Kitabı oku: «Mein Name sei Berlin»

Yazı tipi:

Mein Name sei Berlin

Literarische Entdeckungen einer Großstadt


Johanna Drescher / Berit Becker (Hg.)

Mein Name sei Berlin

Literarische Entdeckungen einer Großstadt


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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ISBN: 978-3-940621-43-6

Korrektorat: Frank Petrasch

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout:

Stefan Berndt – www.fototypo.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin /2011

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Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen,

der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe

und der Übersetzung, vorbehalten.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

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Inhalt

Einleitung oder: Des Pudels Kern

Großstadt Berlin

Karl Scheffler: Im Wendischen Busch

Heinrich von Kleist: Kein Ort für die Liebe

Ludwig Thoma: Berliner Spektakel

Erich Kästner: Besuch vom Land

Berliner Getue

Wiglaf Droste: Berlin, Hauptstadt der Höflichkeit

Theodor Fontane: Berliner Ton

Karl Scheffler: Kulturehrgeiz

Frank Sorge: Kaffee Latte

Peter Richter: Mai

Ignaz Wrobel: Berlin! Berlin!

Berliner Orte

Günter Kunert: Wunder

Franz Hessel: Hasenheide

Olga O’Groschen: Neukölln

Heinz Knobloch: Mal kurz in Marzahn

Thomas Gottschalk: Berliner Erde

Dimitri Hegemann: Techno nach dem Mauerfall

Berliner Metamorphosen

Wilhelm Raabe: Unglückseliges Weltnest

Joseph Roth: Gesellschaftsloses Gesellschaftsleben

Peter Richter: Kastanienallee

Harry Nutt: Wohl’n Wessi, wa’?

Heiko Werning: 200 Wochen Hinterhaus, 3. Stock

Michael Sollorz: Von Bad Beichte nach Berlin

Amit Jacobi: Spielplatz Berlin

Heimat Berlin

Robert Liebscher: Berliner mit Migrationshintergründen

Franz Tumler: Hier in Berlin, wo ich wohne

Berit Becker: Konundrum

Anhang

Literatur- und Rechtenachweise

Einleitung oder: Des Pudels Kern

Die Beziehung zwischen einer Stadt, ihren Einwohnern und Besuchern ist so individuell wie die zwischen zwei Menschen. Von daher ist es kaum möglich, das Wesen eines Ortes auf einen Punkt zu bringen. So ist es auch im Fall von Berlin. Es ist ihre einzigartige Geschichte, die dieser Stadt ihre Unverwechselbarkeit und ihre vielen Gesichter eingebracht hat. Unzählbar sind daher die Eindrücke und so unterschiedlich auch die Geschichten, die sich hier ereignet haben und immer wieder ereignen. Je nachdem, mit wem man ins Gespräch kommt, wird einem immer wieder ein anderes Bild von Berlin vermittelt.

Trotzdem halten sich bestimmte Eindrücke hartnäckig. Zu ihnen zählt die oft zitierte Berliner Schnoddrigkeit, die sich in Form der Berliner Mundart den Weg an die Oberfläche des alltäglichen Miteinanders bahnt. Einig ist man sich meist auch, dass Berlin immerhin die aufregendste Stadt Deutschlands ist. Uneinigkeit herrscht dagegen noch immer hinsichtlich der Frage, ob Berlin wirklich auch eine Weltstadt sei. Vor allem aus der Ferne wird man eher dazu neigen, diese Frage mit einem eindeutigen »Ja« zu beantworten. Tatsächlich, so scheint es, wandelt sich die Perspektive auf die Stadt in Abhängigkeit von der Distanz, aus der man sie betrachtet. Je weiter man sich entfernt, umso klarer werden die Vorurteile; positive, aber auch negative: Da wird Berlin als Hochburg von Unhöflichkeit verpönt, zum Symbol für Kreativität und Vielfalt erkoren und ist zugleich Großstadt und Provinz. Egal, ob aus unmittelbarer Nähe oder großer Distanz – vielen dient Berlin als überdimensionale Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Fantasien.

