Kitabı oku: «Orient im Umbruch»

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Klaus Gallas (Hg.)

ORIENT IM UMBRUCH

mitteldeutscher verlag

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2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954623785

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Klaus Gallas, Udo Steinbach

Ost und West, Islam und Christentum: Zusammenprall zweier Zivilisationen?

Ulrich Tilgner

Afghanistan – Politik der Scheinheiligkeit

Bernd Erbel

Ägypten oder Die Krise als Dauerzustand

Bernd Erbel

Iran zwischen falscher Wahrnehmung, Sanktion und erhoffter Entspannung

Ulrich Tilgner

Irak – Alltag mit Krieg und Terror

Heiko Flottau

Zeiten im Wandel – Israels Anspruch auf eine ethnische Demokratie

Heiko Flottau

Kein Frühling in Sicht – die erkaufte Legitimierung in Saudi-Arabien

Muriel Asseburg

Die syrische Tragödie – vom zivilen Protest zum Bürgerkrieg

Hardy Ostry

Mit Ausnahme Tunesiens

Yaşar Aydın

Türkei: AKP in der Tradition der autoritären Staatsführung – eine antidemokratische Kehrtwende mit Folgen

Jochen Bittner

Glasnost in Teheran – warum der Iran der Schlüssel für eine neue Nahost-Politik Amerikas und Europas sein könnte

Margarete Klein

Russland und der Arabische Frühling

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Nach drei Jahren Bürgerkrieg mit mehr als 130.000 Toten, etwa 2,3 Millionen Flüchtlingen und mehr als 9,3 Millionen Menschen, die zum Jahreswechsel 2013/14 humanitäre Hilfe benötigten, und den wenig hoffnungsvollen „Friedensgesprächen“ (zuletzt in Montreux ab 22. Januar 2014 – ohne Iran!) ist die Öffentlichkeit entsetzt über die Ohnmacht und Hilflosigkeit der Politik Europas und der USA. Das syrische Volk schreit um Hilfe und nach Unterstützung für den Sturz des Baschar-al-Assad-Regimes. Gleich einem Flächenbrand greift der Hunger nach Selbstbestimmung und Freiheit in der arabischen Welt um sich. Kaum einer versteht noch die Zusammenhänge, weder die Europäer noch die Araber und Iraner (die keine arabische Ethnie sind!). Ängste vor unseren islamischen Mitbürgern werden gezielt gesteuert – teilweise entsteht sogar ein Feindbild. Dabei haben Islam und Christentum in Geschichte, Kultur und Religion viele Gemeinsamkeiten, stehen sich europäische und arabische Länder näher als gemeinhin angenommen wird. Gefordert ist eine „Schutzverantwortung“, die Bundespräsident Joachim Gauck auf der 50. Münchner Sicherheitskonferenz forderte: „Aber wenn schließlich der äußerste Fall diskutiert wird – der Einsatz der Bundeswehr –, dann gilt: Deutschland darf weder aus Prinzip ‚nein‘ noch reflexhaft ‚ja‘ sagen.“ Angesichts der Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung und Folter, der systematischen sexuellen Gewalt gegen Frauen und dem dramatischen Flüchtlingselend in Syrien und all den anderen Regionen, wo sich der Orient im Umbruch befindet, ist höchste verantwortliche Diplomatie gefordert, ein Nichteinmischen ist unmoralisch! Hilfstransporte für die hungernde Bevölkerung werden gehindert, ihr Ziel zu erreichen. Der Hunger wird als Waffe von den Konfliktparteien eingesetzt. Gleichermaßen werden Frauen in Tunesien, Libyen und Ägypten geschändet, durch Jungfrauentests demoralisiert und immer stärker aus der Öffentlichkeit ausgegrenzt. Die Politik muss handeln! Zu spät ist es, einzugreifen, wenn es schon brennt … Friedensbemühungen im Vorfeld sind erforderlich, um der Bevölkerung Hilfe zur Selbstbestimmung zu ermöglichen. Aber: Waffen sind kein Garant für Frieden oder Demokratie! Wenn aber eine Regierung die „responsibility to protect“ („Schutzverantwortung“) für die eigene Bevölkerung nicht mehr garantieren kann oder will, sie bewusst das eigene Volk mit Terror, Mord und Hunger überzieht, dann sind politische Maßnahmen der Weltpolitik gefordert.

