Kitabı oku: «Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin», sayfa 4

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THOMAS PETERSEN
Wie antisemitisch ist Deutschland?

Ein neuer Antisemitismus?

Als am 9. Oktober 2019 ein Attentäter versuchte, in die Synagoge von Halle an der Saale einzudringen, um die dort zum Jom-Kippur-Gottesdienst versammelten Menschen zu ermorden, und, nachdem ihm dies nicht gelungen war, zwei Passanten auf der Straße erschoss, löste dies nicht nur Empörung und Entsetzen in Deutschland aus, sondern auch eine intensive öffentliche Diskussion um die Frage, ob der Antisemitismus in Deutschland zunimmt und ob man sich als Jude im Land noch sicher fühlen kann.1

Tatsächlich war der Anschlag von Halle zwar der mit Abstand schwerste, aber bei Weitem nicht der einzige antisemitische Vorfall in Deutschland in den letzten Jahren. Im April 2018 ging der israelische Student Adam Armoush, der aus einer arabischen Familie stammt, mit einer Kippa in Berlin spazieren. Die Kippa hatte ihm ein jüdischer Freund geschenkt mit dem Hinweis, er solle damit nicht auf die Straße gehen, denn das könne gefährlich sein. Armoush wollte das nicht glauben und das Gegenteil beweisen. Er irrte sich. In seinem eigenen Wohnviertel, dem vermeintlich so toleranten Prenzlauer Berg, kamen ihm junge Männer entgegen und beschimpften ihn als »Hurensohn«.2 Eine Videoaufnahme, die sich rasch im Internet verbreitete, zeigt, wie ein Mann unter ›Jehudi‹ (arabisch für ›Jude‹)-Rufen mit einem Gürtel auf ihn eindrischt.3

Dieser Vorfall machte die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, welchen Anfeindungen Juden in Deutschland heute ausgesetzt sein können. Die Zahl solcher Ereignisse ist nicht gering: Im Dezember 2017 war der israelische Restaurant-Besitzer Yorai Feinberg in Berlin-Schöneberg auf der Straße minutenlang beschimpft worden.4 Schulen berichteten über Übergriffe auf jüdische Schüler, oft von Mitschülern arabischer Herkunft.5 Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden Josef Schuster riet davon ab, in deutschen Großstädten die Kippa zu tragen.6 Allgemein scheint angesichts solcher Vorkommnisse der Eindruck vorzuherrschen, dass die Zahl der Übergriffe zunimmt. Die Zahlen des Bundesinnenministeriums sind in dieser Hinsicht allerdings nicht eindeutig: Im Jahr 2018 gab es in Deutschland 69 antisemitische Gewalttaten, davon 49 rechtsextremistisch motivierte. Das war im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren eine außergewöhnlich große Zahl, in den Vorjahren schwankten die Werte meist zwischen 30 und 40 mit insgesamt eher leicht abnehmender Tendenz, so dass sich noch nicht sagen lässt, ob die Zahl von 2018 eine Trendwende markiert oder nicht.7

Wichtiger als die Zahl der Gewalttaten – zumindest solange diese absolut betrachtet noch klein ist – ist aber das gesamtgesellschaftliche Klima, das, wenn es von einem zunehmenden Antisemitismus oder auch nur von einer wachsenden Akzeptanz antisemitischer Positionen gekennzeichnet wäre, judenfeindlichen Extremisten Schutz und scheinbare Rechtfertigungen für ihre Taten bieten und damit in Zukunft ein Sinken der Hemmschwelle und als Folge eine tatsächlich wachsende Gefährdung der jüdischen Bürger nach sich ziehen würde. So entstand aus gutem Grund unter dem Eindruck des Vorfalls von Prenzlauer Berg eine Debatte darüber, ob Deutschland mit der Zuwanderung Hunderttausender Menschen aus muslimischen Ländern ein wachsendes Problem mit ›importiertem‹ Antisemitismus bekomme.8 Gleichzeitig fehlte es aber auch nicht an Warnungen, wonach es unredlich sei, zu versuchen, das Problem den Einwanderern in die Schuhe zu schieben: Der Judenhass sei auch in der eingesessenen Bevölkerung nach wie vor weit verbreitet und nie überwunden worden.9

