Kitabı oku: «Next Energy», sayfa 3
Vernetztes Lernen
09.45 Uhr. Jan und Hanna steigen aus und halten Ausschau nach Joost, Frauke und Keno. Ein Blondschopf löst sich aus der Menschentraube vor dem Eingangsbereich und kommt ihnen entgegen. Keno bringt sie zu seinen Eltern und gemeinsam suchen sie freie Plätze in den Stuhlreihen, die vor einer kleinen Bühne auf dem Schulhof stehen. Nach einer kurzen feierlichen Begrüßung absolvieren die Schüler ihre erste Unterrichtsstunde in der neuen Schule. Keno greift nach seinem schmalen, robusten Rucksack. Darin befindet sich lediglich die „Schulmittel-Lern- und Schreibeinheit“ – ein handlicher Touchscreen, der sämtliche Bücher und Hefte ersetzt und von den Schülern kurz „Schumi“ genannt wird.
Können Technologien unsere Denk- und Lernweisen verändern?
Eltern und Verwandte sind eingeladen, die Schüler zu begleiten und sich die moderne Lernumgebung anzuschauen: große Räume, unterteilt durch transparente, schalldichte Wände. Diese Lernlandschaften ermöglichen das Lernen in kleinen, altersübergreifenden Gruppen.
Schon bald schlendern Jan, Hanna, Joost und Frauke zurück auf den Schulhof. „Mich wundert immer wieder, dass dieser moderne Unterricht so gut funktioniert“, bemerkt Jan kopfschüttelnd. „Wenn ich das richtig verstanden habe, kann Keno online am Unterricht teilnehmen, statt hierherzukommen.“ „Ja, aber nur ausnahmsweise und nur, wenn seine Leistungen stimmen“, entgegnet Joost. „Die Kinder sind ohnehin lieber hier – echte Gesellschaft macht eben mehr Spaß als virtuelle. Das war zu meiner Schulzeit nicht anders.“ „Stimmt“, murmelt Hanna und mustert ihn übertrieben streng, „wenn ich mich recht erinnere, war Spaß zeitweise so ziemlich das Einzige, das du in der Schule ernst genommen hast! Aber am Ende hat sich ja auch bei dir das Lernen im individuellen Tempo und in kleinen Gruppen bewährt.“
Bildung schafft Fortschritt, Fortschritt schafft Bildung
„Ich habe eben etwas länger gebraucht, bis ich wusste, was ich wollte“, gibt Joost freimütig zu. Technik faszinierte ihn, später auch die Frage, wie Technik die Welt verändert. Die individuelle Förderung seiner Interessen in der Schule brachte ihn schließlich auf den Weg: Er absolvierte ein Ingenieurstudium und reiste anschließend beruflich mehrmals nach Indien. Dort stellte er unter anderem fest, dass in Indien nicht nur an den Hochschulen, sondern auch an allgemeinbildenden Schulen virtuelle Lehrmethoden weit verbreitet waren.
Der Grund lag auf der Hand: Seit Jahrzehnten schon waren Informations- und Kommunikationsdienstleistungen wichtige Wachstumsträger der indischen Wirtschaft und sollten es aus Sicht der Regierung auch zukünftig bleiben. Dann legten wiederholt großflächige Stromausfälle Wirtschaft, Verkehr und öffentliches Leben lahm, und es wurde überdeutlich, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ohne eine zuverlässig funktionierende Energieversorgung gefährdet war. Sowohl IT- als auch Energiewirtschaft benötigten viele gut ausgebildete Fachkräfte. Junge, potenzielle Arbeitskräfte gab es zwar genug, aber nur ein kleiner Teil davon verfügte über einen ausreichend hohen Bildungs- oder Ausbildungsstand. Vor allem ärmere Bevölkerungsschichten auf dem Land hatten kaum Zugang zu entsprechenden Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten.