„Militärische Zurückhaltung“ darf jedoch nicht missverstanden werden, wie dies Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier im SZ-Interview vom 31. Januar 2014 ausführt: „So richtig eine Politik militärischer Zurückhaltung ist, so darf sie nicht missverstanden werden als eine Philosophie des Heraushaltens. Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur zu kommentieren. Es geht um tätige Außenpolitik: Es wird zu Recht von uns erwartet, dass wir uns einmischen und mit unseren Möglichkeiten die Bearbeitung von Konflikten so frühzeitig wie möglich angehen … Es ist das moderne Dilemma der Außenpolitik, dass sie dem medial diktierten Rhythmus nicht folgen kann. Zur Entschärfung des Iran-Konflikts wurde zehn Jahre lang verhandelt. Und Politik muss erklären, warum. Sie muss sagen, wenn wir trotz öffentlicher Empörung und Erwartung nicht helfen können. Auch diese Selbstaufklärung gehört zu erwachsener Außenpolitik … Außenpolitik kann und muss mit Widersprüchen leben. Der Umgang mit der Assad-Frage ist so ein Widerspruch. Einerseits bleibt das Ziel eine Übergangsregierung ohne Assad. Auf der anderen Seite müssen wir mit seinen Leuten reden, um für die Menschen in Homs und anderswo humanitäre Erleichterungen zu erreichen. Es geht um viel: Wenn uns nicht eine Beruhigung der Situation gelingt, dann könnte jegliche staatliche Ordnung von Syrien über den Irak bis zum Libanon erodieren. Drei zerfallende Staaten und eine endlose Folge von ethnischen und religiösen Bürgerkriegen wären eine Katastrohe, deren Auswirkungen sich nicht auf den Mittleren und Nahe Osten beschränken würden.“

Diese Schriftensammlung von Expertinnen und Experten verschiedener Länder Nordafrikas, des Mittleren und Vorderen Orients möchte den Lesern eine fundierte sachliche Analyse vorstellen, so dass sie die vielschichtigen politischen Entwicklungen in der arabischen Welt und in Iran einigermaßen nachvollziehen und verstehen können. Wie kam es zu dem „Arabischen Frühling“? Welche Auswirkungen hat er auf die Politik der Länder Nordafrikas und des Mittleren und Vorderen Orients, auf Russland, Europa und die USA? Wird es in diesen Ländern eine Demokratisierung geben, oder wird sich im Iran zum Beispiel eine ganz neue Staatsform entwickeln? Wie können Schiiten und Sunniten, Salafisten und Muwahhidun aus Saudi-Arabien zu einer Versöhnung finden? Oder werden die Muwahhidun in Saudi-Arabien dem Wandel des politischen Umfelds Rechnung tragen müssen? Begreift Saudi-Arabien, der Clan der Monarchen-Familie Saud, dass die alte Politik des Scheckbuchs nicht mehr lange greifen wird, um ihren Machterhalt zu sichern? Wie lange noch muss Palästina auf sein angestammtes Recht eines international anerkannten Staates warten?

All diese Fragen können in diesem Buch nicht beantwortet werden. Die Beiträge in diesem Buch zielen jedoch darauf ab, die Leser mit den Fakten dieses weltweiten Konfliktes zu konfrontieren. Sie sollen sie sensibilisieren, damit sie den Mut als Bürger aufbringen, nicht wegzuschauen, und sie sollen verstehen, dass Deutschland in der Weltpolitik eine moralische Verantwortung hat, die zum Handeln verpflichtet … Eine Option wäre (nachdem alle diplomatischen Schritte ergebnislos geblieben sind!), dass das Eingreifen in die „inneren Angelegenheiten“ eines Staates unter ganz bestimmten Voraussetzungen zur Rettung des jeweiligen Volkes durch eine UN-Resolution international bindende Wirkung erhält und legitimiert wird.

Weimar im Februar 2014

Klaus Gallas

Klaus Gallas/Udo Steinbach

Ost und West, Islam und Christentum: Zusammenprall zweier Zivilisationen?

