Kitabı oku: «Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015»
LEIPZIG
DIE UTOPISCHE KOMMUNE 1989 – 2015
Zehn Kurzgeschichten
Zusammengetragen von der
Initiative Ost-Passage Theater
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei den Autoren!
Umschlagbild © Felix Almes
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Gisela Kohl-Eppelt: Ein kleines Blatt vom Baum der Geschichte
Hanskarl Hoerning: Erstbesiedlung
Reinhard Bernhof: Fete im Punkthochhaus
Mark Gärtner: Nachts die Karli
Helma Ritter: Was wir nicht wussten
Marlen Deneser: Goethes Erbschleicher – von Gretchenfragen und notorischer Torschlusspanik
Markus Böhme: Temporary Art
Sophie Bouchbouk: Draußen
Armin Chiriac: Das Jubiläum
Mandus I. Craiß: Leipzig – Friedhof der Träume
VORWORT
Leipzig als Stadt konkreter Utopie
Leipzig ist berühmt dafür, eine Stadt voller „Helden“ zu sein, zogen doch die Bürger/-innen im „Wendejahr“ 1989 zu Tausenden mutig gegen die DDR-Obrigkeit auf die Straße und traten für neue politische Wege ein. Dass Leipzig damit auch die „Stadt der Utopien“ ist, rückt dabei weniger in den Blickwinkel. Dabei war gerade das „Wendejahr“ 1989 der historische Kristallisationspunkt eines utopischen Dranges nach anderen Perspektiven und neuen Möglichkeiten.
Aber auch schon vorher gingen von Leipzig weithin wahrnehmbare utopische Impulse aus. Denn Leipzig ist ebenso berühmt für den bedeutendsten Entwurf einer Philosophie der Utopie im 20. Jahrhundert, der mit dem Namen Ernst Bloch verbunden ist. Bloch lehrte und forschte in den 50er und 60er Jahren an der Leipziger Universität und veröffentlichte in dieser Zeit sein Hauptwerk, „Das Prinzip Hoffnung“, bevor er von der allzu engen marxistisch-leninistischen Philosophie seiner Institutskollegen vertrieben wurde. „Das Prinzip Hoffnung“ prägt den Begriff der „konkreten Utopie“ bis heute. Bloch versteht den Menschen als in besonderem Maße experimentierfreudig, als einen Weltveränderer, der stets eine Zukunft für sich gestalten will. Die konkreten Utopien der Menschen, die in ideologischen Überzeugungen, religiösen Einstellungen und politischen Haltungen, aber auch in individuellen Zukunftsplänen, Wünschen und Tagträumen formuliert, entfaltet und gelebt werden, stellen für ihn den wahrhaft bedenkenswerten Stoff einer humanistisch inspirierten Kultur dar. Für Bloch sind es gerade diese konkreten Utopien, aus denen das Zukünftige, das Neue vorscheint, und nicht etwa aus den abstraktrationalen, kollektiven Planungsfantasien und damit real unerreichbaren Utopie-Entwürfen. Bloch hat mit dieser Einsicht das notwendige Ende des sozialistischen Projektes gedanklich dreißig Jahre vorweggenommen. Und in diesem Sinne sind die konkreten Utopien der Menschen nicht nur eine wichtige Orientierung für jede/-n Einzelne/-n, sie sind zugleich auch der Stoff für einen ernst zu nehmenden Blick in die Zukunft. Das gilt auch für Leipzig.
Konkrete Utopien als Leipziger Standortfaktor
Konkrete Utopien spielen für Leipzig heute eine größere Rolle als noch zu Zeiten Blochs. Denn Leipzig wird heute, 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, gerade vor dem Hintergrund der hier gelebten konkreten Utopien wahrgenommen. Die Feuilletons der großen deutschen Verlagsanstalten und Nachrichtendienste überschlagen sich mit euphorischen Kommentaren zu Leipzig als Kreativstadt: So urteilte die Zeit über Leipzig als „Ort zum Träumen“ oder die FAZ sieht in Leipzig das „Disneyland des Unperfekten“. Von edlen Wilden in einer postkommunistischen Nische wird da munter fabuliert.
