Kitabı oku: «Mare Manuscha», sayfa 3

Yazı tipi:

DU WEISST WIE ICH HEISSE?

Eigentlich kennst du mich nicht.

Du weißt wie ich heiße?

Nicht so wie du mich nennst,

ich bin gegen dieses Wort

Du rufst mich ohne Erinnerung,

ohne Meinung,

ohne Gefühl.

Du nennst mich Zigeuner

Du rufst und das tut weh

Weckst in mir tausend Bilder

schwarz wie der Rauch.

Du nennst mich Zigeuner,

aber weißt du überhaupt, was das ist?

Du rufst und bringst um meine Mutter,

meinen Großvater, meine Schwester, meinen Bruder,

Du rufst und hörst nicht das Wehklagen

Erinnerst mich an die Trauer

und so kehrt die Angst zurück,

als Möglichkeit

dass es morgen wieder geschieht.

Nenne mich nicht mehr Zigeuner, Gipsy, Gitan, Cigan

Nenne mich nicht, so wie es mir weh tut

Nenne mich so, wie ich es mag

Wie heiße ich?

Roma, Sinto, Manush, Kale

So wie der Vogel fliegt

so wie du die Musik hörst,

so wie die Freiheit,

so ähnlich wie du es hasst

und ich nur davon träume

Gedicht auf Romanes: Nedjo Osman / Übersetzung: Mirjana und Klaus Wittmann

DAVIA

E tahtali pagilo

E mol matili

E sune djangavdile

E gndipen nasvalile

E mule si mudarde

E djivde nashutne ule

E ladj ko agor resli

Avdivesarla Rom ka ovav.

DIE ENTSCHEIDUNG

Das Glas ist zerbrochen

Der Wein besoffen

Die Träume sind aufgewacht

Die Erinnerungen erkrankt

Die Toten getötet

Die Lebenden verschwunden

Schluss mit der Scham

Heute habe ich beschlossen

Ein Roma zu sein!

Gedicht auf Romanes: Nedjo Osman / Übersetzung: Mirjana und Klaus Wittmann

1 Kölner Stadtteil.

ILONA LAGRENE



„Ich war die Frau, die die politische Auseinandersetzung mit den Leuten führte.“

Ilona Lagrene wurde 1950 in Heidelberg geboren. Bereits als kleines Mädchen war sie mit den Folgen des Manuschengromarepen, wie Roma und Sinti den nationalsozialistischen Völkermord bezeichnen, konfrontiert: aufgrund ihrer eigenen Familiengeschichte und aufgrund der Erzählungen von überlebenden Angehörigen, Freundinnen, Freunden und Bekannten. Als sie Reinhold Lagrene, den Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung, 1969 heiratete – seine Eltern waren beide AuschwitzÜberlebende – widmete das Paar sein gemeinsames Leben der Bürgerrechtsarbeit. „Das ist eine Lebensaufgabe. Das kann man nur machen, wenn man mit Leib und Seele nachvollziehen kann, was geschehen ist. Wir hatten nach Feierabend nur ein Thema“, sagt Ilona Lagrene im Gespräch im Juni 2018. „Die Bürgerrechtsarbeit war der Inhalt unseres Lebens.“

Wir treffen die Mutter vierer Kinder, die von 1989 bis 1995 Vorsitzende des Verbandes Deutscher Sinti Baden-Württemberg war, in Mannheim. In einem repräsentativen Gebäude des Landesverbandes ist RomnoKher beheimatet. Es ist ein Haus für Bildung, Kultur und Antiziganismusforschung. Auch die von Romeo Franz geleitete Hildegard Lagrenne Stiftung hat dort ihren Sitz. Im überdachten Innenhof schauen wir uns die Dauerausstellung „Mari Parmissi“ an, die die wechselvolle Geschichte der Roma und Sinti seit der ersten schriftlichen Erwähnung 475 v. u. Z. bis heute dokumentiert. Der Gewölbekeller beherbergt die Dauer- und Wanderausstellung „Typisch Zigeuner? Mythos und Wirklichkeit“, die nachdenklich stimmt. Wer weiß schon, dass Charlie Chaplin, Rita Hayworth, Yul Brynner und die Schlagersängerin Marianne Rosenberg einen Romno-Hintergrund haben? Wir gehen in den Spiegelsaal des Kulturhauses; an der Wand hängt ein bekanntes Gemälde der Künstlerin Lita Cabellut, in einer Ecke steht ein Piano, an das sich Romeo Franz nach unserem Gespräch setzt. Die Freude, einen Moment lang das politische Geschäft vergessen zu können, ist ihm anzusehen. Ilona Lagrene hört ihm aufmerksam zu.