In der Vergangenheit waren Religionen und Kulturen in der arabischen Welt und im Iran meist dann ein Thema, wenn sie mit dem kolonialen bzw. imperialen Expansionsdrang der Europäer in Berührung kamen. Das Zeitalter des Imperialismus wurde durch den Ost-West-Konflikt abgelöst; die – vielfach neuen – staatlichen Akteure ordneten sich nach politischen Interessen und ideologischer Orientierung jeweils einer bestimmten Macht zu. Religiöse und/oder kulturelle Eigenheiten spielten bei der Entscheidung, für welchen politischen Partner man sich entschieden hat, eine eher nachgeordnete Rolle. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat die Grundlagen der internationalen Ordnung tiefgreifend verändert. Dabei sind zwei weltweite Trends festzustellen, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen: Auf der einen Seite bestimmt die Suche nach der unverwechselbaren kulturellen Identität die Entscheidung, mit wem man sich verbündet, die Rückbesinnung auf die Grundlagen und Inhalte der eigenen Tradition scheint von Bedeutung. Sie verbindet sich mit dem Bemühen, die politische Zugehörigkeit im internationalen System neu zu bestimmen. Auf der anderen Seite bestimmen die dramatische Verdichtung der globalen Kommunikation und die Vernetzung der Wirtschafts- und Finanzströme, deren größte Potenziale im Westen, d. h. in den USA und Europa, liegen, das heutige politische Geschehen. Die Globalisierung zwingt nichtwestliche Kulturen dazu, Anpassungsprozesse zu vollziehen.

Doch auf welche Weise wird es nichtwestlichen Kulturen gelingen, die eigene kulturelle Identität zu bewahren und sich gleichzeitig mit dem notwendigen Modernisierungsdruck in ein konstruktives Gleichgewicht zu bringen? Müssen die arabische Welt und der Iran die vom Westen geprägten kulturellen Werte gezwungenermaßen übernehmen, um an der Globalisierung und den Wirtschaftserfolgen teilhaben zu können?

Die Neugestaltung der Beziehungen zwischen einem Europa, das sich immer nachdrücklicher ausprägt, und der islamisch geprägten Welt in seiner näheren und ferneren Nachbarschaft, ist eine der großen politischen Aufgaben der Zukunft. Sie hat viele Facetten, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Hier sei lediglich festgestellt, dass der Islam bereits eine europäische Tatsache ist – er ist ganz einfach „da“! Zum einen als Teil des geografischen Europa – dies in dem Sinne, dass Albanien und Bosnien-Herzegowina, auf „europäischem Boden“ gelegen, nach dem Verfall der sozialistischen Ideologie wieder als mehrheitlich muslimisch in Erscheinung treten. Weiter bleibt die Frage nach der Zugehörigkeit der Türkei noch unbeantwortet, deren Geschichte untrennbar mit den Muslimen in Albanien und Bosnien verbunden ist und die als „Kandidat“ auf die Vollmitgliedschaft in der EU selbst eine europäische Option hat. Zum anderen werden Muslime in wachsender Zahl Bürger in europäischen Gesellschaften. Der Islam – vornehmlich eine Folge der Migration – ist zur zweitstärksten Religion nach den beiden christlichen Konfessionen in Europa geworden. (In Frankreich ist die Zahl der Muslime mehr als vierfach höher als diejenige der Protestanten.) Die Zahl der Muslime in der EU ist in stetigem Wachsen begriffen.

Wohin also wird sich das Verhältnis des christlich geprägten Europa zu den Muslimen außerhalb wie innerhalb seiner selbst entwickeln? Kommt es zu dem prognostizierten „Zusammenstoß der Kulturen“? Sind die Grundlagen und das Grundverständnis von Mensch, Staat und Gesellschaft sowie Religion so fundamental voneinander verschieden, dass ein Ausgleich, d. h. ein nachbarschaftliches Zusammenleben und die Verständigung über politische und rechtlich-verfassungsmäßige Werte ausgeschlossen sind? Stehen christlich geprägte Werte den Ordnungsvorstellungen, die auf dem Wertesystem der islamischen Religion oder den „asiatischen Werten“ beruhen, unversöhnlich gegenüber? Bedeutet die immer wieder gehörte Berufung auf die Werte des „christlichen Abendlandes“ eine Ausgrenzung von Muslimen in europäischen Gesellschaften? Und wenn Unterschiede bestehen, wie können sie ausgeglichen werden? Oder sollten sie sich gar nicht assimilieren?