Einen großen Teil dieser Attraktivität bezieht Leipzig aus seiner Ausstrahlung als Großstadt, wo dank des vergleichsweise hohen Wohnungsleerstands und der vielen unerschlossenen, alten Industriebrachen potenziell erschwingliche Orte schlummern und darauf warten, von kreativen Geistern wachgeküsst zu werden. Keine deutsche Stadt dieser Größe kann eine so hohe Zahl an selbstverwalteten Haus- und Wohnprojekten, Nachbarschaftsinitiativen, Gartenkooperativen, Kunst- und Kulturräumen vorweisen. Dass diese längst kein Nischendasein mehr führen (müssen), zeigt sich schon an der zunehmenden internationalen Wahrnehmung. So fand 2014 der große Jahreskongress der internationalen Post-Wachstums-Bewegung nicht zufällig in Leipzig statt. Und auch bundesweit zieht die Stadt immer mehr junge Freigeister in ihren Bann, wie die ständig steigenden Zuzugszahlen belegen. Schöner wohnen, anders arbeiten, besser leben – Leipzig ist vor dem Hintergrund all der Postindustrieromantik ein Laboratorium neuer Ideen und neuer Formen des Zusammenlebens, ein El Dorado konkreter Utopien.
Dass das konkret utopische Denken eng mit den kulturellen Eigenarten der Menschen verzahnt ist, davon gibt Leipzig als Kulturstadt ein ebenso beredtes Bild. Während in anderen großen deutschen Städten die Leuchttürme der einstigen „Hofkultur“ noch heute ihre Schatten weit vorauswerfen, war und ist Leipzig seit jeher durch eine äußerst lebendige und vielseitige „Bürgerkultur“ geprägt. Und diese hat sich in den letzten 25 Jahren durch zwei neue Quellen aufgefrischt: die eher exklusive „Subkultur“ und die eher inklusive „Soziokultur“. Beides sind Lernwerkstätten des Zukünftigen, bieten erste Ankerpunkte für ganz heterogene soziale Schichten und leisten damit einen entscheidenden Beitrag zur Nachwuchsförderung, zur Bildung des Publikums und zum Erstaufschluss kunst- und kulturferner Milieus. Kunst und Kultur sind dort untrennbar mit dem Politischen und Sozialen verknüpft. Sie experimentieren an den ökonomischen und sozialen Fundamenten, zeigen neue Formen der Teilhabe und Mitbestimmung auf und sind nicht zuletzt oft avantgardistischer Impulsgeber für die Sparten. Die Frage, wie sich Kunst und Kultur auch neben und jenseits der deutschen Subventionskultur produzieren und reproduzieren lassen, ist deshalb für den postindustriellen Standort Leipzig von zentraler Bedeutung. Wenn es in Zukunft gelingt, mehr kreativwirtschaftlich stabile Modelle zu profilieren, die für andere Städte Modellcharakter haben, wäre dies ein essentielles Alleinstellungsmerkmal der Stadt und damit ein echter Standortfaktor. Leipzig ist zur Kultur bestimmt.
Dass solche Experimente auch fehlgehen, enden, scheitern können, lehrt die Geschichte. Umso wichtiger ist ihre historische Bedeutung in der Erinnerung. Und gerade hierfür braucht es eine Topografie der konkreten Versuche oder gar eine Archäologie konkreter Utopien, kurzum ein „Archiv der Ideen“. Für eine solche Leipziger „Archivierung“ wollen wir als Initiative Ost-Passage Theater mit dem Buch „Leipzig – Die utopische Kommune 1989 – 2015“ zum Stadtjubiläum der 1000-jährigen Ersterwähnung Leipzigs, im Rahmen des Kongresses Kultur|Standort. Bestimmung, einen Beitrag leisten.
Auf Spurensuche – Leipziger Geschichten
Auch die Initiative Ost-Passage Theater ist eine konkrete Utopie im Blochschen Sinne, da sie sich für eine Art des Theatermachens einsetzt, die an der Front der bürgerlichen Theateridee experimentiert. Die Initiative ist ein Zusammenschluss mehrerer Akteure aus der freien Theaterszene Leipzigs mit dem Ziel, die Energien sowohl der subkulturellen Bestrebungen als auch der soziokulturellen Bemühungen in einer neuen Form von „Nachbarschaftstheater“ zusammenzuführen und damit wieder näher an den selbstbewussten Ausdruck einer Leipziger Bürgerkultur heranzurücken. Wir behaupten: Leipzigs breite und vielfältige Kulturlandschaft entsteht zu einem großen Teil in den kleinen, oftmals unauffälligen Feldern der Soziokultur und der Subkultur. Dort wird unseres Erachtens der entscheidende Beitrag zur kulturellen Vielfalt der Stadt und zur kulturellen Bildung ihrer Bürgerinnen und Bürger geleistet.