Im Zuge ihrer erinnerungspolitischen Arbeit ist Ilona Lagrene bis heute mit dem gesellschaftlichen Unwillen, die NS-Verbrechen aufzuarbeiten, konfrontiert. Wir sprechen mit ihr über ihre politische Arbeit, über Erinnerungskultur, Zivilcourage und die Schwierigkeit, sich als Frau in einer von Männern bestimmten Politik durchzusetzen. Rückblickend erklärt sie in dem ihr eigenen nüchternen Tonfall, wie zermürbend vor allem die Archivarbeit gewesen sei, um die „Erinnerung an unsere Menschen“ wachzuhalten. Das sei „an die Psyche gegangen“. Auch ihre Gesundheit ist angegriffen. Ihr Mann habe das gespürt und sie gebeten, mit der belastenden Arbeit aufzuhören: „Du hast doch genug erreicht. Ich sehe, dass es dir nicht mehr guttut!“ Nachdem sie den Vorstandsvorsitz im Verband Daniel Strauß übergeben hatte, legte sie eine Weile lang eine Pause ein, widmete sich ihrer Familie und anderen Beschäftigungen. Doch irgendwann kam sie zurück: „Ganz los lässt man das nie!“

„Die Bürgerrechtsarbeit war der Inhalt unseres Lebens“

Romeo Franz: Ich habe Mitte der 1990er Jahre mit der Bürgerrechtsarbeit angefangen. Ich suchte nach Menschen, mit denen gemeinsam ich das Unrecht bekämpfen konnte, das auch meiner Familie widerfahren war. Da lag es nahe, Kontakt mit unseren Organisationen aufzunehmen. Ich musste mich damals dem Vorstand des Landesverbandes Rheinland-Pfalz vorstellen. Man wollte genau wissen, warum ich diese Arbeit machen wolle und was ich erwarten würde … Das war richtig hart. Ich glaube, jemand, der nicht diesen starken Willen, sich für unsere Menschen zu engagieren, gehabt hätte wie ich, hätte aufgegeben. Damals war es sehr schwierig, als junger Mensch auf unsere Organisationen Einfluss zu nehmen.

Cornelia Wilß: Sehen Sie das auch so, Frau Lagrene?

Ilona Lagrene: Als Romeo mit der Bürgerrechtsarbeit begann, wusste man gar nicht, wo man anfangen sollte, so viel hatten wir um die Ohren. 1986 hatten wir gerade erst den Landesverband Baden-Württemberg gegründet, und ich saß mit meinem Mann, Reinhold Lagrene, und anderen im Vorstand. 1989 wurde ein Büro in Heidelberg mit einem kleinen Budget finanziert, so dass wir einen hauptamtlichen Mitarbeiter einstellen konnten. Für den Geschäftsführer gab es eine Drittelstelle. Der Vorsitzende in der Gründungszeit war Heinz Bamberger. Ende 1989 wurde ich zur Vorsitzenden gewählt. Wir mussten mit geringen Mitteln auskommen. Stellen Sie sich vor, was es heißt, in allen Bereichen tätig zu sein, für ganz Baden-Württemberg. Viele Menschen, die zu uns kamen, brauchten Beratung in Fragen ihrer Existenzsicherung und Entschädigung. Bei den jungen Leuten ging es um Schule und Ausbildung. Viele Kinder unserer Familien wurden damals einfach in Sonderschulen gesteckt, ohne dass man sie vorher getestet hatte. Daher mussten wir auch mit den Schulämtern sprechen. Später kam die Öffentlichkeitsarbeit dazu und vieles mehr. Power hatte ich genug (lacht laut), aber wenn du nicht selbstsicher und frech warst, konntest du nichts erreichen. Man brauchte Courage.

Cornelia Wilß: Nach innen und nach außen?

Ilona Lagrene: Nach außen. Mein Mann stand hinter meiner Arbeit und hat mich unterstützt. Immer!

Cornelia Wilß: Aber Sie waren die Frontfrau …

Ilona Lagrene: Ich war die Frau, die die politische Auseinandersetzung mit den Leuten führte.

