Kitabı oku: «Neue Theorien des Rechts»

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Neue Theorien des Rechts

Sonja Buckel / Ralph Christensen / Andreas Fischer-Lescano

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG


Inhaltsverzeichnis

  Vorwort

  Einleitung: Neue Theoriepraxis des Rechts A. Theorie im Recht B. Gesellschaftliche Herausforderungen als Herausforderungen für die Rechtstheorie C. Schwerpunktsetzung des Sammelbandes D. Didaktische Konzeption

 Erster Teil: Trennung und Verknüpfung von Recht und PolitikDemokratischer Positivismus: Habermas und MausA. Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats: HabermasB. Aufklärung der Rechts- und Demokratietheorie: MausC. Recht jenseits des demokratischen RechtsstaatsD. LiteraturhinweiseDerrida und das Modell der DekonstruktionA. Zur Vorstellung der FragenB. Die Dekonstruktion in fünf OperationenC. Was für das Recht passtD. Zur Diskussion in Theorie und AnwendungspraxisE. Zur LektüreF. LiteraturhinweiseSystemtheorie des Rechts: Teubner und LuhmannA. Funktionale Differenzierung des RechtsB. RechtskritikC. LiteraturhinweisePost-Juridische Rechtstheorien: Benjamin, Menke, LoickA. EinleitungB. Kritiken des RechtsC. Wege aus dem Recht der bürgerlichen GesellschaftD. FazitE. Literaturhinweise

 Zweiter Teil: RechtsverständnisseSprachphilosophie: Davidson und BrandomA. Interpretation – Donald DavidsonB. Inferenz – Robert BrandomC. LiteraturhinweiseNeuer RechtsempirismusA. Gibt es eine empirische Wende der Jurisprudenz?B. Die Ausblendung fremden WissensC. Ein Hubble-Teleskop für Juristen: Die KorpuslinguistikC. Das Eigene des Rechts und das fremde WissenD. LiteraturhinweiseNachpositivistisches RechtsdenkenA. Die Theorie rechtlichen WissensB. Rechtspositivismus und rechtsethische JurisprudenzC. Der Begriff nachpositivistischen RechtsdenkensD. Zwei VersionenE. Was bleibtF. LiteraturhinweiseÄsthetische Theorien des RechtsA. Einleitung: Konturen eines ForschungsfeldesB. Ausgangsbefunde und systematische Schwerpunkte der RechtsästhetikC. Perspektiven der RechtsästhetikD. Literaturhinweise

 Dritter Teil: Politik des RechtsProzedurale Rechtstheorie: WiethölterA. Kollisionstheoretischer InstitutionalismusB. Paradoxien des Recht-Fertigungs-RechtsC. LiteraturhinweisePartisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc.A. CLS – Rechtskritik in BewegungB. Hyperrealismus, Methodenpluralismus und theoretischer EklektizismusC. Probleme, Paradoxien, DilemmataD. LiteraturhinweiseNeo-Materialistische RechtstheorieA. Klassiker der marxistischen RechtstheorieB. Kritik in der »Krise des Marxismus«C. Neo-materialistische RechtstheorieD. LiteraturhinweiseMacht und Recht: FoucaultA. Foucaults RechtskonzeptionB. Foucaults Hypothesen zur Bedeutung des RechtsC. Das Recht und die Macht: Zwischen Marginalisierung, Kolonisierung und RenaissanceD. LiteraturhinweiseFeministische RechtstheorieA. Benachteiligung von Frauen im RechtB. Antiessentialistische Kritik: Konstruktion von Geschlecht(ern)C. FazitD. LiteraturhinweiseBourdieus juridisches Feld: Die juridische Dimension der sozialen EmanzipationA. Der intrinsische Zusammenhang zwischen Recht und SoziologieB. Das juridische FeldC. Kritische Rezeption von Bourdieu: Die Möglichkeit der Transformation der sozialen Welt durch die Transformation des RechtsD. Literaturhinweise