Um diese sozio- beziehungsweise subkulturellen Energien aufzuschließen, haben wir Anfang 2015 unter der Federführung des freien Theaterkollektivs gruppe tag, das mit der Initiative Ost-Passage Theater assoziiert ist, zusammen mit dem Kulturamt Leipzig, der Rosa Luxemburg Stiftung, der Initiative Leipzig+Kultur und weiteren Kooperationspartnern einen Autorenwettbewerb unter dem Titel „Leipzig – Die utopische Kommune“ gestartet. Uns interessierte, welches Neue aus dem „Noch-nicht-Gewordenen“ von den Leipziger/-innen in der Folge von 1989 bis heute antizipiert wurde und an welchen Orten es sich als konkret Mögliches kristallisierte. Welche Menschen besuchten diese Orte, was inspirierte und bewegte sie? Welche Konflikte und Kämpfe mussten bestritten werden? Was ging verloren, was wurde gewonnen? Welche Geschichten haben sich letztlich wirklich zugetragen und welche lassen sich in diesem Kontext entspinnen?
Aus den eingesandten Kurzgeschichten ist in diesem Band eine Auswahl von zehn Texten versammelt. Sie stehen in ihrer stilistischen und inhaltlichen Breite exemplarisch für die Vielschichtigkeit Leipzigs und ihrer Bewohner/-innen. Eine Geschichte konnte die Jury des Autorenwettbewerbs besonders überzeugen. Sie gewann nicht nur den Wettbewerb, sondern wurde in einer Bühnenfassung an unterschiedlichen Theatern der Stadt uraufgeführt. Die Kurzgeschichte „Ein kleines Blatt vom Baum der Geschichte“ von Frau Gisela Kohl-Eppelt bildet deshalb den Anfang dieser kleinen Anthologie, denn sie erzählt klug und nüchtern von der Wendezeit in Leipzig, ohne Klischees und ostalgische Verklärung und mit einem außergewöhnlichen Sinn für Details. Vom Leben in und nach der (Zeiten)Wende berichten auch die neun darauffolgenden Geschichten. Zusammengenommen bilden sie ein vielseitiges Prisma, in welchem sich die Zeitgeschichte vielgestaltig bricht und dabei den Blick auf Individuelles und Intimes freigibt. – Auf das Leben, die Liebe und die Hoffnung in Leipzig. Vielleicht nicht immer in stilistischer Brillanz, dafür aber mit einer Intensität, die ans Authentische heranreicht.
Zuletzt: Vielleicht sind es ja eben die konkreten Utopien der Leipzigerinnen und Leipziger – ihr Festhalten am möglich Unmöglichen, ihr Beharren auf einer Perspektive nach vorn, ihr Insistieren darauf, dass da noch Hoffnung ist – die die reale Substanz des aktuellen Hypes um Leipzig ausmachen. Die Kurzgeschichte „Erstbesiedelung“ spielt darauf in ironischer Weise an und fragt zum Schluss: „In Abwandlung des Spruches ‚Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen‘ müssten wir heute sagen ‚Aus Fehlern lernen heißt siegen lernen‘. Aber wer lernt schon, Fehler als Fehler zu begreifen? Sieger gleich gar nicht.“
Lasst uns in diesem Sinne den Blick darauf richten, was es dringend zu verändern und zu verbessern gilt. Halten wir fest an unseren konkreten Utopien.
Matthias Sterba und Daniel Schade
Initiative Ost-Passage Theater
Leipzig, im Herbst 2015
Gisela Kohl-Eppelt
EIN KLEINES BLATT VOM BAUM DER GESCHICHTE
Jeden Abend steht der kleine Herr Friedrich am verschlossenen Fenster und sieht auf den nicht enden wollenden Verkehr zwischen den renovierten Häusern und gut sanierten Straßen. Er spürt wie immer, wenn auch gedämpft, die Erschütterungen des Hauses und hört das dumpfe Brausen, das, würde er je ein Fenster öffnen, wie ein brüllendes Tier in seine Stube stürzte. Er bildet sich ein, die Stimme seiner Frau zu hören, wie sie Komm ins Bett! ruft. Aber Herr Friedrich ist allein und sieht sich als ein Baum ohne Blätter.