Die hier vorgestellten Texte stammen alle aus der Feder von Berlinern, Wahlberlinern sowie Berlinbesuchern und beschreiben deren Eindrücke von dieser Stadt. Neben Beiträgen von namhaften Schriftstellern wie Heinrich von Kleist, Karl Scheffler oder Theodor Fontane haben auch Texte von jungen Berliner Autorinnen und Autoren Eingang in diese Sammlung gefunden.

Die eher unkonventionelle Auswahl sehr unterschiedlicher Texte erlaubt es, Berlin aus verschiedensten Blickwinkeln heraus zu betrachten. Zudem ermöglicht diese Sammlung, die Texte aus drei Jahrhunderten zusammenführt, Kontinuitäten in der Wahrnehmung dieser Stadt aufzuspüren. Eine Konstante scheint die fortwährende Veränderung zu sein: Berlin ist durch das Mit- aber auch Nebeneinander seiner ursprünglichen wie neuen Bewohner täglich einer Vielzahl an Einflüssen ausgesetzt. Alteingesessene lernen durch internationale Besucher und Neu-Berliner die Welt kennen, ohne einen Schritt aus der Stadt heraustreten zu müssen. Die mitgebrachten kulturellen Impulse schreiben den Mythos Berlins als kreatives Zentrum Europas fort. Es scheint, als könne hier jeder die Nische finden, die er für seine individuelle Entwicklung benötigt und die ihm an anderer Stelle verwehrt blieb. Auf diese Weise wird die Stadt geformt. Sie formt aber auch und ist in einem unaufhaltsamen Werden ohne fest geschriebenes Ziel begriffen.

Die Anthologie setzt sich in fünf Abschnitten mit unterschiedlichen Themen auseinander. In den ersten zwei Kapiteln versuchen wir den Wind, der in dieser Stadt weht, einzufangen und verständlich zu machen, was die Atmosphäre Berlins ausmacht. Die Texte des »Großstadt Berlin«-Kapitels spiegeln vor allem erste Eindrücke von Berlin wider.

In »Berliner Getue«, dem zweiten Kapitel, wird der Berliner ergründet; gleichzeitig soll den Berliner Eigenarten nachgespürt werden.

Das Durchschimmern regionaler wie internationaler Geschichte in den Straßen Berlins, ausgesuchten Orten und Institutionen steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels »Berliner Orte«. In diesem Kapitel treffen unter anderen die Beschreibung des mittlerweile zum Szenebezirk avancierten Neuköllns auf die fast liebevolle Darstellung des oft nur kritisch bedachten Marzahns – dem »kleinen Bruder« unter den Kiezgeschwistern.

Wie Berlin durch den Einfluss neu zuströmender Bewohner täglich bereichert wird, diese im gleichen Moment aber auch durch die neue Umgebung geprägt werden und sich dem Rhythmus der Stadt anpassen, darauf wird im Kapitel »Berliner Metamorphosen« näher eingegangen. Berlin, so wird hier deutlich, ist und bleibt die Summe seiner Gegensätze.

Bei all der viel zitierten Bewegung und der konstanten Veränderung, bleibt im abschließenden Kapitel »Heimat Berlin« noch zu fragen, was es bedeutet, Berlin als Heimat zu empfinden und wie es ist, Berlin zu verlassen oder auch hierher zurückzukehren.

Trotz aller literarischer Treffsicherheit, genauen Beobachtung und Detailverliebtheit wie Empfindsamkeit der Autoren: Das Berlin und den Berliner gibt es nicht. Trotzdem wurde es während der Arbeit an dieser Anthologie offensichtlich, dass uns bestimmte Beschreibungen dessen, was den typischen Berliner vermeintlich ausmacht, zutreffender erschienen als andere.