 Vierter Teil: Fragmentierung und Responsivität des RechtsMedientheorien des RechtsA. EinleitungB. Medientheorie als (kritische) RechtstheorieC. Medientheorien des RechtsD. Die Widersetzlichkeit der DingeE. LiteraturhinweisePsycho- und Neuro-Theorien des RechtsA. EinleitungB. Rechtsfragen der NeurowissenschaftenC. Möglichkeiten der Verständigung von Hirnforschung und RechtD. LiteraturhinweiseÖkonomische Theorien des RechtsEinleitungA. Ökonomische Analyse des RechtsB. Kernthemen der ökonomischen AnalyseII. Externe Effekte und das Coase-TheoremC. Alternative ökonomische TheoriebildungenD. Ausblick: Pluralität ökonomischer Theorien im RechtE. Literaturhinweise

 Fünfter Teil: Transnationaler RechtspluralismusTheorien transnationaler RechtsprozesseA. Unterschiedliche Normebenen: national, international, supranational und transnationalB. Genese und inhaltliche Aussagen der Theorie transnationaler RechtsprozesseII. Rekonstruktion der Hauptaussagen der TRP und der maßgeblichen EinwändeC. Überblick über weitere Theorieangebote: Globales Recht zwischen Einheit und FragmentierungD. AusblickE. LiteraturhinweiseRecht im Kontext imperialer LebensweiseA. Einleitung: Das Konzept der imperialen LebensweiseB. Wirtschaft und Recht in der imperialen LebensweiseC. Die gegenhegemoniale Praxis: Rechtliche Interventionen gegen »Externalisierungen«D. Perspektiven gegenhegemonialer rechtlicher InterventionenE. LiteraturhinweisePostkoloniale RechtstheorieA. Vom Recht der Dekolonisierung zur postkolonialen RechtstheorieB. Drei Interventionsfelder postkolonialer RechtstheorieC. Drei Anwendungsfelder postkolonialer RechtstheorieD. Kritik und AusblickE. Literaturhinweise

  Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

  Personenregister

  Sachregister

[Zum Inhalt]

|V|Vorwort

Als Herausgeber*innen freuen wir uns über das große Interesse, das der Band gefunden hat. Wir haben alle Beiträge im Lichte der zahlreichen und erfreulichen Reaktionen auf die Erstauflage des Bandes einer gründlichen Revision unterzogen und die Literaturhinweise aktualisiert. Für die dritte Auflage haben wir den Band konzeptionell überarbeitet, die Texte neu arrangiert und eine Reihe neuer Ansätze (Post-Juridismus, Ästhetik des Rechts, Medientheorie, Rechtsempirismus, Recht im Kontext imperialer Lebensweise, Postkolonialismus) aufgenommen, die bislang nicht vorgestellt worden sind. Andere Ansätze, deren Bedeutung und Innovationskraft abgenommen haben (Agambens Dezisionismus, deliberative Theorien), wurden nicht erneut aufgenommen. Trotz der zum Teil umfangreichen Überarbeitung bleibt die Zielsetzung des Bandes gleich, sie ist eine doppelte: Der Band sucht einerseits Grundlage einer vertieften Auseinandersetzung für diejenigen zu sein, die bereits auf Vorkenntnisse zurückgreifen können, andererseits sollen gerade auch diejenigen, die sich einen ersten Überblick über neue Theoriebildungen im Recht verschaffen wollen, konzise und verständlich in die jeweilige Logik des theoretischen Arguments eingeführt werden.

Allen an diesem Buch Beteiligten, insbesondere den Autorinnen und Autoren, sei für ihre Mitarbeit gedankt. Dank geht auch an Apollinaire Akpene Apetor-Koffi, Pia Borsing, Julia Gelhaar, Anika Grotjohann, Florian Nustede und Britta Plote in Bremen, die die Register erstellt, alle technischen Fragen souverän erledigt und aus heterogenen Worddokumenten die Einheit eines Buchmanuskripts hervorgebracht haben.