1989 war das anders. Da erhob sich ein Zischeln und Raunen wie ein aufkommender Herbstwind beim Bäcker, beim Frisör, in den Wartezimmern von Ärzten, in der Straßenbahn. Die Worte, die Gesprächsfetzen hängten sich um seinen Mantel und blieben wie Laub auf ihm liegen.
Die erste Begegnung
Herr Friedrich war Musiker und klimperte sich als Klavierlehrer und Korrepetitor ehrgeizlos durchs Leben, wie er sagte. Das war untertrieben, denn seine Schüler glänzten auf Schulkonzerten und in Wettbewerben. Man munkelte, dass er für den Posten des Direktors der staatlichen Musikschule vorgemerkt sei. Herr Friedrich lebte schon lange allein. Seine Beziehungen hielten nicht. Er fand sie belastend und nach kurzer Zeit langweilig. Umso mehr schätzte er die Freundschaft. Die gab es mit seinen Schülern und deren Freunden, sodass sich im Lauf der Jahre ein beziehungsreiches Netzwerk entwickelte, das er wirkungsvoll verknüpfte.
Da klopfte eines Tages die Liebe auch an seine Tür und stellte alles andere in den Schatten. Es war vor drei Jahren, 1987, er zog in eine größere Wohnung. Das Haus war sanierungsbedürftig. Doch es wurde einfach abgewohnt. Wenn es regnete, stellten die Mieter Wannen und Eimer auf die Treppen, denn dort lief der Regen in Strömen die Wände herunter. Frau Grau aus der zweiten Etage besaß offensichtlich nur kleine Schüsseln. Die leerte Herr Friedrich gerade in seinen Eimer, als sie ihre Wohnungstür öffnete. „Danke“, sagte sie mit leiser hoher Stimme und forderte ihn auf, einen Moment zu warten. Sie drehte sich anmutig in der Tür und schenkte ihm dann einen gelben Apfel. Kurz huschte ihre kleine Katze zur Tür hinaus und ebenso schnell wieder hinein. Frau Grau schloss ihre Wohnungstür und der kleine Herr Friedrich stand noch eine ganze Weile auf der Stufe, den Apfel in der einen, den Eimer in der anderen Hand, und lauschte. Er lauschte betört der Situation nach. Die Regentropfen knallten in die leeren Schüsseln. Und sein Herz pochte. Frau Grau sah so frisch und adrett aus. Ihr Name passte überhaupt nicht zu ihrem Äußeren.
Die Allwissende
Nein, klatschsüchtig war seine freundliche Nachbarin Frau Kluge nicht. Sie stand mitten im Leben, nahm Anteil, wusste Bescheid über alles und jeden und über die Mieter im Hause sowieso, da sie als Einzige ein Telefon besaß und es den Hausbewohnern gefällig zur Verfügung stellte. Zwei Straßenbahnhaltestellen weiter war ihre Arbeitsstelle, eine Betriebskantine für Straßenbahner. Frau Kluge kochte dort, so auch für die Straßenkehrer, schmierte Brote für Streifenpolizisten und Taxifahrer. Ihren Nachbarn, Herrn Friedrich, den sie sofort in ihr mütterliches Herz geschlossen hatte, lud sie öfter und gern ein, noch einen Happen in ihrer Kantine zu essen, und gelegentlich tat er das auch. Manchmal klingelte Frau Kluge ebenso bei ihm an der Wohnungstür, wenn sie noch Licht sah, und fragte, ohne eine Antwort abzuwarten: „Ist es recht?“, um sich dann sofort auf die braune Couch ins Wohnzimmer zu setzen, sich eine Zigarette anzuzünden und ihn aufzufordern, mit ihr doch noch einen kleinen Absacker – den sie freilich mitgebracht hatte – zu trinken. Sie redete lebhaft und viel. So erfuhr Herr Friedrich auch über Frau Grau und deren Familie mehr, als er es jemals von den flüchtigen Begegnungen im Treppenhaus hätte erfahren können.
Die Erinnerung
Die ersten Wochen und Monate nach seinem Einzug kamen Lärm und Unruhe aus Frau Graus Wohnung, die direkt unter der seinen lag. Dann wurde es ruhiger. Nur an den Wochenenden dröhnte schwere Beat-Musik aus ihr. Die gehörte zu dem jungen Mann, der durch das Treppenhaus zu fliegen schien, wenn er Frau Grau besuchte. Dann brach die Musik abrupt ab, Türen knallten, der junge Mann polterte in wenigen Sätzen die Treppe hinunter. Ein frischer Luftzug wehte durch die offen gelassene Haustür und trug den starken Geruch seines Duschgels mit sich.