Es lag also im staatlichen und wirtschaftlichen Interesse Indiens, Bildungs- und Ausbildungsangebote in den Städten und auf dem Land gleichermaßen zu fördern. In Städten wie Neu-Delhi oder Mumbai wurden Schulen mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ausgestattet. Joost erfuhr, dass die konsequente Bildungsinitiative eines indischen Bundesstaates den anderen Bundesstaaten als Vorbild diente: Stadtschulen übertrugen ihren Fachunterricht online an immer mehr Partnerschulen auf dem Land, denn dort fehlte es an Fachlehrkräften. Als darüber hinaus kostenlose Schulmahlzeiten angeboten wurden, schickte selbst die ärmere Landbevölkerung ihre Kinder lange genug zur Schule, um einen Abschluss zu erlangen, der sie für eine Fachausbildung qualifizierte. Dieses Angebot weckte bei vielen die Hoffnung, der Armutsfalle nicht nur in den Großstädten entgehen zu können, und bremste so die Landflucht wirksam. Große Firmen unterstützten die Bildungsinitiative auf dem Land. Im Gegenzug durften sie außerhalb der Unterrichtszeiten die Informationsinfrastruktur der Schulen für die Aus- und Weiterbildung ihrer Arbeitskräfte nutzen.
Ähnliche kostengünstige Initiativen entstanden auch in Afrika, wo das traditionelle Bildungssystem kaum Schritt halten konnte mit den hohen Geburtenraten. Solche Bildungsinvestitionen – teilweise gefördert von den Industrieländern – erwiesen sich als Spirale nach oben und veränderten ganze Gesellschaften. Joost gerät regelmäßig ins Schwärmen, wenn er davon erzählt. Jan unterbricht ihn schließlich: „… und so überholten uns Indiens und Afrikas Wirtschaft im Galopp.“ „Na ja, ich glaube tatsächlich, dass sie auf dem bestem Wege sind“, entgegnet Joost, „aber keine Sorge: Bis jetzt hat unsere Wirtschaft vom Aufschwung in anderen Ländern meist profitiert. Bestes Beispiel ist doch die Firma, für die du arbeitest: Hauptsitz in Indien, Tochterfirmen in Deutschland und Amerika …“
Keno gesellt sich zu ihnen, seine erste Unterrichtsstunde an der neuen Schule ist beendet. Hanna ergreift das Wort: „Bleibt es dabei, dass Keno im September für eine Woche zu uns kommt?“ „Aber ja“, antwortet Frauke. Für Keno ist der Aufenthalt bei seinen Großeltern längst ausgemacht. „Können wir mit dem Segelboot rausfahren?“, hakt er bei seinem Großvater nach. „Aber sicher!“, freut sich Jan. Hanna erkundigt sich: „Aber verpasst du nicht zu viel Unterrichtsstoff, so kurz nach dem Schulstart?“ „Die Aufgaben erledige ich mit dem ‚Schumi‘, und am Unterricht kann ich doch virtuell teilnehmen“, erklärt Keno. „Lasst uns diesen Tag jetzt erst einmal angemessen feiern, für den Ernst des Lebens ist später noch Zeit genug“, schlägt Joost vor. „Worauf habt ihr denn Appetit? Ich reserviere uns am besten gleich einen Tisch. Unsere Küche bleibt nämlich heute kalt!“
2. KAPITEL
Wie funktioniert unser Energiesystem?
Donnerstag, 15. September 2050: den Energiedinosauriern auf der Spur
Wird in der Schule künftig noch vor allem Faktenwissen vermittelt? Oder rücken in einer stärker virtuellen Umwelt das echte Erleben und der Gedankenaustausch darüber in den Vordergrund?
„Setzt euch erst mal hin!“ Während sich die Zugtüren schließen, versuchen vier Lehrkräfte der Störtebeker-Zweitschule, Ruhe in die durcheinanderwuselnden Schüler zu bekommen. Keno ist mit insgesamt 40 Mitschülerinnen und Mitschülern auf dem Weg ins Museum Industriekultur in Osnabrück. Im Moment scheint das Reiseziel vergessen, alles dreht sich um die besten Sitzplätze an den Fenstern, um Rucksäcke, Jacken, Brotdosen, Trinkflaschen. Als der Zug leise aus dem Bahnhof rollt und merklich Fahrt aufnimmt, haben endlich alle einen Platz gefunden.