Der Nachhall des Dritten Reiches

Doch stimmt das? Eine aufschlussreiche Quelle sind hier die Repräsentativumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach, das seit seiner Gründung im Jahr 1947 praktisch von Anfang an auch den Nachklang der nationalsozialistischen Ideologie in der Gesellschaft einschließlich des mit ihr verbundenen Antisemitismus dokumentiert hat. Die erste Untersuchung zu diesem Thema stammt aus dem Frühjahr 1949.10 Diese und die nachfolgenden Umfragen aus den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik helfen, die derzeitige Lage einzuordnen. Sie bestätigen den Verdacht, dass der Antisemitismus in Deutschland nie verschwunden war, doch sie zeigen keine Hinweise darauf, dass er in der Gesellschaft als Ganzes in jüngerer Zeit zugenommen hätte, eher im Gegenteil.

Man kann annehmen, dass viele Menschen unter dem Eindruck der aktuellen antisemitischen Übergriffe dazu neigen, das Ausmaß des Antisemitismus in früheren Jahrzehnten zu unterschätzen. Dabei kann es eigentlich nicht verwundern, dass, wie die frühen Umfragen des Allensbacher Instituts zeigen, die nationalsozialistische Ideologie in der Bevölkerung noch viele Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus weit verbreitet war. Der Zusammenbruch des Regimes konnte nicht zur Folge haben, dass mit ihm auch das vorher über Jahrzehnte hinweg erlernte und eingeübte Weltbild gleichsam über Nacht verschwand. So konnte es nicht überraschen, dass in der erwähnten ersten Umfrage zum Thema Nationalsozialismus aus dem Jahr 1949 auf die Frage »Halten Sie den Nationalsozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde?« knapp 60 Prozent mit »Ja« antworteten.11 Und als das Institut im Jahr 1950 die Frage stellte: »Welcher große Deutsche hat Ihrer Ansicht nach am meisten für Deutschland geleistet?«, nannten immerhin noch zehn Prozent der Befragten spontan den Namen Hitler, der damit an zweiter Stelle der Rangliste stand, allerdings mit deutlichem Abstand hinter Bismarck (35%).12 1955 stimmte eine deutliche relative Mehrheit von 48 zu 36 Prozent der Aussage zu, ohne den Krieg wäre Hitler einer der größten deutschen Staatsmänner gewesen. 1978 war immerhin noch knapp jeder Dritte (31%) dieser Ansicht.13

Dieser Nachhall des Nationalsozialismus zeigte sich auch in den Einstellungen der Bürger gegenüber Juden. Im August 1949 wurde gefragt: »Was würden Sie als Ursache des Antisemitismus bezeichnen: die Eigenheiten jüdischer Volksgruppen, die jüdische Religion, die antijüdische Propaganda oder was sonst?« Eine klare Mehrheit von 53 Prozent der Befragten führte daraufhin den Antisemitismus auf die »Eigenheiten jüdischer Volksgruppen« zurück, vertrat also zugespitzt formuliert die Ansicht, die Juden seien an ihrer Verfolgung im Grunde selbst Schuld gewesen.14 Da war es nur folgerichtig, dass sich in derselben Umfrage gerade 54 Prozent der Befragten zu der Aussage durchringen konnten, dass Deutschland gegenüber den noch lebenden deutschen Juden eine Pflicht zur Wiedergutmachung habe. 31 Prozent widersprachen der These sogar ausdrücklich.15 Im Dezember 1952 vertraten 37 Prozent der Westdeutschen die These, es sei für Deutschland besser, keine Juden im Land zu haben,16 1960 sagte eine relative Mehrheit von 45 Prozent, sie wäre nicht damit einverstanden, wenn ein Jude Bundeskanzler werden sollte.17