Romeo Franz: Das Bild, das Ilona in ihrer Arbeit gezeigt hat, hat dazu beigetragen, mit dem Klischee aufzuräumen, dass bei den Sinti ein Macho-Style vorherrsche. (sie lacht leise) Ihre Arbeit wurde respektiert. (sie bejaht) Ilona hatte eine Vorbildfunktion. Es ist ein wichtiger Aspekt, öffentlich gegen das Vorurteil anzugehen, dass es bei den deutschen Sinti eine systematische Ausgrenzung von Frauen gebe. In diesem Zusammenhang ist auch Hildegard Lagrenne1 zu nennen. Tante Kola, so lautete ihr Sinti-Name, war jemand, den wir sehr verehrt haben. Man könnte fast sagen, da war eher ein Matriarchat zu spüren.

Ilona Lagrene: Am Anfang fiel es mir nicht leicht, mich durchzusetzen. Doch mit der Zeit merkten unsere Leute, was für eine Arbeit ich machte. Die Sinti, die zu mir kamen, sollten nicht das Gefühl haben, sich mit ihren Sorgen an ein anonymes Amt zu wenden, sondern sich ernst genommen fühlen. Es war mir wichtig, dass ich von Überlebenden Anerkennung bekam.

Cornelia Wilß: Sie haben sich in Ihrer Zeit als Vorsitzende unermüdlich dafür eingesetzt, dass der ermordeten Sinti in Würde gedacht wird.

Ilona Lagrene: Ich habe zunächst die näheren Umstände recherchiert, wie die Massendeportationen unserer Menschen nach Polen geplant und organisiert wurden. Meine eigene Familie war ja auch betroffen. Ich bat Leute, die ich kannte, sich bei uns zu melden, wenn sie darüber etwas wüssten. Einzelne haben es getan, und so konnte ich Stück für Stück die Geschichte der Vertreibung der Sinti aus Deutschland rekonstruieren. Die städtischen Archive, die ich angeschrieben hatte, teilten mir damals mit, dass sie keine Informationen über die Deportationen hätten. Wenn man aber vor Ort in den Akten aus der NS-Zeit herumstöberte, wurde man fündig.

Es war nicht einfach, für die Überlebenden ein würdiges Gedenken an ihre ermordeten Schwestern und Brüder zu schaffen. Über viele Jahre habe ich mich für die Errichtung von Gedenktafeln an öffentlichen Orten eingesetzt, damit nichts vom Leid unserer Menschen verloren geht. Jedes Mal musste die öffentliche Zeichensetzung hartnäckig erkämpft werden. Angefangen habe ich mit meiner Geburtsstadt Heidelberg. Dort lebten im ausgehenden 19. Jahrhundert schon viele Sinti. Die Älteren, die überlebt hatten und in ihre Heimat zurückgekehrt waren, kannte ich alle. Unser Anliegen stieß auf positive Resonanz. Die Tafel hängt in der Steingasse, kurz bevor man über die Alte Brücke geht. Sie ist den Heidelberger Sinti, „die dem NS-Völkermord zum Opfer fielen“, so heißt es da, gewidmet.

Cornelia Wilß: Im Jahr 1993 schlugen Sie der Stadt Asperg vor, am Eingang zum Bahnhofsgelände ebenfalls eine solche Gedenktafel anzubringen. Das war schwieriger durchzusetzen als in Heidelberg. Welchen Hintergrund hatte das?

Ilona Lagrene: Am 16. Mai 1940 wurden Hunderte unserer Menschen aus ganz Südwestdeutschland auf den Hohenasperg in der Nähe von Stuttgart verschleppt, darunter auch meine Familie, und am 22. Mai 1940 vom Asperger Bahnhof aus in Sonderzügen der Reichsbahn nach Polen in die Ghettos und Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Dies war eine der ersten großangelegten Massendeportationen von Sinti und Roma während der Zeit des Nationalsozialismus. In der Sprache der Nationalsozialisten hieß das „Umsiedlung“ von „Zigeunern“. Zeitgleich fanden solche Aktionen in Köln und Hamburg statt. Verschleppt wurden damals 2.800 Sinti und Roma. Später fand ich heraus, dass SS-Hauptscharführer Josef Eichberger vom Reichssicherheitshauptamt die Transporte nach Asperg organisiert hatte. Er wurde nach 1945 Leiter einer sogenannten Landfahrerzentrale, in der Sinti und Roma verfassungswidrig registriert wurden – mit Fingerabdruck. Für das Naziregime hatte er bereits in der Münchner „Zigeunerzentrale“ gearbeitet. Auch SS-Standartenführer Paul Werner, der die Deportation vom Mai 1940 geplant hatte, war bis in die 1960er Jahre Ministerialbeamter in Baden-Württemberg.