Kassel, Bremen und Mannheim, im Januar 2020 S.B., A.F.L., R.C.

[Zum Inhalt]

|1|Einleitung: Neue Theoriepraxis des Rechts

Sonja Buckel, Ralph Christensen und Andreas Fischer-Lescano

Theorie im Recht thront nicht über der Rechtspraxis, sondern steckt mitten drin. Sie liefert nicht Versatzstücke für Sonntagsreden bei Gerichtsjubiläen, sondern ist auf Praxis ausgerichtet. Wenn Theorie es ernst meint, beleuchtet sie die blinden Flecke der Dogmatik und verweist auf konzeptionelle Kontingenzen. Die hier vorgestellten Theoriemodelle meinen es ernst. Alle reagieren sie auf die gesellschaftlichen Herausforderungen, die üblicherweise in die Formeln »Ausdifferenzierung« und »Globalisierung« gebracht werden.

Die Diskussion wichtiger Sachthemen wird im Moment blockiert durch zwei dominante Diskursformen: Auf der einen Seite der neoliberale Diskurs, der Wahrheit, Objektivität und vor allem Alternativlosigkeit proklamiert. Dieser Diskurs hat durch die Finanzkrise an Macht und Einfluss verloren. Die Subalternen glauben nicht mehr ohne Weiteres, dass sie an ihrer hoffnungslosen Lage selbst schuld sind. Dies wird von einem neu-rechten Populismus ausgenutzt, welcher auf diskursive Hegemonie zielt und regelbrechende Diskursinterventionen verwendet, um Tabuformen öffentlicher Herrschaft wieder salonfähig zu machen. Er entwendet dafür überraschende, innovative, disruptive Diskurspraktiken, welche seit Dadaismus, Surrealismus und Guerillakommunikation der Emanzipation dienten[1]. Damit macht er Fake News zur Wahrheit. In dem Spalt zwischen diesen beiden Diskursen verschwinden die wirklichen Probleme. Fakten und Realitäten sind aber immer Ergebnisse von Kontroversen. Sie sind Streitsachen[2]. Auf dieser Grundlage einer Formulierung von wirklichen Problemen unter Verzicht auf den Anspruch, das Auge Gottes zu repräsentieren, könnten die neuen Ansätze in der Rechtstheorie sich treffen.

Die zusammenführende Darstellung dieser Ansätze im vorliegenden Sammelband sucht, in die heterogenen Antworten der aktuellen Theorien des Rechts auf die »neue Unübersichtlichkeit«[3] einzuführen, den Vergleich einzelner Theorieangebote zu ermöglichen, Querverbindungen nachzuspüren und insgesamt zum kritischen Nach- und Gegendenken der wichtigsten Richtungen und Referenztexte anzuregen.

Das vorliegende Buch versteht sich in seinem Fokus auf neue Theorien des Rechts als komplementär zu traditionell konzipierten Grundlageneinführungen, |2|in denen die hier vorgestellten Theoriemodelle zumeist nur am Rande und in summarischer Form behandelt werden. Während klassische Einführungen in Rechtsphilosophie und -theorie[4] den Schwerpunkt in der Regel auf eine ideengeschichtliche Abhandlung legen, werden im folgenden zeitgenössische Theoriekonzeptionen vor dem Hintergrund der aktuellen Problemlagen vorgestellt. Das umfasst ein breites Spektrum Disziplingrenzen transzendierender, nicht immer personalisierbarer Ansätze – seien sie rechtsphilosophisch (Brandom, Davidson, Derrida, Habermas, Lyotard, Maus), rechtspolitisch (critical legal studies, deliberative Theorien, feministische Rechtstheorien, Foucault, Postmaterialismus, Wiethölter), rechtssoziologisch (Bourdieu, Jessup, Koh, Ladeur, Luhmann, Teubner, Weber), rechtsgeschichtlich (Postkolonialismus, Fögen), rechtsökonomisch (Calabresi, Coase, Posner) oder rechtspsychologisch (Freud, Lacan, Legendre) geprägt.