Kurz darauf bekommen die Schüler, aufgeteilt in Projektgruppen, verschiedene Themen für die heutige Exkursion zugeteilt. Kenos Gruppe soll im Museum besonders darauf achten, wie sich die Energietechnik über die Jahrhunderte verändert hat. Keno wirft einen kurzen Blick auf die Arbeitsunterlagen, die das Museum den Schülern auf dem Schumi zur Verfügung gestellt hat. Andere Gruppen bekommen andere Aufträge, sie sollen beispielsweise die damaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen unter die Lupe nehmen. Jede Gruppe soll später den anderen Gruppen von ihren Eindrücken und Erkenntnissen berichten.
Zentrale Ausstellungsstätte des Museums ist das 1871 errichtete Haseschachtgebäude der ehemaligen Steinkohlenzeche Piesberg. In der Maschinenhalle setzen sich zwei historische Dampfmaschinen in Bewegung und lassen den Boden erbeben. Sie treiben Maschinen über mächtige Lederriemen an und erwecken geräuschvoll Fräse, Bohrer und Drehbank einer historischen Metallwerkstatt zum Leben. Keno ist schwer beeindruckt von der altertümlichen Technik. Was Energie ist, wie man sie erzeugen und nutzen kann – diese Themen sind ihm vertraut, denn schon im Kindergarten und in der Erstschule wurden grundlegende Zusammenhänge vermittelt. Dennoch: Diese gewaltigen Dampfmaschinen aus nächster Nähe zu erleben ist etwas ganz Besonderes. Keno kennt aus seinem Alltag meist nur unauffällige Technik: leise, kompakte Fahrzeugantriebe, Haustechnik, die zumindest in den Wohnräumen nahezu unsichtbar ihre Dienste verrichtet; selbst Fabriken und die vielen kleinen Manufakturen in der Stadt fallen kaum auf, weil sie weder besonders laut sind noch unangenehme Emissionen verbreiten. Die Vorgänge im Inneren moderner Anlagen und Geräte sind unsichtbar; anders die riesigen Dampfmaschinen und die langen Treibriemen, die Energie über ratternde, knirschende Transporträder in die Metallwerkstatt und in benachbarte Hallen übertragen. Über versteckte Lautsprecher wird die Geräuschkulisse geschaffen, der die Arbeiter hier damals täglich ausgesetzt waren. Keno widersteht tapfer dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten.
Volldampf für erneuerbare Energien
Kenos Gruppe wird begleitetet von einem Museumsführer, einem sehr agilen Mittsechziger, der während des Rundgangs vor den Augen der Schüler schnell und geschickt in zeitgemäße Kostüme und dazu passende Rollen schlüpft. Noch in der Maschinenhalle erklärt er in Frack und Zylinder, wie er, der Fabrikeigentümer, durch die Dampfmaschinen zu Wohlstand gekommen und aufgestiegen sei „zum bedeutenden Arbeitgeber und äußerst wichtigen Bürger der Stadt“. Im Hintergrund der Halle sehen die Schüler geschäftige Arbeiter in einer holografischen Animation. Einige befeuern die Dampfmaschinen, andere arbeiten an Werkbänken. Die Arbeiter tragen Jacken und Hosen aus dunklen, groben Stoffen – im auslaufenden 19. Jahrhundert die Kleidung des einfachen Mannes.
Im Laufe des Tages erfahren die Schüler viel darüber, wie sich Energieversorgung, Industrie und Verkehr in den vergangenen 200 Jahren entwickelt haben. Dampf aus großen Kohlekesseln trieb lange Zeit nicht nur Maschinen, sondern auch Züge und Schiffe an. Auf dem Außengelände des Museums entdecken die Kinder alte Loks. Als Kenos Gruppe sich einer Dampflok nähert, einem gusseisernen Ungetüm mit Schornstein und zwei runden Scheinwerfern, startet der Museumsführer eine weitere 3D-Animation. Unauffällig legt er Zylinder und Frack ab und wird mit Uniformjacke und roter Mütze zum Bahnhofsvorsteher. Ein schriller Pfiff ertönt, eine Dampffontäne schießt aus dem Schornstein. Der holografische Bahnsteig verschwindet samt winkenden Reisenden in einer Dampf- und Rauchfahne. Auch die Kinder stehen plötzlich überrascht in einer Dampfwolke. „Das ist nur künstlicher Dampf – den beißenden Rauch erspare ich euch“, sagt der Bahnhofsvorsteher.