Eines Tages hörten die Besuche auf. Der kleine Herr Friedrich bemerkte es etwas spät und fragte nun seine Nachbarin nach dem Grund der wohltuenden Stille. Die Allwissende erzählte ihm bei einem ihrer nächtlichen Besuche: „Stellen Sie sich vor, der junge Mann, der Sohn von Frau Grau, ist rübergemacht, getürmt, obwohl es ihm doch hier gut ging. Zu gut“, setzte Frau Kluge noch nach. Und er solle mal darauf achten, wie sehr sich Frau Grau verändert habe. Sie würde jetzt ihrem Namen alle Ehre machen.
Herr Friedrich lüftete, als sie weg war, sah auf die still gewordene Straße, bemerkte die frisch mit Kreide aufgetragenen Wegmarkierungen, die im eigentümlichen Kontrast zu den schadhaften Häusern und Wegen standen. Er empfand kein Mitleid für Frau Grau.
Besuch von Frau Grau
Doch dann stand sie eines Tages vor seiner Tür. Herr Friedrich erkannte sie gar nicht sogleich. Er bemühte sich zu verbergen, wie betroffen er über ihr verändertes Äußeres war! Sie war stark abgemagert. Noch im Gegenlicht erschrak er, wie verhärmt ihr Gesicht aussah. Er bat sie in seine Wohnung. Führte sie in die Küche, die immer ordentlich aussah, weil er nie kochte. Sie legte ein Geschenk auf den Tisch und fragte ohne Umschweife, ob er für ihr Kätzchen sorgen könne. Sie habe bemerkt, dass er jetzt viel zu Hause sei. Sie selbst sei ja nun ganz alleine, geschieden und ihren Sohn könne sie auch nicht fragen, der sei fort und sie müsse demnächst ins Krankenhaus. Er versprach, sich um alles zu kümmern. Er brühte Kaffee in zwei großen Bechern auf und bot Weinbrand an, den sie zunächst ablehnte. Sie sei zuckerkrank und das Herz wäre auch nicht in Ordnung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie fasste sich schnell und sagte: „Ich höre Sie so gerne spielen. Es stört mich überhaupt nicht, im Gegenteil, es tut mir richtig gut.“
Sagte sie das, weil sie ihren Sohn vermisste? Herr Friedrich hatte sich über den Weggang einiger seiner Sänger, Tänzer und Schüler kaum Gedanken gemacht, es gab doch genug Nachwuchs. Wenngleich – einige vermisste er schon, wer ausgereist war, blieb unwiderruflich weg, es gab keine Wiederkehr! Und so fühlte auch er sich gegen Ende des Schuljahres jedes Mal leer und ausgebrannt, er sehnte sich nach Sonne und Meer und nach menschlicher Wärme.
Gern zeigte er Frau Grau nun auch die anderen Zimmer seiner Wohnung, deren Wände mit Postern und Fotos beklebt waren, hauptsächlich mit Tieren und Landschaften. Dazwischen hing, provisorisch mit Stecknadeln und Zwirn befestigt, ein wildes Sammelsurium von Hühnergöttern, Vogelfedern und bizarr gewachsenem Gezweig. Eine Weile betrachtete Frau Grau diesen ungewöhnlichen Wandschmuck. „Die schönsten Geschenke sind umsonst und nicht bezahlbar“, sagte er zu ihr. Sie verstand sofort.
Er brühte wieder Kaffee auf, diesmal trank Frau Grau ein Gläschen Weinbrand und dann noch eins, ihr Gesicht rötete sich und sie sah schon viel besser aus, als sie beide nun auch noch in ihre Wohnung gingen. Die stand freilich im Kontrast zu Herrn Friedrichs Bleibe und war viel gemütlicher. Sie tranken weiter, redeten, vor allem Frau Grau konnte gar nicht aufhören. Der Alkohol hatte ihre Zunge gelöst und Herr Friedrich tätschelte ihre Hand und gewann tiefe Einblicke. Einmal in den Alltag der sozialistischen Produktion des benachbarten Chemiebetriebes, dann in ein Leben für die Partei, aber auch in das tiefe Leid um den geliebten Sohn, der Republikflucht begangen hatte. Über ihren geschiedenen Mann sprach Frau Grau nicht. Sie hatte alles, was an ihn in der Wohnung erinnerte, entfernt und sich ein herrenloses Kätzchen aus der Gartenkolonie mit nach Hause genommen.