Die sogenannten postmodernen Theorien mit ihrer Radikalisierung der mit Ferdinand de Saussure und Ludwig Wittgenstein verbundenen linguistischen Wende bilden einen wichtigen Teil dieser neuen Rechtstheorien[5]. Das Buch beschränkt sich allerdings nicht exklusiv auf die Theorien der Postmoderne, sondern wählt einen breiteren Zugang, indem daneben auch solche Theoriebildungen vorgestellt werden, die sich zum Teil unter expliziter Wendung gegen die Konzepte der Postmoderne den aktuellen Herausforderungen stellen.

Den an Theoriefragen Interessierten soll im Folgenden in erster Linie ein konziser und pointierter Einstieg in die heterogene Literatur aktueller Arbeiten über Grundfragen des Rechts geboten werden. Wer einen Überblick über diese Theoriearbeiten gewinnen will, ist bislang darauf angewiesen, die rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Zeitschriften zu durchsuchen. Vielfach finden Diskussion und Kritik außerhalb der juristischen Literaturlandschaft in philosophischen, soziologischen und psychologischen Zeitschriften statt. Einige der postmodernen Theorien sind dabei fast ausschließlich über französisch- bzw. englischsprachige Zeitschriften zugänglich; mit anderen Worten; ein Teil der maßgeblichen Wissenschaftsdiskurse wird außerhalb des deutschen Sprachraums geführt. Ziel der Beiträge dieses Bandes ist darum, mit dem Stand dieser Diskussionen vertraut zu machen, einen Zugang zu Primär- und Sekundärquellen der jeweiligen Arbeiten zu eröffnen, für die aktuellen Fragestellungen der (post)modernen Theorien zu interessieren und zum kritischen Umgang mit ihren Rechtskonzeptionen einzuladen.

|3|A. Theorie im Recht

Die Auswahl der Beiträge für diesen Band folgt nicht der traditionellen Einteilung in Rechtsphilosophie, Rechtsmethodik und Rechtstheorie. Die Konzepte der vorgestellten Theorieströmungen und Referenzautor*innen passen nicht in die üblichen Schemata. Ihre Analysen haben ein Recht zum Ausgangspunkt, das in gesellschaftliche Verhältnisse verwoben ist und dessen Strukturen sich in ständiger Wechselbeziehung zu seinen sozialen Umwelten entwickeln, stabilisieren und rekonfigurieren.

Die Produktion von Theorie im Recht ist der rechtlichen Dynamik nachgeordnet, aber doch unverzichtbar. Denn um seine Selbstreproduktion gewährleisten zu können, braucht Recht Kontakt zu seinem gesellschaftlichen Außen und muss darüber hinaus seine eigenen Umweltbeziehungen, Funktionsbedingungen, Leistungsmöglichkeiten und Grenzen reflektieren. Das verkürzte Wissenschaftsverständnis, das in den letzten Jahrzehnten in der Rechtsdogmatik vorherrschte, hat sich hingegen beharrlich an den Konjunkturen des Tagesgeschäfts und der Rechtsprechung orientiert. Eine solche Reduktion ersetzt Theorie durch »Praxisrelevanz« – ein Zustand, der zunehmend als unbefriedigend empfunden wird. Die Forderung, dass der Zugriff des Rechts auf die gesellschaftliche »Wirklichkeit« nicht länger theoretisch ungefiltert sein dürfe, sondern rechtlich reflektiert werden müsse, wird lauter[6].