Somit kamen wir nicht umhin, uns damit auseinander zu setzen, was für ein Bild wir als Herausgeberinnen von Berlin haben. Das nachzuvollziehen erscheint wichtiger, als unwiderrufliche Aussagen darüber treffen zu wollen, was die wahre Quintessenz Berlins nun schlussendlich sei. So lag es uns am Herzen, ein breites Spektrum an Meinungen in dieser Anthologie zusammen zu führen. Mit Sicherheit wird dabei die Tatsache, dass wir beide gebürtige Berlinerinnen sind, die Textauswahl beeinflusst haben. Denn für uns ist diese Stadt zu allererst Heimat. Wir bekennen: Ganz neutral sind wir deshalb garantiert nicht.

Was für unseren speziellen Fall gilt, trifft natürlich auch auf Sie zu. Die Eindrücke, die Sie während Ihrer Zeit in Berlin sammeln, sagen nicht nur etwas über die Stadt, sondern vor allem auch über Sie selbst aus, über Ihre Interessen und Vorstellungen sowie Ihre Erwartungen an diese Stadt. In diesem Sinne möchten wir Sie dazu einladen, sich auf Ihre ganz eigene Entdeckungstour Berlins zu machen und Ihre persönliche Quintessenz dieser Stadt zu formulieren.

Johanna Drescher & Berit Becker

Großstadt Berlin


Karl Scheffler(1910)

Im Wendischen Busch

Die schwierige und künstliche Entwicklung der Stadt prägt sich deutlich in ihrer äußeren Anlage aus. Der zur Formlosigkeit verdammte Geist hat sich einen formlosen Stadtkörper gebildet. […] Berlin ist niemals ein natürliches Zentrum, niemals die vorbestimmte deutsche Hauptstadt gewesen. Es lag von jeher weit ab von den Stammgebieten der deutschen Kultur, ja, der deutschen Geschichte; es ist zu all seiner ungeschlachten Mächtigkeit wie nebenher emporgewachsen.

[…] Alle Hauptstädte Europas sind anders entstanden als Berlin. Sie sind geworden wie sie sind, weil sie von Anfang an natürliche Mittelpunkte waren und Sammelbecken, in denen die besten Energien des Volkes zusammenflossen, wie das Gemeinschaftsbewußtsein wuchs, weil sie das Herz der Länder waren, zu dem alle Kräfte hinstrebten, um gleich auch wieder befruchtet zurückzukehren. Darum finden wir in den Haupstädten wie Paris, Wien, London, Kopenhagen, in Großstädten wie in Hamburg, Köln, Dresden oder München immer eine wirkliche, in sich abgeschlossene Stadtwirtschaft und eine Bevölkerung, die einen Volksextrakt darstellt. Eine Bevölkerung, die einen Volkscharakter darstellt. Eine Bevölkerung, die bestimmte nationale Eigenschaften in Reinkultur verkörpert und in der Alles, was in der Provinz Instinkt ist, Kulturbewußtsein gewinnt. Anders in Berlin. Das ist entstanden infolge eines Vorstoßes pionierender germanischer Stämme ins Wendengebiet. Es ist in der Folge nur gewachsen, wenn neuer Zuzug aus dem Westen, dem Süden oder gar fremden Ländern kam. Stieg die Bevölkerungsziffer, so geschah es, wenn Markgrafen, Kurfürsten und Könige neue Kolonisten in die Mark zogen. Berlin ist buchstäblich geworden wie eine Kolonialstadt, wie im neunzehnten Jahrhundert die amerikanischen und australischen Städte tief im Busch entstanden sind. Wie der Yankee das Produkt von deutschen, englischen, irischen, skandinavischen und slawischen Volkselementen ist, so ist der Berliner das historische Produkt einer Blutmischung, deren Bestandteile aus allen Gauen Deutschlands, aus Holland, Frankreich und den slawischen Ländern stammen.