Frieda und Friedrich
Danach besuchten sich die beiden, Herr Friedrich und Frau Grau, die mit Vornamen Frieda hieß, häufiger. Frau Kluge dagegen stellte ihre nächtlichen Besuche bei Herrn Friedrich ein. Außerdem hatte der ganz unverhofft ein Telefon bekommen! Nanu? Das Leben schien Frau Grau wieder zuzulächeln. Und Frau Grau lächelte zurück. Es tat nicht mehr so weh, dass sie nach der Republikflucht ihres Sohnes strafversetzt worden war, weil sie im Lohnbüro als nicht mehr vertrauenswürdig galt und nun in den Schichtdienst, in die Produktion musste. Der Posten als Kassiererin in der Einheitspartei war ihr auch abgesprochen worden. Doch es gab Hoffnung. In den Arbeitspausen eilte sie zum Telefon und rief Herrn Friedrich an. Es tat ihr so gut, seine Stimme zu hören. Ihre heitere Stimmung färbte auf die neuen Kollegen ab, die gutmütig frotzelten: „Jetzt kommt unsere Turteltaube“, gleichzeitig aber aufpassten, dass sie sich bei der schweren körperlichen Arbeit nicht übernahm. Sie amüsierten sich, dass sie ihren Liebsten mit seinem Nachnamen anredete. „Frieda und Friedrich, das klingt beinah so schön wie Paul und Paula“, erklärte sie treuherzig und dachte an den DEFA-Film. Es war auch keine Rede mehr davon, dass Frau Grau ins Krankenhaus musste. Die Liebe ist und bleibt immer noch die beste Medizin! Manchmal holte Herr Friedrich sie in seinem neuen Trabi von der Arbeit ab, sie fuhren dann gleich in ihr Gärtchen oder an einen Badesee. Sie lebten mit Bedacht und Genuss und zum ersten Mal fühlte sich der kleine Herr Friedrich in dieser Beziehung nicht eingeengt. Er wurde ihrer nicht überdrüssig, ganz im Gegenteil. Diese Beziehung war herzerwärmend und anheimelnd wie die Musik, die Frau Grau so gerne hörte. Er spielte für sie Bach und Beethoven, die langsamen Sätze der Sonaten gefielen ihr ganz besonders. „Es ist, als wandelte ich durch Landschaften.“ Sie sagte wandelte und tat es tatsächlich.
Hinter verschlossener Tür
Ende September 1989 wurde Frau Grau eines Tages von ihrer Arbeit weg in die Betriebsleitung gerufen. Dort stellte sich ein ihr fremder Parteigenosse vor und führte ein Unter-Vier-Augen-Gespräch mit ihr. Das fand in einem separaten Raum am Ende des Flures statt, dessen Tür keine Aufschrift trug. Der sehr sympathische Mitarbeiter redete sie mit Genossin Grau an. Er eröffnete ihr neue Perspektiven, wenn, ja, wenn sie sich kooperativ zeige, wachsam gegenüber allen subversiven Elementen, die unserer Republik schaden wollen, sei, auch auf den Herrn Friedrich und der Frau Kluge ein Auge habe. Und wenn sie ihren Sohn, den einst so hoffnungsvollen Sportkader, zur Rückkehr in unsere Republik bewegen würde.
„Aber wieso? Woher wissen Sie das?“, stammelte Frau Grau, die mehr ahnte als begriff.
„Wir sind gut informiert und wir helfen Ihnen, Genossin Grau.“
Sie wurde bei Androhung schärfster Strafen zur Geheimhaltung dieses Gespräches, das doch sehr einseitig ausgefallen war, verpflichtet; unterschrieb ein Formular, ohne es zu lesen, erhielt ihren eingezogenen Parteiausweis und wenige Tage darauf ihren alten Arbeitsplatz zurück. „Sie haben bewiesen, dass Sie eine standhafte Genossin sind“, sagte die „Graue Eminenz“ zum Abschluss und drückte der hilflosen Frau Grau in beabsichtigter Herzlichkeit recht lange die Hand. Nun war sie interne Mitarbeiterin und sollte Spitzeldienste leisten. Oh Mutterherz!