Die Stadt Asperg war zwar einverstanden, am Bahnhof eine Gedenktafel anzubringen. Aber die Bahn wollte es verhindern. Was blieb mir übrig? Ich musste an die Öffentlichkeit gehen. Erst nachdem sich der Verkehrsminister und Ludwigsburger Bundestagsabgeordnete Matthias Wissmann eingemischt hatte, gab die Bahn AG in Frankfurt 1995 ihre Genehmigung für die Gedenktafel. Das war für viele Überlebende damals etwas ganz Besonderes. Endlich war das erlittene Unrecht für alle sichtbar. Am Tag der Einweihung sind Überlebende und ihre Nachkommen mit dem Bus zum Hohenasperg hochgefahren und zu Fuß den Weg von dem dort von den Nationalsozialisten eingerichteten Sammellager hinunter zum Bahnhof gegangen. Wir wollten daran erinnern, dass die Verschleppung vor den Augen der Stadtbewohner stattgefunden hatte.

Cornelia Wilß: Auch die Stadt Tübingen war von der Idee einer öffentlichen Gedenktafel nicht angetan.

Ilona Lagrene: Im Gegenteil! Ausgerechnet in Tübingen, wo der Rassenwahn durch die sogenannten Rassenforscher Robert Ritter und Eva Justin mit entstanden war, wollte man keine Gedenktafel haben. Also entschied ich mich, eine öffentliche Veranstaltung in Tübingen zu initiieren, bei der auch Überlebende anwesend waren. Die damalige Bundesvorsitzende der SPD, Herta Däubler-Gmelin, hat unsere Forderung nach einer Gedenktafel an der Mauer der Stiftskirche unterstützt. Es hat aber trotzdem drei Jahre gedauert, bis 1995 die Tafel eingeweiht wurde. Vorher hatte der Ortsgruppenverein der SPD, der Senioren, einmal nachts eine Holztafel mit unserem Text an der Stiftskirche angebracht. Das war eine tolle Aktion. (lacht laut) Genau an der Stelle wollte ich unsere Tafel haben. Dort befand sich ja auch die Gedenktafel für die verfolgten jüdischen Menschen. Neben ihr sollte unsere Gedenktafel für die ermordeten Sinti und Roma hängen.

1 Hildegard Lagrenne (Schreibweise auch: Lagrene) (* 1921, † 29. März 2007 in Mannheim) war Überlebende des nationalsozialistischen Völkermords an den Roma und Sinti, Mitarbeiterin beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und im Dokumentations- und Kulturzentrum des Zentralrats in Heidelberg sowie seit 1997 Trägerin der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg.


Ilona Lagrene vor der Gedenktafel in Heidelberg in der Steingasse

Cornelia Wilß: Hat die jüdische Gemeinde Sie unterstützt?

Ilona Lagrene: In Tübingen damals nicht. Vieles war damals nicht selbstverständlich, zum Beispiel, als anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes das Sekretariat des Ministerpräsidenten unseren Landesverband eingeladen hatte …

Cornelia Wilß: Was war daran ungewöhnlich?

Ilona Lagrene: Na ja. Ich erhielt einen Platz in der dritten Reihe, und auf meine Bitte, im Anschluss an die Feierlichkeit dem Ministerpräsidenten gemeinsam mit den Überlebenden Gedenkbücher überreichen zu dürfen, lautete die Antwort, dass dies leider nicht möglich sei, verbunden mit dem Angebot, dass ich in der zweiten Reihe sitzen könne. Darauf antwortete ich: Wenn es nicht möglich sein sollte, im Anschluss an die Feier die Überlebenden zu empfangen und dem Herrn Ministerpräsidenten die Gedenkbücher zu übergeben, sähen wir uns leider gezwungen, nicht an den Feierlichkeiten teilzunehmen und dies der Presse mitzuteilen. Die Reaktion aus Stuttgart fiel erfreulich knapp aus: Der Empfang finde im Anschluss statt. Und ich rückte unerwartet eine Reihe weiter nach vorn und saß nun in der ersten Reihe. Man konnte sie letztlich doch kriegen. (lacht)

Ich möchte noch etwas nachtragen. Die Begegnung mit dem Ministerpräsidenten – das war Erwin Teufel – hat damals Früchte getragen. Die Sinti, die beim Empfang anwesend waren, haben alle Schwäbisch gesprochen. Erwin Teufel war ganz erstaunt: „Mensch, Kinder, ihr seid ja von unsre Leut’.“ Er war gebürtiger Rottweiler, und als er sich mit einer Frau aus Rottweil unterhielt, war das Eis gebrochen. Er ist übrigens bis heute Kuratoriumsmitglied im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg.

