EINER DEDUKTIVEN METHODE
Das Nachsynodale Apostolische Schreiben Amoris laetitia über die Liebe in der Familie, mit dem Papst Franziskus die Ergebnisse der Bischofssynoden von 2014 und 2015 vorlegte, stellt die wichtigste Äußerung des universalkirchlichen Lehramtes zu Sexualität und Partnerschaft, Ehe und Familie seit dem Lehrschreiben Familiaris consortio von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1981 dar. Wie von einer päpstlichen Lehräußerung nicht anders zu erwarten, unterstreicht Papst Franziskus die Kontinuität zur Lehre seiner Vorgänger, indem er seine eigene Gedankenführung auf zahlreiche Zitate aus ihren Verlautbarungen stützt.
Dennoch sind seine persönlichen Akzentsetzungen mehr als nur marginale Veränderungen. Vielmehr lässt Franziskus von Anfang an seine persönliche Skepsis gegenüber der Anwendung genereller Regelungen auf komplexe seelsorgerliche Situationen und ein zu großes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit einer deduktiven Methode erkennen, die aus allgemeinen Wahrheiten weitreichende Schlussfolgerungen für jede Einzelsituation ableitet (Nr. 2). Ausdrücklich anerkennt er, dass die notwendige Einheit in Lehre und Praxis der Kirche kein Hindernis dafür ist, dass „verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen“ (Nr. 3).
WARNUNG VOR FALSCHEN IDEALISIERUNGEN
Selbstkritisch gesteht der Papst, dass die kirchliche Verkündigung oft durch eine übertriebene Idealisierung der Ehe gekennzeichnet war und ein „Stereotyp der Idealfamilie“ zeichnete, das für die Gläubigen keine Hilfestellung bedeutete, sondern sie überforderte. Stattdessen postuliert er einen Perspektivenwechsel, eine geänderte Blickrichtung lehramtlicher Aussagen zu Ehe und Familie, die der realen Situation vieler Familien gerecht wird und die Schwierigkeiten ernst nimmt, die das Zusammenleben von Ehepartnern untereinander sowie von Eltern und Kindern prägen. Die Forderung nach einer einladenden Pastoral, die nicht verurteilt, sondern dazu ermutigt, auch in unvollkommenen Situationen nach angemessenen Lösungswegen zu suchen, erfordert eine differenzierte Analyse der kulturellen Rahmenbedingungen und des gesellschaftlichen Kontextes, der auf das Leben der Familien einwirkt.
Statt einer pessimistischen Verfallsdiagnose der Moderne zu folgen, die in strukturellen Phänomenen wie der wachsenden Individualisierung, der stärkeren Betonung der affektiven Gefühlskomponente in der Liebe sowie der Hochschätzung persönlicher Authentizität nur eine Gefährdung von Ehe und Familie beklagt, anerkennt der Papst den positiven Wert dieser Entwicklungen, bevor er ihre Ambivalenzen aufzeigt (vgl. Nr. 32-34). Insbesondere sieht er, wie bereits das Konzil in der weltweiten Forderung nach einer gleichberechtigten Anerkennung von Frauen ein Werk des Heiligen Geistes (Nr. 54). Der in kirchlichen Kreisen verbreiteten Polemik gegen eine ausufernde Gender-Ideologie setzt er die Forderung entgegen, Sex und Gender, die körperlich-biologische und die kulturell vermittelte Komponente der Geschlechtszugehörigkeit zu unterscheiden, aber nicht zu trennen (vgl. Nr. 56 und 286).
WAHRNEHMUNG DER REALEN SITUATION VON FAMILIEN
Zur schonungslosen Situationsanalyse, mit der das Lehrschreiben die geforderte Abkehr von einer idealisierenden Wesensschau der Familie illustriert, gehört die harte gesellschaftliche Gegenrealität, die das Leben von Partnerschaften und Familien in vielen Teilen der Welt vor härteste Belastungsproben stellt. Die drastische Sprache, in der das Lehrschreiben die Lage von weltweit 60 Millionen Flüchtlingen und Migranten beschreibt, sexuellen Missbrauch und Gewalt gegen Frauen (auch in der Form der Genitalverstümmelung) und die schädlichen Wirkungen von Drogenkonsum und Alkoholismus aufzeigt, dokumentiert die größere Realitätsnähe, die Franziskus von kirchlichen Aussagen zur Lebensführung der Gläubigen fordert.
Kirchliche Stellungnahmen dürfen sich nicht auf deklamatorische Wahrheiten oder gar Verurteilungen beschränken, vielmehr muss es ihr Ziel sein, das persönliche Unterscheidungsvermögen der Gläubigen zu stärken, damit sie auch in den Herausforderungen des Lebens, in denen schematische Antworten versagen und illusionäre Sicherheiten zerbrechen, eine ihrem Wohlergehen zuträgliche Lösung finden. „Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen“ (Nr. 37).
DER PERSÖNLICHE BLICK VON PAPST FRANZISKUS AUF EHE UND FAMILIE
Das Herzstück des gesamten Rundschreibens, in dem Papst Franziskus in positiver Darlegung seine Sichtweise der ehelichen Liebe und ihrer Aufgaben in der Familie vorstellt, folgt dem Duktus einer bibeltheologischen Auslegung des Hohelieds der Liebe aus dem ersten Korintherbrief. Im Stil einer meditativen Assoziationskette zeigt der Papst Grundvoraussetzungen für das Gelingen der ehelichen Liebe und Gefährdungen im Alltag auf, denen die Eheleute mit besonderer Wachsamkeit begegnen sollen, um derartige Gefahrensignale schon frühzeitig identifizieren zu können.