Durch die neue enge Nachbarschaftlichkeit eines sich verstärkt auf das christliche Abendland berufenden Europa auf der einen und einer sich wieder nachdrücklicher auf die eigenen Traditionen und Grundlagen beziehenden islamischen Welt auf der anderen Seite wird eine Wertediskussion angestoßen. Aber – so wird gelegentlich geargwöhnt – sind die Europäer, die die Religion nachhaltig aus dem politischen und gesellschaftlichen Raum herauszuhalten suchen, wirklich in der Lage, eine Wertediskussion mit Muslimen zu führen? Dieses Europa sei, so wird selbstkritisch festgestellt, in der Diskussion um Werte im gesellschaftlichen Raum, Muslimen nicht gewachsen. Muslime vermögen sich eine Gesellschaft ohne religiös gegründete Werte nicht vorzustellen. Andererseits stellen Muslime ihrerseits fest, dass die westliche Welt ihre Werte verloren habe und Europa damit für sie kein wirklicher Gesprächspartner sei. Tendenzen, sich aus einer derart „entwerteten Welt“ zurückzuziehen, und sich in eine eigene Parallelwelt zu begeben, ja diese wertelose Gesellschaft zu bekämpfen (im Extrem und bei einzelnen), sind erkennbar. Daraus ergibt sich: Kann es überhaupt eine gemeinsame Wertegrundlage geben, auf der der „Westen“ und die vom Islam geprägte Welt partnerschaftlich und respektvoll zusammenleben? Wo liegt die Brücke zwischen dem, was sich christlich abendländisch und jenem, was sich islamisch morgenländisch versteht? Dass es in der Wertediskussion auch zu seltsamen Allianzen kommen kann, zeigt die Annäherung zwischen dem Vatikan und konservativen islamischen Kreisen. Beide Seiten sehen allein schon in dem gemeinsamen Bestreben, religiös geprägte Wertvorstellungen wieder ins gesellschaftliche Leben einzubringen, Berührungspunkte.

Der Blick wird sich also vornehmlich auf jene Wertedimension richten, die angesichts einer zusammenrückenden Welt und des daraus resultierenden Zusammenlebens wichtig ist. Ausgangspunkt ist das Bild vom Menschen, seiner Stellung in der Gemeinschaft und im Staat. Daraus ergeben sich die Eigenheiten im Verständnis der Menschenrechte, der Demokratie sowie – damit zusammenhängend – der Dimension der Freiheit. Auf den Punkt gebracht werden die Betrachtungen schließlich mit dem Blick auf die Perspektiven des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen in europäischen Gesellschaften gerichtet sowie auf die Dimension der globalen Beziehungen, d. h. den Dialog zwischen den Kulturen bzw. den Zivilisationen.

Dabei kann ein essentialistisches Grundmuster der Argumentation nicht vermieden werden. Bei allen Differenzierungen, die sich in der Geschichte der „islamischen Welt“ und des „christlichen Abendlandes“ vollzogen haben, und bei den Konflikten, die sich innerhalb der vom Islam und Christentum geprägten Kulturräume ereigneten, haben sich Grundtatbestände ergeben, die die jeweiligen Zivilisationen noch heute prägend und elementar bestimmen! Faktoren und Problemstellungen haben sich herausgebildet, die den Menschen, seine Gesellschaft und die Religion betreffen. Sie haben den Geschichtsverlauf in den islamisch geprägten Kulturräumen und in Europa bestimmt. Dies wird nicht zuletzt auch in dem Dilemma deutlich, dem jeder gegenübersteht, der die beiden Großräume vergleicht. Im christlichen Abendland haben sich nach langen Auseinandersetzungen der religiöse und der politische Raum getrennt. Geblieben ist „der Westen“ – gleichsam die säkularisierte Variante des christlichen Abendlandes. Diese Entwicklung hat sich auf islamischer Seite (noch) nicht vollzogen: Auch wenn de facto weite Bereiche der gesellschaftlichen und politischen Existenz der Muslime säkular verwaltet wurden. Insbesondere im 20. Jahrhundert bemühte man sich in der vom Islam geprägten Welt nachhaltig um die Säkularisierung. Das Wesentliche der muslimischen Existenz ist das Aufeinanderbezogensein der Gemeinde und ihrer Rückbindung (religio) an die Transzendenz. Im Islam hat es keine Renaissance und keine Aufklärung gegeben, das ist zwar eine wenig abgegriffene, aber in der Substanz gleichwohl zutreffende Feststellung.