Romeo Franz: Das ist jetzt 23 Jahre her. Das war nun keine Zeit mehr, die besonders gestrig war, oder? Dennoch gab es dieses despektierliche Verhalten der Regierung auf allen Ebenen gegenüber unseren Menschen … War das etwas anderes als Antiziganismus? Die Mehrheit der Deutschen war damals Sinti und Roma gegenüber ablehnend eingestellt. Damals ergaben zwei Studien, dass 68 Prozent der Deutschen keine „Zigeuner“ als Nachbarn haben wollten. Das Allensbacher Institut ermittelte 1992, dass 64 Prozent der Deutschen eine negative Meinung über Sinti und Roma hatten.2

Cornelia Wilß: Was käme bei Umfragen heute heraus?

Ilona Lagrene: Im Moment schlägt die Stimmung wieder um …

Romeo Franz: Ja. Die Leipziger „Mitte“-Studie aus dem Jahr 2016 hat erbracht, dass 60 Prozent der Deutschen Sinti und Roma aus Deutschland ausweisen möchten. Aufgrund des Rechtsrucks, den wir gerade haben, richtet sich der Fokus in der Mehrheitsgesellschaft aktuell auf die flüchtenden Menschen. Geringer geworden ist die Diskriminierung der Minderheit der Sinti und Roma auf keinen Fall. Unsere Möglichkeiten haben sich jedoch verbessert. Der Landesverband Baden-Württemberg hat zum Beispiel seit fünf Jahren einen Staatsvertrag.3 Daran hast du, Ilona, großen Anteil. Heute ist unser Verhältnis zur Regierung in Baden-Württemberg ein völlig anderes als vor 23 Jahren. Heute sind wir Partner. Es gibt einen Rat für die Angelegenheiten der Roma und Sinti. Dort tauschen sich Fachleute aus und geben ihre Vorschläge ans Staatsministerium weiter. Eine Partizipation auf dieser Ebene gab es damals nicht. Du hast die Vorarbeit dafür geleistet und den Grundstock gelegt, auf dem die nächste Generation aufbauen und deine Arbeit weiterführen konnte.


Foto: privat

Auszug aus den Erinnerungen von Lore Georg, der Schwester von Ilona Lagrene:

„Wann kommen wir dran?“

Wir wohnten damals in Ludwigshafen, bis wir 1940 weggekommen sind. Ich war damals erst zwei Jahre alt. Meine Mutter hat mir später viel erzählt, daher weiß ich vieles von unserer Familie. Wir wohnten in einer Gartenkolonie, in einem Gartenhaus. Das Haus hatten meine Eltern schön hergerichtet. Meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, wohnte mit uns. In der Kolonie wohnten auch viele andere Sintifamilien. Meine Mutter kannte sie alle.

Mein Vater arbeitete in der BASF. Er hat nicht viel verdient damals, nur ein paar Mark. Unsere Familie durfte ihr Gewerbe nicht mehr ausüben, meine Eltern hatten früher beide ihren Gewerbeschein, sie waren da selbständig. Später haben sie den Gewerbeschein nicht mehr bekommen, sie durften nicht mehr Handel treiben. Meine Mutter ging trotzdem noch hausieren, weil sie Geld verdienen mußte. Das Geld, das unser Vater verdiente, reichte nicht für uns zum Leben. Die Mutter zog ein elegantes Kleid an und einen Hut, so daß sie nicht wie eine Sinteza aussah. In ihrer Handtasche hatte sie dann eine kleine Garnitur von Spitzendecken, die versuchte sie zu verkaufen. Das ging noch 1938 und 1939. Dann mußten unsere Eltern auf die Kriminalpolizei kommen, dort wurde ihnen gesagt, daß sie die Stadt nicht mehr verlassen durften und daß sie ihr Gewerbe nicht mehr ausüben durften.