[…] Von Anfang an ist Berlin ein Opfer seines Dualismus gewesen. Zwei Städte, zwei Verwaltungen, zwei isolierte Interessen: was sagt da die gemeinsame Stadtmauer! Um 1307 erst wurden beide Städte einer einzigen Verwaltung unterstellt; dann aber fand Friedrich der Zweite es bequemer, zwei konkurrierende, aufeinander eifersüchtige und sich gegenseitig lähmende Städte zu beherrschen als eine, die ihm mit geeinter Macht entgegentreten konnte. Er trennte um 1441 schon wieder die Verwaltung und es blieb dann bei einem unfruchtbaren Dualismus bis zum Jahre 1709, bis zu einem Zeitpunkt also, wo der Grundriß der Stadt längst festgelegt worden war. Hätte es sich nun wirklich um zwei selbständige Städte gehandelt, so hätte sich jede für sich organisch entwickeln können. Aber auch das war wiederum nicht der Fall. Der Fluß ist niemals eine so wesentliche Grenzlinie gewesen, um Berlin von Kölln abzutrennen; der alte Spreeübergang verband die Ufer und seine Bewohner ganz unmittelbar. Die Städte waren zugleich getrennt und verbunden in allen Dingen. Daher dieser indifferent so lange ertragene Dualismus, der durchaus das Zeichen eines Mangels an wahrhaft aristokratischem Bürgerbewußtsein ist. Daß es Berlin von vornherein an Stadtbewußtsein gefehlt hat, darauf deuten schon die vielen Eifersüchteleien und Unruhen in dem sich bereichernden Emporkömmlingsvolke des Mittelalters, alle diese Bürgerrevolten, Ratsverschwörungen und Anklagen bei den Kurfürsten.

Karl Scheffler (*1869 in Hamburg, †1951 in Überlingen) kam zu Beginn der 1890er Jahre nach Berlin. Der Kunstpublizist und -kritiker kommentierte ab 1897 die Berliner Kunstszene und war u. a. Redakteur der »Vossischen Zeitung«. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 verließ er Berlin. Sein 1910 publiziertes Buch »Berlin - ein Stadtschicksal« zählt zu den Klassikern der Berlin-Literatur.


Heinrich von Kleist(1800)

Kein Ort für die Liebe

»Aber, unter uns gesagt, je öfter ich Berlin sehe, je gewisser wird es mir, daß diese Stadt, so wie alle Residenzen und Hauptstädte, kein eigentlicher Aufenthalt für die Liebe ist. Die Menschen sind hier zu zierlich, um wahr, zu gewitzig, um offen zu sein. Die Menge von Erscheinungen stört das Herz in seinen Genüssen, man gewöhnt sich endlich, in ein so vielfaches eitles Interesse einzugreifen, und verliert am Ende sein wahres aus den Augen.«

Heinrich von Kleist (*1777 in Frankfurt/Oder, †1811 am Kleinen Wannsee) lebte seit 1809 in Berlin. Nachdem seine publizistischen Bestrebungen mit den »Berliner Abendblättern« im Frühjahr 1811 erneut an der strengen Zensur in Preußen scheiterten, verlor er jede Hoffnung und Perspektive. Er beging gemeinsam mit Henriette Vogel am 21. November 1811 Selbstmord am Kleinen Wannsee. In der Bismarckstraße 2 in Berlin-Zehlendorf erinnert heute ein Grabstein an die Beiden.


Ludwig Thoma(1919)

Berliner Spektakel

Im Frühjahr 1901 war ich zu kurzem Aufenthalte in Berlin und verlebte in fröhlicher Künstlergesellschaft ein paar genußreiche Wochen. Die Reichshauptstadt, die ich zum ersten Male sah, gefiel mir außerordentlich […]. Ganz gewiß war vieles dazu angetan, diese Meinung hervorzurufen, aber es lag auch in meiner Art, mich neuen Eindrücken stark hinzugeben und feine Mängel zu bemerken, wo ich nur Vorzüge sehen wollte. […] Der Gefallen, den ich an Berlin gefunden hatte, blieb in mir wach, und als sich mir im folgenden Herbste die Möglichkeit bot, auf längere Zeit dorthin zu übersiedeln, besann ich mich nicht lange und entschloß mich, München auf einige Zeit zu verlassen.