Betrachtet man die Umfrageergebnisse aus den Gründerjahren der Bundesrepublik zusammengenommen, wird deutlich, dass radikaler Antisemitismus auch damals nur die Position einer Minderheit war, doch man kann vermuten, dass dies auch in Zeiten der Weimarer Republik und selbst während des Nationalsozialismus der Fall gewesen war. Es wird aber auch klar, dass es bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung, und zwar über das ganze politische Spektrum hinweg,18 eine Art vagen Antisemitismus gab, eine ganze Vielzahl von Vorurteilen gegenüber Juden, deren Wurzeln teilweise jahrhundertealt waren und die in der nationalsozialistischen Zeit bestärkt worden waren. So sagten beispielsweise noch 1960 immerhin 34 Prozent der vom Allensbacher Institut Befragten, an der Aussage »Die Juden sind oft Ausbeuter und leben von der Arbeit anderer«, sei »etwas Wahres dran«. Das gleiche meinten 30 Prozent zu der These »Wenn ein Jude etwas Gutes tut, dann tut er es meistens nur aus Berechnung.«19 Ein Jahr später sagten sogar 44 Prozent, es sei »etwas Wahres« an der Aussage: »Wo Juden das Geschäftsleben beherrschen, da kommt im Allgemeinen kein anderer mehr rein.«20 Bei weitem nicht jedem, der diesen Aussagen zustimmte, hätte man vorwerfen können, er sei allein deswegen als glühender Antisemit zu bezeichnen, doch man erkennt, wie weit noch Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus antijüdische Klischees verbreitet waren. Wenn es damals noch weniger Übergriffe gegenüber Juden gegeben haben sollte als heute (verlässliche Zahlen hierzu existieren nicht), dann nicht, weil es kein antisemitisches Potential in der Bevölkerung gegeben hätte, sondern vermutlich eher, weil die Zahl der Juden im Land und damit auch die Zahl der potenziellen Angriffsziele nach dem Massenmord durch die Nationalsozialisten äußerst klein war: Mitte der 1950er-Jahre lebten nach Angaben der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland weniger als 20.000 Juden in der Bundesrepublik, ab den 1960er-Jahren etwas mehr als 20.000. Heute liegt die Zahl nach einem erheblichen Zuzug seit der deutschen Einheit, vor allem aus Osteuropa, immerhin wieder bei knapp 100.000.21

Die Entwicklung der letzten Jahre

Verglichen mit den 1950er- und 1960er-Jahren ist der Antisemitismus in Deutschland heute gering. Zwar halten sich einige traditionelle Klischees über ›die Juden‹ recht hartnäckig in der Bevölkerung. Doch echten Judenhass empfindet anscheinend nur eine kleine Minderheit. Und vor allem: Er ist in den letzten Jahrzehnten eher seltener geworden. Dies zeigen die Ergebnisse einer größeren Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach zu diesem Thema vom Juni 2018.22

Auf die direkte Frage »Ist Antisemitismus, also Judenfeindlichkeit, heute bei uns ein großes Problem, oder sind das aus Ihrer Sicht Ausnahmefälle?« antworteten in dieser Umfrage die Befragten eher wenig besorgt. 23 Prozent meinten, es handele sich um ein großes Problem, eine klare Mehrheit von 58 Prozent glaubte, bei den in den Medien berichteten Übergriffen handele es sich um Einzelfälle. Erinnerte man sie an den Vorfall vom Prenzlauer Berg, fielen die Antworten der Befragten allerdings deutlich skeptischer aus: Nur 27 Prozent sagten, das sei ein Einzelfall gewesen, während 44 Prozent glaubten, der Angriff auf den jungen Mann mit Kippa sei ein Zeichen für weit verbreiteten Antisemitismus unter Menschen mit arabischer Herkunft in Deutschland.

Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Deutschen sich einer Auseinandersetzung mit dem Massenmord an den Juden im Nationalsozialismus verweigerten. Auf die Frage »Glauben Sie, das meiste, was über Konzentrationslager und Judenverfolgung berichtet wird, ist wahr, oder ist da vieles übertrieben dargestellt worden?« antworteten in der Umfrage von 2018 81 Prozent, ihrer Ansicht nach seien die meisten dieser Berichte wahr, lediglich 6 Prozent widersprachen. Auch der These, man würde zu viel mit den Verbrechen der Nationalsozialisten konfrontiert, stimmt die Mehrheit nicht zu. Eine Frage lautete: »Wird heutzutage im Radio und Fernsehen eigentlich zu viel oder zu wenig über die Judenverfolgung im Nationalsozialismus berichtet?« Gerade 26 Prozent antworteten auf diese Frage, es werde zu viel darüber berichtet, im Februar 1995 waren es noch 36 Prozent gewesen.23 Die gleiche Tendenz zeigen die Antworten auf die Frage, ob man so lange nach Kriegsende nicht mehr so viel über die Nazi-Vergangenheit reden und besser einen Schlussstrich ziehen solle. 45 Prozent vertraten 2018 diese Ansicht, 21 Prozent weniger als im Jahr 1986 (Abb. 1).

ABBILDUNG 1
Schlussstrich

Frage: »Kürzlich sagte jemand: ›Heute, über 70 Jahre nach Kriegsende, sollten wir nicht mehr so viel über die Nazi-Vergangenheit reden, sondern einen Schlussstrich ziehen.‹ Würden Sie sagen, der hat recht oder nicht recht?«


(1986: »… fast 40 Jahre«, 1995: »…fast 50 Jahre«, 2005: »…fast 60 Jahre«) An 100 fehlende Prozent: Unentschieden Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen Nr, 4068, 6012, 7068, 11086

Ein kleines, aber aufschlussreiches Detail in diesem Zusammenhang sind die ›Stolpersteine‹, kleine Messingplatten, die auf Initiative des Künstlers Gunter Demnig seit 1992 an vielen Orten in das Straßenpflaster eingefügt wurden und die an Menschen – meist Juden – erinnern, die an den betreffenden Orten gelebt hatten und von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurden. 58 Prozent der Deutschen hatten laut der Umfrage aus dem Jahr 2018 solche Stolpersteine schon gesehen, fast ebenso viele, 54 Prozent, sagten, sie hielten es für eine gute Idee, auf diese Weise an die Opfer des NS-Regimes zu erinnern, Lediglich 13 Prozent widersprachen.

Deutlich zurückhaltender zeigten sich die Deutschen dagegen, wenn es um die Frage ging, ob Deutschland Israel gegenüber eine besondere Verantwortung hat. Gerade 31 Prozent der Befragten stimmten dieser These zu, 41 Prozent widersprachen, wobei ein deutlicher Generationenunterschied zu beobachten war: Während 39 Prozent der 60-Jährigen und älteren Befragten die Ansicht äußerten, dass Deutschland für das Schicksal Israels eine besondere Verantwortung trägt, waren es bei den unter 30-Jährigen nur 22 Prozent (Abb. 2). Es spricht damit einiges dafür, dass es mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Nationalsozialismus für die Bundesregierung schwieriger wird, die Haltung zu vermitteln, wonach die Sicherheit Israels zur Staatsräson der Bundesrepublik gehöre.

ABBILDUNG 2
Besondere Verantwortung für Israel?