1940 war es, als unsere Familie auf den Transport nach Polen kam. Damals lebte bei uns noch eine Nichte meiner Mutter, zusammen mit ihrer kleinen Tochter. Die beiden kamen mit uns auf den Transport nach Polen. Zuerst ging es nach Hohenasperg, von da nach Polen. An den Transport kann ich mich nicht erinnern, aber noch an Städte und Orte, an die wir später kamen. Wir waren in Radom, in Kattowitz und in anderen Orten.

Die Sinti wurden dort in Polen zur Arbeit eingeteilt, Männer, Frauen und auch die größeren Kinder. Unser Vater mußte in einer Munitionsfabrik arbeiten, meine Mutter und meine Schwester Renate mußten Schützengräben ausheben für die Soldaten. Meine Schwester war damals auch noch klein, sechs Jahre war sie alt. Trotzdem mußte sie mit zur Arbeit. Meine Mutter und meine Schwester mußten dann im Wald arbeiten, bei der Arbeit waren sie von deutscher SS bewacht. Alle unserer Menschen mußten in Polen Zwangsarbeit leisten.

Meine Mutter wollte erreichen, daß meine Schwester nicht mit zur Arbeit muß, aber es hieß, wer nicht zur Arbeit geht, wird standrechtlich erschossen. So wurde das gesagt. Sinti und Juden mußten dort Zwangsarbeit leisten.

Es gab nichts zu essen dort bei der Arbeit. Also mußte meine Mutter sehen, wo sie etwas für uns herbekam. Manchmal konnte sie für eine oder zwei Stunden in die umliegenden Höfe oder Dörfer gehen und versuchen, dort etwas zu kaufen oder einzutauschen.

Davon erzählte meine Mutter oft. Einmal kam sie wieder zu einer Frau, bei der sie schon öfter war, und diese Frau wollte unbedingt, daß meine Mutter ihr wahrsagt. Meine Mutter konnte das gar nicht und sagte das auch der Frau, aber die bestand darauf. Und als sie dann dort war, war auch der Sohn der Familie da, einer von den Partisanen. Er fragte meine Mutter, wer den Krieg gewinnen wird, die Deutschen oder sie, die Polen. Meine Mutter hatte schon vorher gemerkt, daß der Sohn zu den Partisanen gehört, und antwortete ihm, daß die Deutschen den Krieg nicht gewinnen werden. Darauf hat ihr der Mann auf die Schulter geklopft und ihr auf polnisch gesagt: „Ist gut, und jetzt geh.“ Das hat unsere Mutter immer erzählt.

Oh, lieber Gott, die armen Menschen. Alle litten unter großem Hunger, es war kalt, und es gab fast nichts zu essen. Ob jemand krank wurde, ob jemand sich kaum noch aufrecht halten konnte, es tat nichts, alle mußten zur Arbeit. Immer mußten die Menschen damit rechnen, daß sie erschossen werden, egal wo sie waren.

Einmal, ich weiß nicht mehr, an welchem Ort, in welchem Ghetto das war, kam mitten in der Nacht die SS. Wir schliefen alle, und sie holten die Menschen aus den Häusern heraus, wir wohnten dort in solchen Steinbaracken. Die SS hat mit den Gewehren an die Türen geschlagen, alle mußten heraus. Alle mußten sich anziehen und raus. Die Menschen schrien durcheinander, viele wußten, daß die SS immer wieder Erschießungen vorgenommen hat. Sie schrien: „Jetzt werden wir alle ermordet!“ Sie wußten, was jetzt auf sie zukommen würde.

Unsere Mutter ging mit dem Vater, meiner Schwester Renate und meinem Bruder Josef hinaus, ich war noch im Bett. Einer von den Deutschen kam, auch das hat meine Mutter immer wieder erzählt, er kam, und meine Mutter bat und bettelte, er möge die Großmutter und mich verschonen. Der Mann beugte sich über mein Bett und hat mich angesehen, dann sah er meine Mutter an und sagte: „Ich habe auch Kinder.“ Er ließ uns bleiben und sagte noch, wir sollten nichts davon sagen, sonst wäre er dran. Den Namen von dem Mann wußten wir nicht, er hatte sonst nichts gesagt. Ein anderer hätte das nicht gemacht.