„Haben die Leute auf dem Bahnsteig früher überhaupt noch Luft gekriegt?“, überlegt Sekou, Kenos Schulfreund. Zwei Mitschülerinnen versuchen zu erkennen, ob die feinen Mäntel und Hüte der eleganten holografischen Damen und Herren dreckig sind, nachdem der qualmende Zug den Bahnhof akustisch hinter sich gelassen hat. Ihr Museumsführer erklärt, was aus den Schornsteinen der Dampflokomotiven gequollen ist: Wasserdampf, Kohlendioxid, Ruß und weitere Luftschadstoffe. „Nicht gut fürs Klima“, fasst der als Bahnhofsvorsteher verkleidete Museumsführer zusammen, „aber das hat uns damals nicht interessiert. Für uns gab es nur das Wetter, Klimaveränderungen durch den Menschen waren noch kein Thema!“ Die Schüler wissen, wovon er spricht, denn der Treibhauseffekt ist ein immer wiederkehrendes Thema in ihrem Unterricht. (Den Klimawandel bremsen, Kapitel 4)
Keno und seine Mitschüler erfahren, dass Schienenfahrzeuge und Schiffe sehr lange mit Dampf angetrieben wurden. 2050 nutzen einige Kraftwerke heißen Dampf zur Stromerzeugung, allerdings wird der Dampf mit emissionsfreien oder klimaneutralen Energieträgern erzeugt. In Solarwärme- oder Geothermiekraftwerken treibt er große Turbinen an, deren rasend schnelle Umdrehungen in Strom umgewandelt werden. Selbst der abkühlende Dampf liefert Restwärme, die für andere Zwecke genutzt wird. Nach 2020, so erklärt der vermeintliche Bahnhofsbeamte, seien zahlreiche Solarkraftwerke in Südeuropa und Afrika errichtet worden. Ihr Strom werde in die nordafrikanischen Städte weiterverteilt und fließe heute teilweise bis ins weitverzweigte südeuropäische Stromnetz. „Im sonnenärmeren Norden Europas hingegen liefern Windparks an Land und auf See einen Großteil des Stroms“, fährt er fort. Überall stelle sich jedoch das gleiche Problem: Der wetterabhängig erzeugte Strom müsse gespeichert oder umgewandelt werden, damit er bedarfsgerecht zur Verfügung steht.
Einige Schüler laufen schon zur nächsten Lok, einer kantigen, gedrungenen Diesellok. Plötzlich ertönt ohrenbetäubendes Hupen, die Umstehenden zucken erschrocken zusammen. Die Diesellok scheint sich mit stampfendem Getöse in Bewegung zu setzen. Der Boden unter Keno erzittert, unvermittelt fährt ihm ein Windstoß aus einem verborgenen Ventilator ins Gesicht, als rausche der virtuelle Zug in hohem Tempo geradewegs an ihm vorbei. Dann verebbt der Lärm in der Ferne.
Zusammen mit seinem Freund Sekou und einigen weiteren Mitschülern nähert sich Keno schließlich dem Letzten der auf dem Freigelände ausgestellten Schienenfahrzeuge, dem Triebkopf eines elektrisch betriebenen Intercity-Express der ersten Generation. Im Gegensatz zu seinen historischen Vorgängern besitzt er eine rundliche Knubbelnase und eine glatte, hellgraue Außenhaut mit markantem rotem Seitenstreifen. Laut Museumsführer wurde der Triebwagen 1991 gebaut. Er ähnelt demjenigen, der die Schüler morgens nach Osnabrück gebracht hat. Die Ähnlichkeit ist dem Museumsführer zufolge jedoch nur äußerlich: Moderne Triebwagen und Züge sind deutlich leichter und windschnittiger, die Antriebstechnik verteilt sich mithilfe spezieller Achsen auf den ganzen Zug und ist so wesentlich energiesparender. 2050 übernimmt der Schienenverkehr einen erheblichen Anteil des Personen- und Gütertransports. Die Züge werden ausschließlich elektrisch angetrieben, sie fahren in hohem Takt, sind pünktlich, bequem und schnell. Das Zuggeräusch, das unvermittelt aus dem Soundsystem tönt, erkennen die Jugendlichen sofort wieder: Zuerst ein dumpfes Dröhnen, gefolgt von einem schrill ansteigenden Pfeifen, das sich mit zunehmender Fahrtgeschwindigkeit in ein Zischen verwandelt.