Frage: »Würden Sie sagen, Deutschland hat für das Schicksal Israels eine besondere Verantwortung, oder würden Sie das nicht sagen?«


Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr, 11086

Die Umfrageergebnisse aus dem Jahr 2018 enthalten keine Hinweise auf eine ausgeprägte oder gar steigende Judenfeindlichkeit in der Bevölkerung, eher im Gegenteil: Bei einer Frage wurde eine Liste mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen vorgelegt. Die Befragten wurden gebeten anzugeben, welche dieser Personengruppen sie nicht gerne als Nachbarn hätten. 77 Prozent sagten daraufhin, sie würden nicht gerne neben Drogenabhängigen wohnen, 75 Prozent nannten Rechtsextremisten, 73 Prozent Leute, die oft betrunken sind, 56 Prozent Linksextremisten und immerhin 28 Prozent Muslime. Juden wollten dagegen nur 5 Prozent nicht als Nachbarn haben. Im Jahr 1991 waren es noch 12 Prozent gewesen.24

ABBILDUNG 3
Eigenschaften von Juden und Muslimen

Frage: »Hier steht einiges, was uns andere Leute über Juden/Muslime gesagt haben. Welche Eigenschaften findet man denn Ihrer Ansicht nach besonders häufig bei Juden/Muslimen?« (Vorlage eines Kartenspiels) – Auszug aus den Angaben –


Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr, 11086

Gehalten haben sich allerdings – vermutlich größtenteils im Unterbewusstsein – manche alten Klischees von den Eigenschaften von Juden. Dies zeigen die Antworten auf eine Frage, bei der die Interviewer insgesamt 22 Karten überreichten, auf denen Persönlichkeitseigenschaften standen. Eine Hälfte der Befragten wurde gebeten, die Karten auszusortieren, auf denen Eigenschaften standen, die man besonders häufig bei Juden fände. Die andere Befragtengruppe wurde aufgefordert, die gleichen Eigenschaften Muslimen zuzuordnen.

Der Vergleich zwischen den Juden und Muslimen zugeordneten Eigenschaften ist sehr aufschlussreich. Beide Gruppen wurden von einer deutlichen Mehrheit als religiös (Juden 72, Muslime 81 Prozent) und traditionsbewusst bezeichnet (Juden 65, Muslime 73 Prozent). Doch dass sie erfolgreich im Geschäftsleben seien, meinten 66 Prozent der Befragten von den Juden und nur 18 Prozent von den Moslems. Auch Intelligenz und Fleiß wurden Juden wesentlich häufiger als Moslems zugeschrieben, ebenso Geldgier und Raffgier, während umgekehrt Muslime deutlich häufiger als Juden als radikal, unversöhnlich und rücksichtslos beschrieben wurden (Abb. 3).

Man kann nicht behaupten, dass die genannten Eigenschaften die Vorstellung der Juden bei den Deutschen dominieren, aber ein wenig schimmert in den Antworten der Befragten doch immer noch das Zerrbild vom gierigen, hinterhältigen Händler durch. Viele Befragte, die entsprechende Antworten geben, würden die Anschuldigung, sie hätten Vorurteile gegenüber Juden oder seien gar Antisemiten, empört und mit Recht zurückweisen. Doch Klischees dieser Art werden über Jahrhunderte tradiert und nisten sich ins Unterbewusstsein ein: Der stolze Spanier, der emotionale Italiener, der tiefsinnige Russe, der verschlagene Jude. Spuren dieser Vorstellungen finden sich in den Hinterköpfen vieler Bürger. Es bedarf vieler Zeit und Geduld, sie zu korrigieren.

Trotz solcher Spuren alter Vorurteile ist aber die Judenfeindlichkeit in Deutschland deutlich geringer als die Islamfeindlichkeit. Zählt man alle Prozentwerte der elf zur Auswahl gestellten negativen Eigenschaften zusammen und berechnet den Durchschnitt, erhält man bei Juden den Wert von 15, bei Moslems den von 27 Prozent (Abb. 4).

So lässt sich also festhalten, dass der Antisemitismus in Deutschland trotz der Vorfälle in letzter Zeit, bezogen auf die Bevölkerung insgesamt, nicht zu-, sondern eher abgenommen hat. Das bedeutet aber nicht, dass er kein Problem wäre. Deswegen lohnt es sich, der Frage nachzugehen, in welchen Bevölkerungsgruppen der Judenhass oder die mit ihm verbundenen Klischeevorstellungen besonders stark vertreten sind.