Es waren damals dort in dem Ghetto an die fünfhundert Sinti. Alle mußten auf die Kommandantur, dort wurden sie befragt, und es wurden die Arbeitsfähigen ausgesucht. Es wurde eine Liste der Arbeitsfähigen zusammengestellt, und auf der anderen Seite waren diejenigen, die krank waren oder die kleine Kinder hatten. Von den fünfhundert Sinti wurden neunzig oder hundert wieder zurückgeschickt, darunter meine Eltern und meine Geschwister. Die anderen wurden alle ermordet.

Es fuhren Lastwagen vor, und die Familien wurden aufgeladen und in den Wald gefahren. Meine Mutter hat uns das erzählt, die Menschen hätten gewußt, daß sie ermordet werden sollen, sie hätten geschrien und sich gewehrt, die Menschen wurden von der SS weggerissen, mit den Gewehren haben sie auf die Menschen, auf die Kinder eingeschlagen. Mitten im Wald mußten die Sinti ihr eigenes Grab schaufeln.

Wenn die Mama damals nicht gewesen wäre, dann wäre unser Vater damals auch ermordet worden. Die SS hatte auch ihn und die anderen Männer herausgeholt, da war auch der Heinrich Birkenfelder dabei, der dann in Heidelberg lebte. Die Männer wurden von polnischer Polizei bewacht. Unsere Mutter konnte Polnisch. Sie hatte eine Flasche Wodka organisiert, die nahm sie und lief dorthin. Sie lief zu einem Wachposten und sagte, ihr Mann sei da drin und sie müsse mit ihm sprechen.

Der Posten ließ sie durch, und meine Mutter rief nach ihrem Mann und nach dem Birkenfelder. Als sie sie sah, rief sie ihnen zu: „Schnell raus hier, schnell!“ Sie sind vor zu dem Wachposten, meine Mutter warf ihm die Flasche Wodka zu, und sie sind gerannt. Der Wachposten stand da und hat sich nicht gerührt.

Die anderen sind alle ermordet worden … Unter denen, die ermordet wurden, waren zwei Schwestern meiner Mutter, die Moza und ihre kleine Tochter Muri und die Mut mit ihren fünf Kindern. Meine Mutter wollte sie nicht fahren lassen, sie hat sich an dem Wagen, auf dem ihre Schwestern und ihre Nichten waren, festgeklammert. Die anderen Sinti, die bleiben konnten, haben sie losgerissen, weil sie sonst auch mitgenommen und ermordet worden wäre.

Aus: … weggekommen. Berichte und Zeugnisse von Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben, hrsg. von Daniel Strauß, zusammengestellt von Ilona und Reinhold Lagrene, Berlin/Wien 2002


„Die Gespräche wurden von uns so belassen, wie die Menschen geredet hatten. Beim Abschreiben sind meinem Mann und mir die Tränen gekommen.“

„weggekommen“ – ein Wort, das in vielen Berichten und Zeugnissen von Sinti vorkommt, die den Völkermord der Nationalsozialisten überlebt haben. „weggekommen“, das heißt, aus den Städten und Gemeinden deportiert worden zu sein, in denen die Familien oft seit Generationen gelebt hatten. Das heißt, einer Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein, die nicht nachvollzogen werden konnte, gegen die sich die Verfolgten nicht wehren konnten, denn die Verfolgung war unabhängig vom jeweiligen Verhalten des Einzelnen. „Wir haben heute noch Albträume von dem, was wir erlitten haben. Eigentlich wollte ich nicht mehr darüber reden, aber ich tue es jetzt für viele andere, die es nicht mehr können.“

Cornelia Wilß: Abgesehen von der politischen Bürgerrechtsarbeit und der Leitung des Landesverbandes haben Sie die Zeit gefunden, Überlebenden zuzuhören und ihre Geschichten für die Nachwelt festzuhalten. 2002 erschien das Buch weggekommen, das Sie gemeinsam mit Ihrem Mann veröffentlicht haben.