[…] Von meiner Freude an der lauten Großstadt kam ich bald zurück.

Zwar das Berlin, wie es geschäftig war, arbeitete und bei aller Hast und Hetze Ordnung hielt, imponierte mir noch immer; erst in späteren Jahren wurde ich mißtrauisch gegen die fixen Leute, die so viel Spektakel mit ihrer Arbeit machten und immer neue, unmögliche Pläne und Ideen am Telephon hatten und sich in der Pose der unter fürchterlicher Arbeitslast Zusammenbrechenden wohl fühlten.

Aber auch schon damals sah ich Berlin, wie es sich unterhielt, mit kritischen Augen an, und es gefiel mir nicht mehr.

Selbst in Abendgesellschaften merkte ich bei den geladenen Gästen, daß sie einander weder Ernst noch Heiterkeit glaubten und sich kühl beobachteten.

Diese Leute waren einander fremd, kaum aneinander gewöhnt und ganz und gar nicht miteinander verwachsen; sie konnten nur nach Äußerlichkeiten urteilen und waren veranlaßt, ihre Art nach außen zu wenden, da sie keinen innerlichen Zusammenhang hatten. Vom Berliner Nachtbetrieb wurde oft mit einem gewissen Stolze gesprochen, als wäre in ihm der weltstädtische Charakter sicher gestellt und deutlich zur Erscheinung gebracht. Ich weiß nicht, ob dieses Ziel erreicht wurde, noch weniger, ob es irgendeinen Wert hatte. Ich sah nur dichtgedrängte Haufen von Menschen, die das eine gemeinsam hatten, daß sie sich fröhlicher gaben als sie waren. […]

Der Schriftsteller Ludwig Thoma (*1867 in Oberammergau, †1921 in Rottach) ist vor allem durch seine realistischen und satirischen Beschreibungen des bayerischen Alltags bekannt geworden. Er war lange Jahre Autor und Chefredakteur des Satireblattes »Simplicissmus«. Zudem feierte er als Bühnenautor einige Erfolge, u. a. auch mit einem Stück für das Berliner literarische Kabarett »Überbrettl«.


Erich Kästner(1929)

Besuch vom Land

Sie stehen verstört am Potsdamer Platz.

Und finden Berlin zu laut.

Die Nacht glüht auf in Kilowatts.

Ein Fräulein sagt heiser: »Komm mit, mein Schatz!« Und zeigt entsetzlich viel Haut.

Sie wissen vor Staunen nicht aus und nicht ein.

Sie stehen und wundern sich bloß.

Die Bahnen rasseln. Die Autos schrein.

Sie möchten am liebsten zu Hause sein.

Und finden Berlin zu groß.

Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt, weil irgendwer sie schilt.

Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt.

Sie sind das alles so gar nicht gewöhnt.

Und finden Berlin zu wild.

Sie machen vor Angst die Beine krumm.

Sie machen alles verkehrt.

Sie lächeln bestürzt. Und sie warten dumm.

Und stehn auf dem Potsdamer Platz herum, bis man sie überfährt.

Erich Kästner (*1899 in Dresden, †1974 in München) lebte von 1927 bis 1945 in Berlin. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Zeitschriftenartikel und Bücher, u. a. die weltbekannten Kinderbücher »Emil und die Detektive«, »Pünktchen und Anton« und »Das fliegende Klassenzimmer«, aber auch der Roman »Fabian – Geschichte eines Moralisten«.