Traditionell erwartet man, dass die Vorbehalte gegenüber Juden vor allem am rechten Rand des politischen Spektrums besonders stark sind. Andererseits ist in der öffentlichen Diskussion wiederholt darauf hingewiesen worden, dass auch bei der politischen Linken erhebliche antisemitische Affekte vorhanden seien,25 oft verknüpft mit antiamerikanischen Einstellungen. Dies mag in manchen intellektuellen Kreisen der Fall sein, doch insgesamt ist der Antisemitismus in der Tat vorwiegend ein Phänomen der politischen Rechten. Durchgängig zeigt sich in den Umfrageergebnissen, dass die Urteile über Juden bei den Anhängern der AfD deutlich negativer ausfallen als bei den Anhängern aller anderen Parteien. Ein Beispiel hierfür bietet eine Frage, bei der die Theorie von der ›jüdischen Weltverschwörung‹ in einer vorsichtigen Formulierung angesprochen wurde. Sie lautet: »Wenn jemand sagt: ›Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss.‹ Würden Sie sagen, das stimmt, oder das stimmt nicht?«

ABBILDUNG 4
Eigenschaften von Juden und Muslimen – Durchschnittswerte

Frage: »Hier steht einiges, was uns andere Leute über Juden/Muslime gesagt haben. Welche Eigenschaften findet man denn Ihrer Ansicht nach besonders häufig bei Juden/Muslimen?« (Vorlage eines Kartenspiels)


Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr, 11086

22 Prozent der Befragten stimmten 2018 der These zu. Bei den Anhängern der Parteien schwankte der Wert zwischen 16 (SPD) und 20 Prozent (Die Linke). Lediglich die Anhänger der AfD fielen vollkommen aus dem Rahmen: Sie vertraten zu 55 Prozent die Ansicht, Juden hätten auf der Welt zu viel Einfluss. Hier trennt ein tiefer Graben die AfD-Anhänger von denen der anderen Parteien (Abb. 5).

ABBILDUNG 5
Die ›jüdische Weltverschwörung‹

Frage: »Wenn jemand sagt: ›Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss.‹ Würden Sie sagen, das stimmt, oder das stimmt nicht?«


An 100 fehlende Prozent: Unentschieden Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr, 11086

Auch bei einer analog formulierten Frage, ob Muslime auf der Welt zu viel Einfluss hätten, sonderten sich die AfD-Anhänger von den anderen Befragten ab: Sie stimmten zu 54 Prozent der These zu, während es bei den Anhängern der anderen Parteien zwischen 22 und 35 Prozent waren. Man erkennt, dass Judenfeindlichkeit heute in vielen Fällen mit Moslemfeindlichkeit einhergeht. Sie ist damit letztlich ein Aspekt allgemeiner Fremdenfeindlichkeit – wenn auch einer mit einer besonders langen und besonders grausamen Vorgeschichte.

1 Siehe z. B.: ANNETTE GROSSBONGART; TOBIAS RAPP; ANTONIA SCHÄFER: Der neue alte Hass. In: Der Spiegel, Nr. 42 vom 12. Oktober 2019, S. 18-21. RICHARD C. SCHNEIDER: »Diese lächerlichen Mahnwachen vor Synagogen«. In: Die Zeit, Nr. 43 vom 17. Oktober 2019, S. 2. FREIA PETERS: »Warum machen Leute sowas, Mama?« In: Welt am Sonntag Kompakt, Nr. 41 vom 13. Oktober 2019, S. 6-8.

2 Vgl. ANNABEL WAHBA: Zündstoff. In: Zeitmagazin, Nr. 49 vom 28. November 2018. https://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/49/adam-armoush-antisemitismus-gewalt-diskriminierung-geschichte/komplettansicht [19. November 2019].