Mobilität mit eingebauter Vorfahrt
Das Museum präsentiert in seiner Sonderausstellung viele weitere Fahrzeuge, doch die Zeit wird knapp für Keno und seine Mitschüler. Deshalb schlägt der Museumsführer einen kurzen Abstecher in eine Ausstellungshalle mit historischen Automobilen vor. Sobald die Schülergruppe vor einem Oldtimer stehen bleibt, liefert er weitere zeitgenössische Informationen. Dabei schlägt er lässig das breite Fellrevers seiner Jacke hoch, schlüpft in Handschuhe aus hellem, weichen Leder, setzt eine lederne Fahrerkappe auf und schiebt eine dazu passende Schutzbrille auf seine Stirn.
Einige Modelle weiter entdeckt Keno ein niedriges, dreirädriges Zweimannfahrzeug mit seitlich aufklappbarer Glashaube. Es ähnelt einem der Mietfahrzeuge, in dem er zusammen mit Joost oder Frauke erst vor Kurzem unterwegs war. Auf einem kleinen Schild liest er: „Messerschmidt Kabinenroller, die ‚Zigarre auf Rädern‘, Baujahr 1952“. Er folgt dem Rennfahrer-Museumsführer und seinen Mitschülern durch die Ausstellung. Wie Keno es schon bei den Schienenfahrzeugen erlebt hat, scheinen sich die ausgestellten Autos durch eine jeweils zeittypische 3D-Szenerie zu bewegen.
Ein Stückchen weiter steht ein „Opel Diplomat, Baujahr 1972“. Der Motor des stattlichen Fahrzeugs gurgelt tief, während es scheinbar eine mehrspurige, stark befahrene Stadtstraße entlangfährt. Im Hintergrund ziehen endlose Reihen heller Wohnblöcke und schnörkelloser Betonbauten vorbei. Gedankenverloren vernimmt Keno: „… Nach dem Krieg waren dichte Hochhaussiedlungen an den Rändern der Städte errichtet worden, um dem akuten Wohnungsmangel zu begegnen … Luxuskarossen als Statussymbol … erste Ölkrise… Konkurrenz anderer Oberklassewagen-Hersteller…“ Ihm fallen die vielen Schilder auf, welche die Straßenränder säumen – Schilder ist er im Straßenbild Hamburgs nicht mehr gewohnt. Sie sind auch kaum mehr nötig: Zwar werden noch nicht alle Fahrzeuge über Funkdrähte in Leitplanken und Fahrbahnen vollautomatisch gelenkt, aber ausnahmslos zu ihrem jeweiligen Fahrtziel navigiert, sodass die Fahrer auf eine Beschilderung nicht mehr angewiesen sind. Wenn Keno per Zweirad unterwegs ist, setzt er seine Datenbrille auf – zumindest dort, wo er sich weniger gut auskennt.