Während in den herkömmlichen Schemata die Rechtsphilosophie vor allem den Kontakt zur allgemeinen Philosophie als Erfinderin aller Einzelwissenschaften hält, liegt bei der Rechtstheorie der Schwerpunkt im Kontakt mit den Nachbarwissenschaften wie Soziologie, Ökonomie, Linguistik, Medientheorie usw. Die juristische Methodik untersucht hauptsächlich die in der Praxis enthaltenen normativen Standards und formuliert bzw. präzisiert damit das Selbstverständnis der Praktiker*innen.

Dieses Modell hierarchischer Arbeitsteilung rechtlicher Reflexionstheorien geht nicht auf. Juristische Methodenlehre kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie die Verbindung zur philosophischen Argumentationstheorie und zur sprachlichen Reflexion in Linguistik und Medientheorie herstellt. Rechtsphilosophie ohne Bezug zu den politischen Wissenschaften, zur politischen Ökonomie und zur Soziologie wäre blind. Rechtstheorie kann ohne Berücksichtigung der Sozialtheorie und Sozialphilosophie nicht ernsthaft betrieben werden. Gerade diese gegenseitigen Verwicklungen machen deutlich, dass man die drei Bereiche juristischer Theoriebildung nicht trennen kann. »Die Spaltung«, anders gewendet, »in Jurisprudenz, Ökonomie, Politik, Soziologie, Geschichte und Philosophie ist im Urteil aller Kronzeugen tot, wissenschaftslogisch nicht zu halten«[7]. Der |4|vorliegende Sammelband verzichtet daher auf eine hierarchische Kategorisierung der Reflexionstheorien.

B. Gesellschaftliche Herausforderungen als Herausforderungen für die Rechtstheorie

Das Buch reagiert auf die starke Zunahme rechtlicher Theorieproduktion. Heute findet man in früher weitgehend theorieresistenten Bereichen, wie dem Internationalen Recht und dem internationalen Wirtschaftsrecht, plötzlich eine hektische Produktion neuer Theoreme. Auch im Gebiet des Europarechts, des Kartellrechts und des europäischen Zivilrechts stellt sich in der Konsequenz der vielen Rechtsreformen zur Anpassung des nationalen Rechts an internationale Märkte plötzlich ein Bedarf für Theorie ein. Dies ist Ausdruck eines sozialstrukturellen Wandels. Man könnte ihn grob als Übergang von der nationalen Industriegesellschaft zu globalisierten Produktionsnetzwerken beschreiben. Konkret betrifft dies vornehmlich zwei Bereiche: Einmal die neue mediale Infrastruktur des Rechts im Kontext der Zunahme der immateriellen Arbeit mit der leichten Verfügbarkeit von immer mehr Informationen im Hypertext des Rechts, die die Fragmentierungen im Innern des Rechts sichtbar machen. Gleichzeitig wird mit der Globalisierung auch das Recht von einem Sog erfasst, der zu immer schnelleren Umwälzungen seiner Regelungsmassen und Grenzen führt.

Traditionelle Rechtskonzeptionen und die darauf bezogene Einführungsliteratur bleiben in der Regel hinter der Komplexität dieser Probleme zurück. Das Recht wird im »alteuropäischen Denken« als Hierarchie von Normen oder Rechtsquellen begriffen. Dahinter steht die große Erzählung des einheitlich durchorganisierten und hierarchischen Nationalstaats, der seine Normen nach einem Top-down-Modell zu produzieren vorgibt. An der Spitze thront die Idee der Gerechtigkeit. Sie ist umgeben vom Adel der Prinzipien und blickt hinunter auf das Volk der Rechtsbegriffe. Man kann, wenn es einen Fall zu entscheiden gilt, immer von den Rechtsbegriffen zu den Prinzipien gelangen. Wenn diese Prinzipien nun untereinander im Streite liegen, nimmt man Zugriff auf die zentrale Idee der Gerechtigkeit. Daraus ergibt sich ein mehrstöckiges Gebäude, worin im obersten Stockwerk die Rechtsphilosophie residiert, welche die Frage beantwortet: »Was ist Recht?«. Im Stockwerk darunter sagt die juristische Methodik, wie das Recht angewendet wird, während im Erdgeschoss die Dogmatiker vorgegebene Rechtsinhalte am Fall erkennen. Das ist das Bauwerk des »alteuropäischen Rechtsdenkens«.