Die Ratschläge, die der Papst aufgrund seiner persönlichen Lebenserfahrung und unter Berufung auf anerkannte Ergebnisse der Psychologie, der Sexualwissenschaft und der Familiensoziologie gibt, gewinnen über weite Strecken eine sehr persönliche Note. Sie zeigen den Papst in seiner Funktion als Seelsorger, der unmittelbar zu jungen Menschen spricht, die sich auf dem Weg zur Ehe befinden oder älteren Paaren rückblickend den Sinn der Herausforderungen und Krisen erschließt, die sie miteinander bestanden haben.
ERMUTIGUNG ZUM PERSÖNLICHEN GEWISSENSURTEIL: DIE ANTWORT AUF KONFLIKTTHEMEN
In den öffentlichen Reaktionen, die das Nachsynodale Schreiben Amoris laetitia hervorrief, sei es in zustimmender, sei es in kritischer Absicht, fanden die Aussagen zu Konfliktthemen, die bereits von den Synodenteilnehmern während der beiden Sitzungen der Bischofssynode zu heftigen Kontroversen geführt hatten, zumeist größere Beachtung als die positiven bibeltheologischen, ethischen und spirituellen Überlegungen von Papst Franziskus zur grundlegenden Bedeutung von Ehe und Familie.
In der Frage einer möglichen Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zum Kommunionempfang weist Papst Franziskus einen Weg, der auf der Kompromisslinie liegt, die während der Synodenberatungen im deutschen Sprachzirkel gefunden wurde. Grundlegend dafür ist die Mahnung zur Unterscheidung komplexer Situationen, die einer differenzierten seelsorglichen Antwort bedürfen, damit die Betroffenen Gottes Barmherzigkeit erfahren können (vgl. Nr. 297– 299). Die Aufforderung zur rechten Unterscheidung komplexer Lebenssituationen, die an eine lange Tradition des geistlichen Lebens anknüpft, ist vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung zweier verschiedener Logiken des pastoralen Handelns zu sehen, die die gesamte Geschichte der Kirche durchziehen: einer Logik der Ausgrenzung und einer Logik der Eingliederung. Welche Stilform des pastoralen Handelns Papst Franziskus bevorzugt, steht außer Frage: Der einzig gültige Weg der Kirche, die in ihrem Handeln Gottes Barmherzigkeit widerspiegeln soll, ist die „Logik der Integration“ und der Wiedereingliederung (Nr. 297).
WIEDERVERHEIRATETE GESCHIEDENE UND DIE HILFE DER SAKRAMENTE
Die zahlreichen Zitate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die den Anspruch lehrmä- ßiger Kontinuität zu seinen Vorgängern unterstreichen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Franziskus im entscheidenden Punkt von ihnen abweicht. Während seine beiden Vorgänger das Leben in einer zivilen Zweitehe als einen fortdauernden Zustand objektiv schwerer Schuld ansahen, der nach dem Willen Jesu zwingend die Sanktion des Kommunionausschlusses zu Lebzeiten des ersten Partners nach sich zieht, wobei die Kirche überhaupt keine Kompetenz habe, von dieser Praxis abzuweichen, soll nun nach einer angemessenen Regelung im Einzelfall gesucht werden, die den Betroffenen und den besonderen Umständen ihrer Lebenssituation gerecht wird (vgl. Nr. 298).
Ausdrücklich weist Papst Franziskus die Prämisse der Argumentation seiner Vorgänger zurück, die in der Annahme bestand, dass alle Gläubigen, die sich aufgrund ihrer zweiten zivilen Eheschließung in einer irregulären Situation befinden, eo ipso eine objektiv schwere Schuld auf sich laden, die sie von den Sakramenten ausschließt. Gemäß dem Perspektivenwechsel, den Papst Franziskus durch seine Aufforderung zur rechten Unterscheidung jeder Einzelsituation fordert, ist es „nicht mehr möglich zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten ‚irregulären‘ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heilig machende Gnade verloren haben“ (Nr. 301). Damit entfällt aber auch die Prämisse, unter der die Sanktion des Ausschlusses von den Sakramenten als einzig mögliche Reaktion der Kirche auf das Vorliegen derartiger Situationen gelten konnte.
PARADIGMENWECHSEL INNERHALB DER LEHRTRADITION DER KIRCHE
Papst Franziskus nimmt für seine Sichtweise in Anspruch, dass sie auf einer soliden moraltheologischen Basis steht. Insbesondere beruft er sich auf die thomanische Lehre von den Umständen einer Handlung, die bei der Anwendung einer Norm Berücksichtigung finden müssen. Daher kann es sein, dass dieselbe Norm im Blick auf verschiedene Einzelsituationen zu unterschiedlichen praktischen Schlussfolgerungen führt. In praktischen Urteilen herrscht nämlich nur auf einer allgemeinen Prinzipienebene ein und dieselbe, für alle Fälle gültige Wahrheit und Richtigkeit, während die praktische Vernunft, je weiter sie zur Beurteilung des Konkreten hinabsteigt, einen breiteren Spielraum legitimer Lösungsmöglichkeiten besitzt, deren Richtigkeit nicht für alle Fälle dieselbe ist (vgl. Nr. 304 und 305 sowie Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II 94,4).
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