Der Anruf
In den nächsten Wochen erhob sich der Sturm, der sich schon so lange angekündigt hatte. Zu Ende das bleierne Warten … Die Wende kam, der Umsturz. Er trieb die Menschen auf die Straße. Jeder Tag brachte etwas Neues mit sich. Der verschollene Sohn von Frau Grau meldete sich am Telefon von Frau Kluge. Warum er nicht eher ein Lebenszeichen von sich gegeben habe, wollte sie von ihm wissen.
„Ich wollte meine Mama nicht in Schwierigkeiten bringen“, antwortete er.
„Schwierigkeiten hatte sie mehr als genug“, sagte Frau Kluge streng und klar und holte Frau Grau ans Telefon.
Frau Grau wurde rot und blass, schluchzte und lachte: „Du bist wieder da. Nun wird alles gut. Wir sehen uns, ja, ich komme. Mein Junge!“
Sie musste sich setzen. Frau Kluge stürzte mit einem Glas Wasser zu ihr und beendete energisch das Gespräch, indem sie in den Hörer rief: „Das ist alles zu viel für Ihre Mutter!“ Sie legte einfach auf.
Die Formalitäten für die Reise in den Westen dauerten nur vier Wochen. Als Reisegrund war in ihren Unterlagen Familienzusammenführung angegeben. Ja, Frau Grau wollte ihren Sohn zurückgewinnen. Was wollte er nur im kapitalistischen Ausland, wo doch sein Zuhause hier, bei ihr, war.
Die Westreise
Die Mutter reiste zu ihrem Sohn. Sie war wie im Fieber. Die fremde neue Welt beunruhigte sie. Es ist etwas anderes, dieser, nur aus dem Fernsehen bekannten, in Wirklichkeit zu begegnen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie dem Taxifahrer die Adresse ihres Sohnes nannte. „Sie kommen wohl von drüben? Es ist ziemlich weit“, sagte er freundlich. Er hatte Erfahrung mit den Leuten von drüben, die ahnungslos in sein Taxi stiegen und am Ziel nicht den vollen Fahrpreis bezahlen konnten. Während der Fahrt erfuhr er die Geschichte von Frau Grau und beschloss, sie umsonst mitzunehmen. Gegebenenfalls konnte er den Fahrpreis vom Sohn noch einfordern.
Frau Grau musste lange läuten, der Fahrer lehnte mit verschränkten Armen am Taxi und sagte: „Zeit ist Geld. Ich fahre Sie wieder zurück“, da öffnete sich in der vierten Etage des Hauses ein Fenster. Eine Frauenstimme rief etwas. Nach einer Weile erschien die junge Frau in der Tür und begrüßte Frau Grau. Über deren Äußeres aber erschrak Frau Grau bis ins Mark. Oh Gott, eine Nutte, ich bin hier falsch, dachte sie. Die junge Frau lachte eigenartig, als hätte sie die Gedanken der Mutter erraten. „Ihr Sohn hat sich schon aufs Ohr gelegt. Wir arbeiten nämlich nachts.“
Sie ging zum Fahrer und flüsterte etwas, was die verwirrte Frau Grau nicht verstand. Darauf kam er, trug das kleine Gepäck in die vierte Etage, drückte der Mutter beinah heimlich seine Visitenkarte in die Hand und murmelte: „Falls Sie mich brauchen.“
Die junge Frau brachte ihm ein paar Geldscheine, rief dann frech in die Wohnung: „Karl, steh auf, dein Muttchen aus dem Osten ist da“, stellte die Reisetasche mitten in den Flur, half Frau Grau aus dem Mantel, legte ihren Hut auf die Ablage, die so hoch angebracht war, dass sie ihn ohne Hilfe niemals würde herunternehmen können.
Frau Grau ging auf die Toilette, sah ihr blasses Gesicht im Spiegel, fremd in der Überfülle von rosa Toilettenartikeln und Nippes. Die starken Düfte und Gerüche machten sie benommen. Sie hörte die laute Stimme der anderen Frau, die immer wieder diesen idiotischen Satz wiederholte: „Steh auf, dein Muttchen aus dem Osten ist gekommen“, und schließlich die Stimme ihres Sohnes, der sich, aus tiefem Schlaf gerissen, nicht zurechtzufinden schien.