Die Fundamente dieses Bauwerks sind brüchig geworden[8]. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung und die Globalisierung des Rechts schaffen neue, |5|vielfältige Rechtsarenen sowie neue gesellschaftliche Akteur*innen jenseits der alten nationalstaatlichen Apparate. Es wird offensichtlich, was sich im Zeitalter der westlichen Nationalstaaten noch hinter der Fassade der Bürokratie verstecken konnte: dass die hierarchische Produktion des Rechts durch das Quasi-Subjekt Staat eine Selbsttäuschung der Moderne war[9]. Recht wird vielmehr von einer Multitude von Akteur*innen, Apparaten und Systemen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um dessen Bedeutung[10] permanent aufs Neue produziert. Heute geht es darum, das Recht als ein dynamisches System zu begreifen, das nicht einfach in einer hierarchischen Normstruktur schon vorgegeben ist, sondern hergestellt wird. Dies erfolgt in Rechtsverfahren, im Streit der Beteiligten, in richterlichen Begründungen, in Skandalisierungsprozessen, politischen Interventionen, insgesamt also in lokalen und globalen Netzwerken der Rechtskreation.

C. Schwerpunktsetzung des Sammelbandes

Die hier vorgestellten Theorieansätze stimmen darin überein, dass die Herausforderung der Gegenwart in den Widersprüchen der Moderne liegt, in der großen Sprachverwirrung, die sich aus einer radikalen Vervielfältigung unterschiedlicher kommunikativer Anschlusszusammenhänge und einem gesellschaftlichen Polytheismus ergibt, dessen Vielheit nicht einmal mehr durch zwanglos geführte Diskurse der Götter im Olymp zur Einheit domestiziert werden kann[11]. Aktuelle Rechtstheorien kreisen damit um etwas, das Jean-Francois Lyotard in das Begriffspaar litige und différend gebracht hat, Niklas Luhmann als Vielheit selbstreferentieller Systeme beschreibt und Jürgen Habermas unvereinbare Diskursuniversen nennt[12]. Wie nun kann man mit der Unverträglichkeit verschiedener Diskurs- oder Sprachwelten umgehen? Wie ist angesichts der globalen Rechtsfragmentierung noch die Einheit der Rechtsordnung zu denken?

In der Beantwortung dieser Fragen nehmen die neuen Theorieansätze in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Kontextualisierung unterschiedliche Perspektiven ein. Diese Perspektivenvielfalt kommt in der Kapitelgliederung des Buches zum Ausdruck. Die Beiträge sind in fünf Bereiche aufgeteilt – (1) Ausdifferenzierung von Recht und Politik; (2) Rechtsverständnisse; (3) Politik des Rechts; (4) Fragmentierung des Rechts; (5) Transnationaler Rechtspluralismus. Alle fünf Betrachtungsdimensionen überschneiden sich, und die vorgestellten Großtheorien |6|haben ihrem Anspruch nach zu allen fünf Themenkomplexen etwas zu sagen. Dennoch bietet sich eine solche – kontingente – Systematisierung an, um die Zentralaussage der Theorien deutlich hervortreten zu lassen. Denn der Heterogenität der gesellschaftlichen Grundannahmen korrespondiert eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung der jeweiligen Modellierung.