Das Christentum und den Islam verbindet in hohem Maße die gemeinsame Grundauffassung von der Würde des Menschen. In beiden Religionen steht der Mensch im Mittelpunkt des Schöpfungsakts. Allerdings tun sich dabei bereits unterschiedliche Akzente auf: Die christlich-jüdische Schöpfungsgeschichte betont die Gottähnlichkeit des Menschen. Damit geht die Aufforderung einher, sich die Erde „untertan“ zu machen. Im Koran wird demgegenüber wiederholt die gleichsam physiologische Dimension herausgestellt. So etwa in Sure 3,59: „Jesus ist [was seine Erschaffung angeht] vor Gott gleich wie Adam. Den schuf er aus Erde. Hierauf sagte er zu ihm: Sei!, da war er.“ An anderer Stelle wird von der Zeugung des Menschen aus dem Samentropfen gesprochen. Dieser bescheideneren Selbstauffassung des Menschen geht die Betonung einher, dass der Mensch „Stellvertreter“ (khalifa) sei: Dieser ist der Sachwalter Gottes auf Erden; damit ist er ipso facto auf Allah als Gesetzgeber und „Souverän“ bezogen. Gemein aber ist beiden Religionen wiederum die Betonung der Individualität des Menschen, die mit seiner Geschöpflichkeit (der Mensch wurde von Gott geschaffen) verbunden ist. Aus ihr ergibt sich naturgemäß auch am Ende die Verantwortung vor Gott, insbesondere mit Blick auf das Jüngste Gericht.

Menschsein, Individualität und Verantwortung stehen in beiden Religionen in unterschiedlichen religiösen und weltlichen Kontexten: Während der Islam die Erbsünde nicht kennt, die das menschliche Dasein nicht zuletzt unter dem Aspekt der Erlösung bestimmt, ist hingegen im Christentum der Mensch der Erlösung bedürftig! Ohne sie kann er des Heils nicht teilhaftig werden. Die Erlösung aber ist Ausfluss der Gnade Gottes, die der Mensch nicht zu beeinflussen vermag. Im Extrem findet sich diese Lehre in der Auffassung Luthers im Sinne, dass die Werke nichts seien, die Gnade aber alles sei. Der Mensch kann das Heil nicht aus sich heraus erlangen – was immer er tun mag. Er gibt sich auf Gedeih und Verderb der Gnade Gottes hin. Christus als Gottes Sohn ist als „Erlöser“ das Zeichen einer unendlichen Gnade Gottes.

Jenseits der Gemeinsamkeiten sollen die Unterschiede zwischen der islamischen und christlich geprägten Welt, zwischen Muslimen und Christen, ihren Gesellschaften und ihren Kulturen, nicht verwischt werden. Mit der Feststellung der Unterschiede aber ist zugleich eine Dynamik in Gang gesetzt. Denn heißt nicht verstehen auch manchmal so viel wie Unterschiede erkennen, das andere wie das eigene durch Unterscheiden besser kennenlernen? Das Verhältnis zwischen Kulturen und den ihnen zugrunde liegenden Religionen immer von neuem zu bestimmen muss das Ziel sein – dies um des tiefsten gemeinsamen Anliegens aller Religionen willen, die Würde des Menschen zu bestätigen und um zum Frieden beizutragen.

Um die Würde des Menschen ging es auch, als die Menschen 2010 mit himmelstürmendem Mut und mit Visionen einer gerechten Ordnung in Tunesien auf die Straßen gingen. Hoffnungsvoll begehrten sie nach Freiheit, enthusiastisch sprach man vom „arabischen Frühling“, der jedoch schon bald im Keim erstickt wurde. Gleich einem Flächenbrand scheinen sich die Ideen und Hoffnungen des „arabischen Frühlings“ in der islamischen Welt ausgebreitet zu haben, die über Jahrzehnte weithin unterdrückt wurden. Bis heute folgten nur menschenunwürdige Vergeltungen der Herrschenden. Syrien ist wohl das fürchterlichste Beispiel für die Exzesse des nun fast dreijährigen Bürgerkriegs.