Der Sohn
Sie verließ schnell das Bad und fiel im Flur fast über die Reisetasche in seine Arme. Wie klein sie doch war. Der Sohn hob sie hoch. Wie stark er war, fand sie. Ein Gebirge aus Muskeln und Fleisch. So hatte sie ihn nicht in Erinnerung. Er trug sie einfach in die Küche und setzte sie behutsam ab. „Mein Muttchen“, dröhnte er heiser und sie ärgerte sich über die ungewohnte Anrede. „Jetzt trinken wir erst einmal Kaffee und du“, er wandte sich an seine Gefährtin, „verdrückst dich und schminkst dir endlich deine Visage ab, meine Mama denkt ja sonst was!“ Die junge Frau warf ihm einen Blick zu, den niemand hätte deuten können, weil ihre Augen bis zu den Brauen dunkel geschminkt waren. Doch sie ging gehorsam ins Bad.
Nun war die Mutter mit dem Sohn allein in der Küche, die er groß und mächtig wie ein Koloss ausfüllte. „Ist das deine Frau?“ Ihre Stimme war so leise und piepsig, dass er ihre Frage überhörte, wohl auch, weil er zur gleichen Zeit redete: „Wie geht es dir? Wie war die Fahrt?“
„Ach, es geht“, konnte sie nur flüstern und musste ihn weiter anstarren. War das wirklich ihr Sohn?
„Ich mache Bodybuilding, sieh mal.“ Er entblößte seinen Arm bis zur Schulter. Unter der Haut bewegten sich die Muskeln wie Tiere.
„Wozu machst du das?“, fragte sie und schaute entsetzt auf seinen Arm.
„Ich arbeite bei der Security, das schreckt mehr ab als alle Worte“, antwortete er stolz.
„Was heißt ßäkjuriti?“ Frau Grau kannte das Wort nicht.
„Ich sorge dafür, dass sich die Gäste in unserer Location sicher fühlen.“
Er sprach das Wort englisch aus und Frau Grau fragte ahnungsvoll weiter: „Welche lokäschen? Bist du etwa Türsteher, Rausschmeißer? Ist das dein Beruf?“
„Ja, Mama, das ist mein Beruf, und ich verdiene nicht schlecht damit.“ Er stand auf, schüttete sich eine Menge Pulver in ein Glas, verrührte es mit Milch und trank. „Das ist Eiweißpulver für meine Muskeln.“
Die junge Frau schob sich wieder in die Küche. Ihr Gesicht glänzte fettig, wirkte müde und ein wenig derb, aber nicht unsympathisch. Ich würde sie auf der Straße nicht wiedererkennen, dachte Frau Grau, ein Allerweltsgesicht. Die junge Frau schenkte Kaffee ein. Sie fragte nicht, ob die Mutter frühstücken wolle, sondern forderte alle auf, ins Wohnzimmer zu gehen und dort zur Begrüßung Sekt zu trinken. „Wir haben hier alles, nur keinen Platz“, meinte sie, als sie in der beklemmend engen Stube standen, in der schwarze Polstermöbel, eine dunkle Schrankwand und ein klobiger Couchtisch waren. Auf dem Sofa vor dem Fenster lagen ein paar Wäschestapel, sonst sah es aufgeräumt aus, wenn nicht der übervolle Aschenbecher auf dem Tisch gewesen wäre. Die Mutter glaubte, ersticken zu müssen. Während der Sekt eingegossen wurde, versuchte sie das Fenster hinter dem Sofa zu öffnen, kam aber mit dem Verriegelungsmechanismus nicht zurecht. Sie kniete hilflos zwischen den umstürzenden Wäschebergen, hielt mit beiden Händen den Fensterflügel fest, der sich aus den Scharnieren gelöst hatte, und musste es sich gefallen lassen, dass die junge Frau wieder und wieder sagte: „Unser Muttchen aus dem Osten, herrjemine …“
Sie tranken den Sekt und wurden nicht warm dabei. Frau Grau fühlte sich übernächtigt und stellte keine Fragen. „Wir müssen uns ein wenig ausruhen“, sagte der Sohn zur Mutter. „Mach es dir hier gemütlich.“ Seine Freundin (die Mutter wusste noch immer nicht, ob die beiden ein Ehe- oder ein Liebespaar waren) räumte die Wäschestapel weg, trug die Gläser hinaus, brachte ein paar Handtücher und die Reisetasche und sah dabei Frau Grau nicht ein einziges Mal an. Dann schloss sie mit Nachdruck die Tür. Frau Grau hörte sie in die Hände klatschen und „So“ sagen, als hätte sie eben eine unangenehme Pflicht erledigt. Danach wurde es still.
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