So sind die neo-kantischen Rechtstheorien von Jürgen Habermas und Ingeborg Maus (siehe hierzu den Beitrag von Peter Niesen und Oliver Eberl) wie auch das dekonstruktivistische Denken Jacques Derridas (Thomas M. Seibert), systemtheoretische Arbeiten in der Tradition Niklas Luhmanns und Gunther Teubners (Kolja Möller) und Theorien des Post-Juridischen (Hannah Franzki) von dem Bemühen geleitet, die Prozesse der Ausdifferenzierung von Recht und Politik, d.h. Trennung und Verknüpfung eigendynamischer Gesellschaftsbereiche, zu beschreiben. Die Einheit der Gesellschaft im Staat kann heute nicht mehr vorausgesetzt werden. Auch über die Definition des »Feindes« kann Homogenität in einer pluralistischen Gesellschaft nicht geschaffen werden. Selbst der Entwurf Rudolf Smends, wonach die Einheit des Rechts dadurch zustande komme, dass dieses ein »Wert- oder Güter-, ein Kultursystem« bilde[13], wird zunehmend unplausibel. Diese Utopie scheitert an der Unübersichtlichkeit und Vielfalt der Lebensverhältnisse. Die Gesellschaft bildet zwar einen einheitlichen Zusammenhang von Kommunikation, aber es gibt kein Ganzes, von dem aus man diese Einheit kontrollieren könnte. An die Stelle der Einheit tritt die Frage nach den Bedingungen von Vielfalt und danach, wie eine scheinbar holistische Totalität von einer radikaldemokratischen Allgemeinheit abgelöst werden kann. Im Recht tauchen diese Fragestellungen an zahlreichen Stellen auf, sie betreffen den Begriff des Rechts selbst, aber bspw. auch den Methodenstreit im deutschen Verfassungsrecht[14].

Die im Abschnitt Rechtsverständnisse vorgestellten Ansätze verbindet, dass sie die Rechtsform selbst anders als in klassisch systemischen Beschreibungen verstehen: Für postanalytische Ansätze (Jochen Bung und Markus Abraham), neuen Rechtsempirismus (Friedemann Vogel und Ralph Christensen), nachpositivistische (Nikolaus Forgó und Alexander Somek) sowie ästhetische Theorien des Rechts (Jörn Reinhardt und Eva Schürmann) ist die Rechtsform kein einheitliches System im Stufenbau nationaler Rechtsregeln und -prinzipien, sondern eine medial ausdifferenzierte soziale Form. So verstanden stellen sich die Fragen der Rechtskonstitution anders, ja radikaler als in klassischen Zugängen.

Die im Anschluss an diese Konzeptionen im Kapitel Politik des Rechts vorgestellten Autorinnen und Autoren bringen die blinden Flecke eines scheinbar unpolitischen Rechts zum Ausdruck, indem sie u.a. die gesellschaftlichen Kämpfe um Anerkennung[15] ins Zentrum ihrer Thematisierung stellen. Sie insistieren |7|darauf, dass das Recht kein neutrales Vermittlungsmedium ist, sondern immer auch eine »Technologie der Macht«, welche die gesellschaftlichen Institutionen und Subjekte erst produziert, die sie nur zu regulieren vorgibt. Weil jedoch zugleich eine instrumentalistische Auffassung abgelehnt wird, drehen sich die Auseinandersetzungen stets um das Verhältnis von rechtlicher Eigendynamik und Heteronomie. Die Konfliktizität des Rechts wird dabei insbesondere von der prozeduralen Rechtstheorie Rudolf Wiethölters (Andreas Fischer-Lescano und Gunther Teubner), den Critical Legal Studies (Günter Frankenberg), post-materialistischen Ansätzen (Sonja Buckel), der Rechtssoziologie Pierre Bourdieus (Soraya Nour) und der feministischen Rechtstheorie (Sarah Elsuni) analysiert, während die Arbeiten Michel Foucaults zur Gouvernementalität (Thomas Biebricher) die Frage aufwerfen, ob sich nicht längst eine »Biopolitik«, d.h. eine Machtform, die das Leben verwaltet, in den Nischen des formalen Rechts eingenistet hat oder sogar zu dessen verborgenem Fundament geworden ist.