Der Kampf der Syrer in ihrer Revolte hat viele Bezüge. Einer ist das Streben der arabischen Völker nach Unabhängigkeit und Freiheit seit dem Ende des Osmanischen Reiches. Diese erste arabische Revolte, die in den zwanziger Jahren auch Syrien erfasste, wurde vom Imperialismus europäischer Mächte unterdrückt. Die zweite arabische Revolte begann mit der Machtübernahme durch die Freien Offiziere in Ägypten und dem Sturz der Monarchie. Nahezu zwei Jahrzehnte lang veränderte sie die politische Landkarte des arabischen Raumes zwischen Algerien und Jemen. Am Ende verfingen sich die Protagonisten in den Fallstricken ihres überdimensionierten machtpolitischen Ehrgeizes, des Ost-West-Konflikts, des Israel-/Palästina-Konflikts, autokratischer Machtausübung und einer Entwicklungspolitik, die zu Selbstbereicherung und Cliquenwirtschaft sowie zu einer dramatischen Verschärfung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegensätze führte.

Die dritte arabische Revolte nahm den Faden dort auf, wo ihn die gescheiterten Akteure der zweiten Revolte hatten fallen lassen. Als sich Mohammed Azizi am 17. Dezember 2010 im trostlosen Flecken Sidi Bouzid aus Verzweiflung über die Entwürdigung seiner Person verbrannte, war dies ein Fanal an Millionen von Menschen, den Platz der arabischen Gesellschaften im 21. Jahrhundert neu zu bestimmen. Damit erwies sich zugleich, dass die Revolte ihren Stellenwert und ihre Rechtfertigung aus der Geschichte selbst heraus findet und dass der Aufbruch irreversibel ist. Es gibt keinen Ort in der arabischen Welt, der von der Bewegung nicht erfasst worden wäre.

Ein anderer Bezug der Revolte der Syrer ist in ihrer eigenen neueren Geschichte gegeben. Als die Baath-Partei 1963 – mitten in der zweiten arabischen Revolte – in Damaskus die Macht übernahm, schien damit für einen Augenblick ein Versprechen für ein neues Syrien gegeben zu sein. Aber schon die Art der Machtübernahme durch das Militär warf einen Schatten auf dieses Versprechen. Spätestens mit dem Coup durch Hafiz al-Assad 1970 und der Verabschiedung der Verfassung von 1973, in der die Vorherrschaft der Baath-Partei festgeschrieben wurde, war klar, dass der „sozialistische“ Weg der Entwicklung und die Verwirklichung von Menschen- und Bürgerrechten in unüberbrückbarem Gegensatz stehen würden. Widerstände gegen die Diktatur Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre wurden brutal niedergeschlagen. Am Prinzip der Überordnung der Gewalt der Machtausübung über demokratische Legitimation hat auch Baschar al-Assad festgehalten.

Wo aber stehen wir in diesem historischen Geschehen? Unser Engagement in Europa steht in allzu offensichtlichem Gegensatz zur Tatenlosigkeit der westlichen Politik. Außer Worthülsen, gedrechselten diplomatischen Ausflüchten, fragwürdigen Analysen des „besonderen Charakters“ der Entwicklungen in Syrien ist wenig zu hören oder zu sehen. Sanktionen sind keine wirksamen Maßnahmen, sondern Augenwischerei. Sie sollen den Eindruck erwecken, es geschehe etwas. In Wirklichkeit freilich geschieht fast nichts.

Tatsächlich spannt sich der Bogen des Nachdenkens über das Recht auf Freiheit und Auflehnung gegen tyrannische Macht zwischen Dichtern und Denkern wie Friedrich Schiller und Albert Camus – um nur zwei Namen zu nennen. „Was ist ein Mensch in der Revolte?“, fragt Camus in seinem grandiosen Essay „L’homme révolté“ (Der Mensch in der Revolte, 1951). Seine Antwort: „Ein Mensch, der nein sagt.“ Millionen von Arabern haben „Nein“ gesagt. Und auch Schiller sagt „nein“ im Drama „Wilhelm Tell“ (1804), das wohl geradezu als das Drama des Willens zur Freiheit bezeichnet werden kann. „[…] Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,/Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,/Wenn unerträglich wird die Last – greift er/Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,/Und holt herunter seine ew’gen Rechte,/Die droben hangen unveräußerlich/Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst […]“. Es erübrigt sich, die Parallele zum Ausbruch der arabischen Revolte zu ziehen. Allzu sichtbar ist sie. Diese unveräußerlichen Rechte, die ja nichts anderes sind als die Menschenrechte, herunterzuholen in ihre – die syrische – Gesellschaft. Dass dies nur um den Preis des Einsatzes des eigenen Lebens geschehen kann, haben mittlerweile (2014) 130.000 Menschen in Syrien bezeugt. „Äußerstenfalls“, so Camus, „nimmt er den letzten Verfall hin: den Tod, wenn man ihm jene ausschließliche Anerkennung rauben sollte, die er nun seine Freiheit nennt. Lieber aufrecht sterben als auf den Knien leben.“ „Lieber den Tod als in der Knechtschaft leben“ heißt es im „Wilhelm Tell“.