3 https://www.youtube.com/watch?v=xomjT-16svc [19. November 2019].

4 Vgl. ALEXANDER FRÖHLICH: 31 Seiten Hass gegen israelischen Gastronomen Yorai Feinberg. In: Der Tagesspiegel vom 10. Juli 2018. https://www.tagesspiegel.de/berlin/antisemitismus-in-berlin-31-seiten-hass-gegen-israelischen-gastronom-yorai-feinberg/22783246.html [19. November 2019].

5 Vgl. WALTER BAU: Kirche alarmiert: Mehr Übergriffe auf jüdische Schüler. In: Berliner Morgenpost vom 15. Dezember 2017. https://www.morgenpost.de/politik/article212861431/Kirche-registriert-mehr-Uebergriffe-auf-juedische-Schueler.html [19. November 2019].

6 Vgl. Zentralrat der Juden rät vom Kippa-Tragen ab. In: Zeit online vom 24. April 2018. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-04/zentralrat-der-juden-josef-schuster-kippatragen-grossstaedte-warnung [19. November 2019].

7 Vgl. die Daten auf der Internetseite des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat. https://www.bmi.bund.de/SiteGlobals/Forms/suche/expertensuche-formular.html;jsessionid=7137C2C6DBA2E5C845181DEACE56602D.2_cid364?nn=9388812&resourceId=9389478&input_=9388812&pageLocale=de&templateQueryString=antisemitische+Gewalttaten&submit.x=0&submit.y=0 [19. November 2019]. Übersichtliche grafische Darstellung in GROSSBONGARDT/RAPP/SCHÄFER 2019, S. 20.

8 Vgl. z. B. GROSSBONGARDT/RAPP/SCHÄFER 2019, S. 21-22.

9 Vgl. ebenda, S. 20.

10 INSTITUT FÜR DEMOSKOPIE ALLENSBACH: Das Dritte Reich. Eine Studie zu den Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Allensbacher Archiv, IfD-Bericht Nr. 6.

11 Die Dokumentation zur Umfrage weist keinen eindeutigen Wert aus. Sie gibt den Anteil für die unter 30-Jährigen und die Befragten ab 50 Jahren mit jeweils 60 Prozent an, für die 30- bis 50-Jährigen mit 54 Prozent, bietet aber keine Information darüber, wie stark die betreffenden Altersgruppen in der Gesamtstichprobe vertreten waren. Der tatsächliche Wert dürfte ungefähr bei 58 Prozent liegen. Ebenda, Tabelle 3 (hinter S. 22).

12 ELISABETH NOELLE; ERICH PETER NEUMANN (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968-1973. Allensbach [Verlag für Demoskopie] 1974, S. 200.

13 ELISABETH NOELLE-NEUMANN; EDGAR PIEL (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978-1983. München [Saur] 1983, S. 191.

14 ELISABETH NOELLE; ERICH PETER NEUMANN (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955. Allensbach [Verlag für Demoskopie] 1956, S. 129.

15 Ebenda, S. 130.

16 ELISABETH NOELLE; ERICH PETER NEUMANN (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-1964. Allensbach [Verlag für Demoskopie] 1965, S. 218.

17 Ebenda.

18 Vgl hierzu die nach Parteianhängerschaft ausgewiesenen Ergebnisse zur Akzeptanz eines jüdischen Bundeskanzlers in ebenda.

19 Ebenda, S. 216.

20 Ebenda, S. 217.

21 Vgl. Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland: Mitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland 1955-2016. https://fowid.de/meldung/mitglieder-juedischer-gemeinden-deutschland-1955-2016 [20. November 2019].

22 Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 11086. Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, stammen die im Folgenden präsentierten Umfrageergebnisse aus dieser Untersuchung.

23 Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 6012.

24 Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 5055.

25 Vgl. GROSSBONGARDT/RAPP/SCHÄFER 2019, S. 22.

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