Wieder reißt er sich später als seine Mitschüler los. Sie stehen inzwischen vor einem hohen, dunklen Wagen. Hier liest Keno: „Porsche Cayenne, Baujahr 2004“. In der 3D-Animation kämpft sich der bullige Wagen jedoch nicht durch unwegsames Gelände, sondern gleitet auf einer Autobahn durch eine flache, norddeutsche Landschaft. Die Fahrt endet abrupt: Die Warnblinker des Wagens leuchten auf, er bremst kräftig und kommt am Ende einer zweispurigen Fahrzeugschlange zum Stehen. Ein Stau. „… nur eines der zahlreichen Geländewagenmodelle, die als Statussymbol sehr beliebt waren … sachlich betrachtet für den Gebrauch auf dem flachen Land oder in der Stadt ungeeignet und überdimensioniert … 500 PS … stießen mehr als das Doppelte der damaligen durchschnittlichen Kohlendioxidmenge aus …“
Keno hat den Eindruck, als würden die ausgestellten Fahrzeuge mit jedem Jahrzehnt größer, schwerer, irgendwie unpraktischer. Warum nur? „Vielleicht konnte man einfach noch keine besseren Autos bauen“, vermutet er. Keno zuckt mit den Schultern. Die Erklärung erscheint ihm nahe liegend – schließlich hat die Animation gerade gezeigt, dass man damals offenbar nicht einmal staufrei hintereinander herfahren konnte. Den Elektro- und Wasserstofffahrzeugen auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges hat Keno bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt, zu groß war die Faszination der historischen Straßen-Dinosaurier. „Erste kommerzielle Brennstoffzellenfahrzeuge schon 1990 … Durchbruch erst drei Jahrzehnte später …“, schnappt er im Vorbeigehen auf, „… leichtere Bauweise, konsequenter Wechsel zu Karbon und neuen biotechnisch hergestellten Materialien …“
Das Jüngste der ausgestellten historischen Fahrzeuge stammt aus dem Jahr 2031. Angetrieben wird es mit Strom, der in einer Brennstoffzelle aus Wasserstoff hergestellt wird. Es hat eine transparente Rundkuppel und verfügt bereits über Sensoren, mit deren Hilfe Fahrzeuge einen konstanten Abstand zueinander einhalten können. „… dieses System trug, zusammen mit automatischen Lenksystemen, enorm zur Reduzierung von Staus bei … ermöglicht eine sichere und sparsamere Fortbewegung …“, erzählt gerade der Museumsführer.
Die 3D-Animation zu diesem Fahrzeug irritiert Keno zunächst: Im Hintergrund fällt der Schlot einer riesig wirkenden Industrieanlage in sich zusammen. Im Vordergrund scheinen Arbeiter und Kräne das Gewirr tausender Rohre zu demontieren. Keno erfährt: Hier wird eine ausgediente Ölraffinerie abgebaut. Erstaunt bemerkt er, dass der Museumsführer inzwischen moderne, dunkle Funktionskleidung und eine verspiegelte Datenbrille trägt. In der Animation fährt das ausgestellte Fahrzeug durch eine belebte Stadt, biegt schließlich ab auf eine Wasserstofftankstelle. Die Fahrt endet auf einem Carsharing-Parkplatz. Währenddessen kommentiert der Museumsführer für heute zum letzten Mal: „… so wirkten sich veränderte gesellschaftliche Ansprüche auch auf das Statussymbol Auto aus. Modelle, die Kriterien wie Bedien- und Fahrkomfort, Funktionalität oder Nachhaltigkeit nicht standhielten, fielen in der Gunst der Kunden. Der Schwenk der Politik hin zu einer emissionsabhängigen Fahrzeugbesteuerung verhalf klimaschonenden Antrieben zum Erfolg. Die Hersteller boten nicht nur neue Modelle, sondern auch neue Mobilitätsdienstleistungen, in denen das Auto weiterhin eine Rolle spielte – als flexibles Bindeglied innerhalb einer intelligent organisierten Mobilität. So ergänzen Autos heute andere Verkehrsträger sinnvoll. Vielen Dank!“
Die Schüler applaudieren und sammeln sich zum Aufbruch. Während sie per Elektrobus zum Bahnhof zurückfahren, hallen die lebensnahen Eindrücke des Museumsbesuchs in Kenos Kopf nach. Vor seinem inneren Auge spielen sich Szenen aus alten Filmen ab – so manches Fahrzeug aus dem Museum scheint wie geschaffen für eine aufregende Verfolgungsjagd durch die Großstädte vergangener Jahrzehnte. Doch Keno weiß natürlich, dass der Alltag damals meist nicht abenteuerlicher war als heute, dafür aber oft laut und umständlich. Im Grunde fühlt er sich in der heutigen Zeit besser aufgehoben. Wie der Alltag damals bloß funktioniert hat? Eine Welt, in der weder Menschen noch Dinge in der Lage sind, in Echtzeit zu kommunizieren, kann er sich kaum vorstellen.