Bei allen Unterschieden von Geschichte, Kultur und Religion stehen die europäischen und arabischen Länder auf gemeinsamem Grund. Jahrzehntelang hat „der Westen“ mit einer Mischung von Dünkel, Mitleid und Pseudoexpertentum auf „die Araber“, „die Muslime“ hinabgeschaut, die zur Demokratie gleichsam genetisch nicht fähig seien. Die arabische Revolte, der syrische Aufstand haben eine neue Perspektive eröffnet: Wir alle sind den Werten der Humanität verpflichtet. Die Freiheit ist die Conditio sine qua non. Das Denken von Philosophen und Dichtern wie Friedrich Schiller und Albert Camus steht auf demselben Grund wie das Denken und die Schlussfolgerungen arabischer Geister wie Rifa’a Rafi’ at-Tahtawi (1801 – 1873), Mustafa Kamil (1874 – 1908), Abd ar-Rahman al-Kawakibi (1855 – 1902) und zahlreicher anderer. Diese Einsicht muss künftig die Grundlage der Begegnung zwischen Europa und seiner islamisch geprägten Nachbarschaft sein. Aus ihr erwächst die Perspektive einer neuen gegenseitigen Wahrnehmung. Die hierzulande gehegten Klischees über „die Araber“, „den Islam“ oder „die Muslime“ gehören in denselben Abfall wie die Potentaten und Autokraten, die von ihren „Untertanen“ gestürzt wurden. Und während die Europäer mit gemischten Gefühlen das Geschehen betrachten, stehen Hunderttausende von Ägyptern auf – die große Mehrheit von ihnen sind nach tief sitzendem westlichem Vorurteil „zu einer liberalen Demokratie eigentlich nicht fähige Muslime“ –, um gegen die neuerliche Errichtung einer Diktatur in Ägypten – sei sie islamisch oder säkular militärisch – zu demonstrieren. Die Frage, was zu tun ist, wie Europa dieses – sich in geschichtlichen Kontexten vollziehende – Geschehen unterstützen kann, steht unabweisbar im Raum. Wenn die arabische Revolte im Großen und in Syrien im Besonderen eben in jenem Kontext von Freiheit und Menschenwürde verortet wird, den wir hier im Westen als für uns verbindlich reklamieren, dann können wir uns nicht entziehen. Das Versagen westlicher Politik, die fast tatenlose Hinnahme des Schlachtens in Syrien, für das es leider – je länger es sich hinzieht – immer mehr Schuldige gibt, grenzt an Zynismus. Dies umso mehr, wenn man die Haltung der internationalen Gemeinschaft zu der viel beschworenen „responsibility to protect“ in Beziehung setzt, mit der leichthändig der Nato-Einsatz in Libyen gerechtfertigt wurde. Sanktionen fungieren als Alibi für druckvolles Handeln. Ein Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Juni 2012: „Die EU verbot die Ausfuhr von Gütern nach Syrien, die zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden … Sie stellte nun die Liste mit den betroffenen Gütern vor. Zu den Gütern gehören Kaviar, Trüffel und Zigarren mit einem Verkaufspreis von mehr als zehn Euro, Wein und andere Spirituosen mit einem Wert über 50 Euro sowie Lederwaren ab 200 Euro und Schuhe, die mehr als 600 Euro kosten, wie die Kommission mitteilte.“ Syrien ist nicht Libyen, und ein Militäreinsatz wie derjenige in Libyen sollte sich – aus zahlreichen Gründen – auch nicht wiederholen. Deshalb steht die Forderung im Raum, dass die Syrer geschützt werden müssen; neue Alternativen und Lösungen für ein Ende des blutigen Bürgerkriegs müssen gefunden werden. Das syrische Volk zu schützen und das Regime Baschar al-Assad zur Aufgabe zu bringen, das muss das erklärte Ziel der Politik sein! Schutz aber ist – nach Lage der Dinge – nicht durch Worte zu leisten; auch nicht durch Sanktionen, die das Regime nicht wirklich erschüttern. Schutz bedeutet, sich einzumischen oder den zu Schützenden mit den Mitteln zu versehen, mit denen er sich selbst schützen kann.