Ilona Lagrene: Mein Mann und ich haben mit 35 Überlebenden Gespräche auf Romanes geführt und die Texte anschließend übersetzt und veröffentlicht. Das Buch ist heute vergriffen. Was wir mit den Menschen damals gemacht haben, war wichtig. Den Überlebenden fiel es nicht leicht, uns auch nicht. Sie wurden zum ersten Mal von Angehörigen ihrer Minderheit über ihre Leidensgeschichten befragt. Wir waren ein ganz anderes Gegenüber, als wenn jemand anderes sie befragt hätte. Sie wussten, dass wir wussten, was passiert war. Diese Erfahrung war für Reinhold und mich oft sehr schmerzlich. Wir haben die Leute in ihrem Redefluss nicht unterbrochen, nur manchmal nachgefragt und später gar nicht erst versucht, ihre Geschichten chronologisch zu ordnen. Die Gespräche wurden von uns so belassen, wie die Menschen geredet hatten. Beim Abschreiben sind meinem Mann und mir die Tränen gekommen. Das hat uns sehr berührt.

Cornelia Wilß: Was beschäftigt Sie im Augenblick?

Ilona Lagrene: Ich schaue mit Sorge in die Zukunft dieses Landes. Man muss Vertrauen in die Bundesregierung haben. Ich hoffe, die Bundeskanzlerin macht jetzt das Richtige, nicht das, was zum Beispiel die AfD will. Eins muss ich sagen, und ich betone es gern: Das, was unsere Bundeskanzlerin im Sommer 2015 in dieser schwierigen Situation an der Grenze zu Ungarn zu den flüchtenden Menschen gesagt hat, war richtig: Kommt! Das war richtig. Dafür hat sie meinen Respekt. Sie konnte nicht wissen, was später auf uns zukam. Das konnte damals keiner abschätzen. Ich denke, in unserem Land wäre in der Flüchtlingspolitik viel mehr möglich, wenn man besser organisieren würde. Ich finde die gegenwärtig geführte Diskussion abscheulich. Wenn man hört, dass sich Gauland erlaubt zu sagen, der Nationalsozialismus sei ein „Vogelschiss“ … Das ist ungeheuerlich.

Cornelia Wilß: In diesem Jahr erscheint im Verlag Das Wunderhorn ein Buch Ihres Mannes, das den Titel trägt Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Welche Rolle spielte Romanes für Ihren Mann?

Ilona Lagrene: Mein Mann hat sich systematisch mit Romanes beschäftigt und unsere Sprache für die nachkommende Generation, für uns Sinti, aufgeschrieben. Unserer Sprache sind viele Worte verloren gegangen. Reinhold sah es als seine Aufgabe an, das Bewusstsein unserer Leute für die Bedeutung des Romanes zu stärken. Romanes war ja im engeren Sinne keine Schriftsprache. Er hat Märchen, Sagen und Gedichte ins Romanes übersetzt und eigene Gedichte auf Deutsch und auf Romanes geschrieben. Er suchte gern nach alten Worten, die heute eher selten gesprochen werden. Gerade die Jüngeren benutzen ja oft Lehnwörter aus anderen Sprachen. Aber wenn unser Romanes, das nie aufgeschrieben wurde, seit über 600 Jahren in Deutschland wirkt und sehr viel länger schon besteht, dann bin ich sicher, dass es so schnell nicht verfliegen wird. Wichtig ist, dass man seine Sprache spricht, vor allem in der Familie. Kennen Sie das Gedicht „Auschwitz“ von Santino Spinelli, dem italienischen Rom? Seine Verse sind in den Brunnen des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin eingraviert.

Eingefallenes Gesicht

erloschene Augen

kalte Lippen

Stille

ein zerrissenes Herz

ohne Atem /

ohne Worte

keine Tränen

Mein Mann hat es aus dem Romanes ins Deutsche übertragen. Im Original lautet es:

Muj šukkó,

kjá kalé

vušt šurdé;

kwit.

Jiló čindó

bi dox,

bi lav,

nikt ruvbé.

Lyrik mochte er sehr. Für das Buch, das im Verlag Das Wunderhorn erscheint, hat Reinhold klassische Gedichte von Mörike, Goethe, Schiller, Hölderlin, Fontane aus dem Deutschen ins Romanes übertragen und eigene Erzählungen und Gedichte verfasst. Die Gedichte werden zweisprachig abgedruckt. Wenn das Buch erschienen ist, werde ich Lesungen machen und die Texte auf Deutsch lesen, sonst versteht’s ja niemand. Vielleicht kann ich aber doch auch ein paar Texte auf Romanes vortragen … Ich glaube, das würde ihn freuen.

Reinhold Lagrene

PRALDJIEDO4

Erzähl ich dann aus meinem Leben

vom Glück, das mir genommen schon vor langer Zeit

kann auf Erden hier mir dies niemand wiedergeben

was mir bleibt ist Einsamkeit

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