Berliner Getue


Wiglaf Droste(1997)

Berlin, Hauptstadt der Höflichkeit

Das deutsche Schicksal, schrieb Kurt Tucholsky, sei es, vor einem Schalter zu stehen – und das deutsche Ideal, hinter einem Schalter zu sitzen. Offensichtlich kannte der Mann Berlin und die Berliner sehr genau, denn in der Hauptstadt der Deutschen stimmt sein Diktum noch immer uneingeschränkt.

Deshalb haben die berüchtigten Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) für ihre Angestellten Benimmkurse organisiert, um ihnen immerhin das allernötigste Rüstzeug im Umgang mit der Kundschaft an die Hand zu geben – mit dem Ergebnis, daß in der U-Bahn im Anschluß an die nach wie vor geknurrte Mahnung »Zurückbleiben!« – die aber eher wie »Zöörrlll!« klingt – ab und an ein wie zwischen den Zähnen mühsam und unwirsch ausgewürgtes »Bitte!« ertönt, dem deutlich anzuhören ist, wie sehr der BVG-Mann seine Mitmenschen dafür haßt. Ihn so zu demütigen, daß er »bitte« sagen muß! Wenn seine Kollegen das gehört hätten! Die Schande, die Schande!

Routiniert beherrscht wird der Kammerton B –wie Brüllen oder Berlin – auch von den Bediensteten der Post. Wer erfolgreich den Kriegs- und den Kriechdienst verweigert hat, bekommt hier seine Kaserne nachgereicht. »Dett Jeld is zaknittat!« pflaumt der Schalterbeamte, als ich ihm zwei Zwanziger für Briefmarken hinschiebe. Ja, das ist wahr: Ich hätte die Scheine vorher bügeln sollen. (Jetzt weiß man auch, warum diese herrlichen Menschen stets hinter Panzerglas sitzend ihre Arbeit verrichten; es ist nicht wegen der paar Räuber im Land.)

Die Berliner Sparkasse buchstabiert ihr S-Initial ebenfalls wie Service; am Tag der Niederschrift dieser Kolumne sind in meiner Filiale sensationellerweise sogar zwei geöffnet, so daß man nicht, wie üblich, zu achtundzwanzigst in einer Schlange anstehen muß, sondern bloß zu vierzehnt in zweien. Was mag nur los sein, frage ich mich irritiert, ist heute Tag der Kunden? Oder hat der Filialleiter Geburtstag? Und trinken deswegen alle so gemütlich Kaffee?

Zwanzig Minuten später darf ich etwas von meinem Geld abheben. Sagte ich: von meinem Geld? Das ist natürlich ein Irrtum – so, wie mich der Junge hinterm Schalter ansieht, ist das gar nicht mein Geld, sondern seins, seins ganz allein. »Ausweis!« kläfft er und vergleicht – als hätte er’s bei einem DDR-Grenzer gelernt – mehrfach Paßbild und die Erscheinung vor ihm, die er, der Wegelagerer mit Schlips, sichtlich mißbilligt.

Vielleicht sollte ich doch etwas mehr Wert auf äußeren Glanz legen, denke ich noch, während er mir verbittert und fast weinend die Scheine hinzählt; beim Hinausgehen aber wird mir klar, warum die Berliner Sparkasse ist, wie sie ist: Manfred Krug macht Reklame für den Verein, Krug, der ja, vor allem mit seiner Werbung für das nach Harn schmeckende Berliner Schultheiß-Bier, die Verkörperung dessen ist, was sich die Berliner selbst großtuerisch als Herz mit Schnauze attestieren – allein, wo wäre das Herz?

So gesehen freut mich der Regierungsumzug nach Berlin, da mache ich gerne Platz: Die Bonner Unsympathen werden individuell so abgefertigt, wie ihnen das kollektiv ohnehin zukommt.

Wiglaf Droste (*1961 in Herford) lebt seit 1983 in Berlin. Er war Redakteur der taz und der TITANIC und hat zahlreiche Bücher veröffentlich. Aufgrund seiner satirischen Schärfe und Prägnanz wird er bisweilen als der »Tucholsky unserer Tage« bezeichnet.

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