Es trifft zu, dass viele Menschen in Syrien zögern, sich der Revolte anzuschließen, ja Angst vor der Zukunft haben. Dafür gibt es viele Gründe. Dass nicht jeder Mensch zur Revolte geboren ist, hat auch Albert Camus gewusst, der den Menschen in der Revolte in eine besondere Verantwortung stellte: „Die Freiheit hat nicht in gleichem Maße zugenommen, wie das Bewusstsein, das der Mensch von ihr erlangt hat. Aus dieser Beobachtung kann man nur eines ableiten: Die Revolte ist die Tat des unterrichteten Menschen, der das Bewusstsein seiner Rechte besitzt. Aber nichts erlaubt uns zu sagen, es handle sich nur um die Rechte des Individuums. Im Gegenteil scheint es, als handle es sich um ein mehr und mehr erweitertes Bewusstsein, welches das Menschengeschlecht im Lauf seiner Abenteuer von sich selbst gewinnt.“ Die Revolte wird für Camus eine „erste Selbstverständlichkeit“; so elementar wie das „Denken“ (cogito ergo sum) bei René Descartes (1596 – 1650) als grundlegende Selbsterfahrung: „Ich denke, also bin ich“. In Abwandlung dieses elementaren Befundes formuliert Camus: „Ich empöre mich, also sind wir“. Der Mensch in der Revolte handelt also zugleich für andere; sein Protest reicht über das Individuum – ihn selbst – hinaus.

Der Widerstand des Volkes hat nicht mit dem Ausbruch der Revolte begonnen. An dem Punkt, an dem das Aufbegehren vom individuellen zum gemeinsamen Protest wird – das ist der geheimnisvolle Wesenskern der Revolte in Syrien und in den anderen arabischen Ländern, in denen sich die Menschen gegen die Unterdrückung erhoben haben –; genau diese Ereignisse sind der Beginn der Revolution, die leider in Syrien zum Bürgerkrieg entartete. Immer wieder ist auf die Bedeutung der sozialen Medien in diesem Zusammenhang hingewiesen worden. Das ist natürlich zutreffend. Aber diese Medien sind nur das Instrument, über das sich eine in der Tiefe wirksame Entschlossenheit artikuliert, eine nicht mehr hinnehmbare, eine überlebte Ordnung zu überwinden. Es ist die Gewissheit, dass eine Zeit abgelaufen ist, auch wenn die Machthaber um jeden Preis bemüht sind, die Uhren zurückzustellen. Anders als die Umbrüche in den fünfziger und sechziger Jahren in den arabischen Ländern aber, die von einzelnen Personen und/oder spezifischen Gruppen, insbesondere Militärs, losgetreten wurden, ist die neuerliche Revolte eine Bewegung aus dem Volk. „Wir sind das Volk“; dieses besonders in Deutschland bekannte Motto hat in unzähligen Varianten Männer und Frauen, Angehörige aller Konfessionen und Ethnien im Protest vereint. Was hält sie zusammen? Was verleiht ihnen die Kraft, sich Machthabern entgegenzustellen, die entschlossen sind, mit äußerster Härte alle Werkzeuge der Repression gegen das Volk einzusetzen? Razan Zaitouneh, der 2012 den Ibn-Ruschd-Preis für „Freiheit des Denkens, Innovation und Zivilcourage im arabischen Raum“ erhalten hat, ist sich sicher: „Kein Zweifel, dass die Protestierenden und die Revolution schließlich siegen werden. Wenn wir nicht glaubten, dass wir gewinnen werden, würden wir nicht weiter machen können gegen diese Brutalität des Regimes. Wir würden all diese Verbrechen gegen unser Volk nicht ertragen. Ich bin sicher, dass jeder und jede einzelne unter den Syrern daran glaubt, dass die Revolution am Ende siegreich sein wird.“ Die Menschen spüren, dass die Geschichte auf ihrer Seite ist. Ihr Kampf hat sich von einem individuellen Protest zu einer Sache im Namen aller geweitet.

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26 mayıs 2021
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