Wenn man die Fiktion von Einheit und Homogenität der Gesellschaft aufgibt, tauchen neue Probleme auf: Wie können Koexistenz und Kooperation unterschiedlicher Sprach- und Lebensformen funktionieren? Die Frage nach Bedingung der Einheit wird ersetzt durch die Frage nach Bedingungen von Vielfalt. Problematisch wird ein Fundamentalismus, der behauptet, über die einzig richtige Lesart für den Text seiner Kultur zu verfügen. Denn er privilegiert seine eigenen Assoziationen und Kontexte, wodurch andere Lesarten unsichtbar werden. Die Tendenz zur Ausschließlichkeit und Absolutsetzung eigener Maßstäbe und Lesarten muss in einen friedlichen Wettstreit von Argumenten überführt werden, ohne dass schon zu sehen ist, wie dies geschehen kann. Hier stößt man auf das grundsätzliche Problem der Inkommensurabilität. Bei der Kollision unterschiedlicher Lebensformen oder sozialer Teilsysteme findet man zwar häufig eine Schnittmenge von Gemeinsamkeiten, aber eben nicht immer. Wenn eine solche Grundlage für die Verständigung nicht vorhanden ist, muss die Suche danach durch äußere Zwänge in Gang gesetzt werden. Hier stellt sich die Frage, was das Recht für die Lösung des Problems der Unverträglichkeit oder Inkommensurabilität leisten kann. Dies bildet den Kern des dritten Buchkapitels – Fragmentierung des Rechts – in welchem rechtsökonomische (Johan Horst), medientheoretische (Gianna Schlichte und Johannes Haaf) sowie neurowissenschaftlich (Malte-Christian Gruber) inspirierte Ansätze im Vordergrund stehen. Hier geht es um die Beschreibung und normative Einhegung gesellschaftlicher Fragmentierungsprozesse, die nicht nur Politik und Recht sondern in einem weitergehenden Sinn alle gesellschaftlichen Großbereiche, Kunst, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft etc. gleichermaßen betreffen.

Eine ähnliche, aber in Transnationalisierungstendenzen eingebundene Fragestellung haben diejenigen Theoriemodelle, die abschließend im Kapitel transnationaler Rechtspluralismus vorgestellt werden. Gerade systemtheoretische Arbeiten haben den Blick für die Radikalität weltgesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse geschärft. So richten sich die Analysen in dieser Tradition auch |8|zunehmend auf das Weltrecht aus, wie am Beispiel der transnationalen Rechtsprozesse (Felix Hanschmann und Tim Wihl) deutlich wird, deren Herausforderung für die Rechtstheorie darin liegt, dass sich in ihnen offenbar gesellschaftliche Fragmentierungsprozesse mit operativen »Interlegalitäten« im Weltrecht verbinden[16]. Interlegalität bedeutet dabei mehr als nur eine statische Vielfalt gegeneinander abgegrenzter normativer Ordnungen, wie sie in der klassischen Rechtssoziologie von Eugen Ehrlich, Santo Romano, Maurice Hauriou, Georges Scelle und Georges Gurvitch beschrieben wurden[17]. Das wäre nur eine Strategie der Ontologisierung sozialer Beziehungen. Stattdessen thematisieren die zeitgenössischen Ansätze eine dynamische Vielfalt von normativen Operationen. In diesen regen sich parallele Normsysteme unterschiedlicher Herkunft wechselseitig an, greifen ineinander und durchdringen sich, ohne in einer gemeinsamen Metasprache oder gar in gemeinsamen Werten und Prinzipien kulminieren zu können. Das »Recht in globaler Unordnung«[18] ist vielmehr ein heterarchisches Gebilde. Dies abzubilden ist Ziel der Konzeptionen des globalen Rechtspluralismus, dessen Verwobenheiten mit der imperialen Lebensweise des Globalen Nordens (Miriam Saage-Maaß und Carolijn Terwindt) und den postkolonialen Realitäten (Maxim Bönnemann und Max Pichl) in den beiden abschließenden Beiträgen des Bandes aufgezeigt werden.

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