Kitabı oku: «Orient im Umbruch», sayfa 3
Zahlungen aus dem Ausland haben in Afghanistan nur zu oft eine gleichzeitig entwicklungshemmende Wirkung. Denn gelänge es Behörden durch Einsatz aller Mittel, Missstände zu beseitigen, würde einer der Gründe für künftige Zahlungen – nämlich der Missstand – entfallen. Auch aus diesem Grunde fehlt Mitarbeitern in Bürokratien der Anreiz, die Mittel effektiv zu nutzen. Insbesondere weil diese Beamten sich ja gerade wegen der ins Land fließenden Devisen in den vergangenen Jahren einen gewissen Lebensstandard aufbauen konnten. In den vergangenen Monaten berichteten ausländische Experten trotz des Rückgangs der Hilfen über anhaltende Korruption. Dies liegt auch daran, dass das Geld, das von Beamten und Staatsangestellten in den mittleren Rängen durch Korruption abgezweigt wurde, vor allem konsumiert und nicht investiert wurde. Die Bedingung der Regierung in Kabul, künftige Entwicklungsprojekte stärker über staatliche Institutionen abzuwickeln, muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.
Die weitere Afghanisierung der staatlichen Institutionen in den kommenden Jahren könnte auch eine Chance bieten, ein Nebeneinander unterschiedlichster Gruppen zu schaffen und für die junge Generation weitere Freiräume zu öffnen. Bisher hat sich die junge Generation nicht selbstständig artikuliert, sondern in der Regel bekannten Politikern untergeordnet. Doch zunehmende Arbeitslosigkeit und fehlende Auswanderungsmöglichkeiten könnten das ändern. Mit großem Interesse haben junge Afghanen die Proteste in Tunesien und Ägypten verfolgt, die zum Sturz der Diktatoren in diesen Staaten führte.
Gerade junge Intellektuelle sehen im syrischen Bürgerkrieg ein abschreckendes Beispiel. Vor allem in den großen Städten wird die junge Generation darauf bestehen, dass es auch künftig in Afghanistan Wahlen gibt. Denn in ihren Augen bieten sie die beste Chance, politische Verhältnisse zu ändern. Und bei einem Durchschnittsalter der Bevölkerung von 18 Jahren gehört den jungen Menschen die Zukunft, auch wenn heute die Alten an den Hebeln der Macht sitzen. Die ausländischen Mächte haben bei ihrem Eingreifen in Afghanistan nicht die Gelegenheit für einen Generationswechsel in den Schlüsselstellungen der Macht genutzt, sondern die Zusammenarbeit mit umstrittenen Altpolitikern gesucht. Doch die Globalisierung bringt diese Möglichkeiten, insbesondere wenn die Staaten des Westens aus ihrem Scheitern in Afghanistan die richtigen Lehren ziehen. Sie dürfen das Land nicht als Standort nutzen, um ihre Interessen in Zentral- oder Südostasien durchzusetzen. Doch wäre auch eine völlige Abwendung falsch, weil Afghanistan dann den Übergriffen der Nachbarstaaten preisgegeben werden würde. Zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit gibt es keine Alternative.
Bernd Erbel
Ägypten oder Die Krise als Dauerzustand
Nach Tunesien, wo erste Unruhen im Dezember 2010 ausbrachen, wurde Ägypten als zweites arabisches Land am 25. Januar 2011 vom „Arabischen Frühling“ erfasst. Seither wurden zwei Präsidenten gestürzt, ein Parlament gewählt und wieder aufgelöst und drei Verfassungsreferenden abgehalten. In einer dramatischen Berg- und Talfahrt übernahm die Muslimbruderschaft im zweiten Jahr der Revolution die Macht und stürzte im dritten Jahr wieder in die Illegalität ab. Kontinuierlichster Machtfaktor blieb die Armee. Die Wahl eines neuen Präsidenten und Parlaments stehen bevor. Wie das künftige politische System funktionieren wird, ist erst in Konturen sichtbar.
Die mit der „Januar-Revolution“ von 2011 verbundenen Hoffnungen auf die Errichtung eines nicht autoritären Regierungssystems, eine wirksame Bekämpfung der Korruption und die Lösung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme des Landes haben sich bislang nicht erfüllt. Die Armut der Massen – ein Mitauslöser des Aufstands gegen das Mubarak-Regime – ist größer denn je, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, Devisenreserven, ausländische Investitionen und Wirtschaftswachstum sind geschrumpft. Das Niveau der öffentlichen Sicherheit ist gesunken. Der Tourismus, Einkommensquelle für Millionen, liegt danieder. Die Inflation ist angestiegen. Finanzielle Reserven haben die Armen in aller Regel nicht zuzusetzen. Immerhin stellt das System staatlicher Subventionen für Grundnahrungsmittel sicher, dass die Basis-Ernährung gewährleistet bleibt.
Unter diesen Umständen ist die generelle Verdammung des Mubarak-Regimes, wie sie im ersten Jahr der Revolution üblich war, einer differenzierteren Bewertung gewichen. Noch wird das alte Regime zwar nicht verklärt, der Vergleich zwischen der Zeit vor der Januar-Revolution 2011 und dem Jetzt-Zustand fällt allerdings meist zugunsten der Vergangenheit aus. Viele Ägypter geben mit spürbarer Resignation zu bedenken, dass sich das Volk wahrscheinlich viele Leiden und Verwerfungen hätte ersparen können, wenn man dem alten Regime zu dem Zeitpunkt, als es seine Existenzgefährdung erkannte und zu Veränderungen bereit war, die Chance gegeben hätte, die gröbsten Missstände abzustellen und weitergehende Reformen einzuleiten, anstatt auf dem Sturz des Präsidenten zu bestehen (dessen Zugeständnisse damals allgemein als „zu wenig, zu spät“ betrachtet wurden).
Dies bedeutet nicht, dass man die Fehler des alten Systems relativieren oder die Proteste von Januar 2011 für ungerechtfertigt halten würde: Mubarak wird nach wie vor vorgeworfen, dass er ermöglichte oder zumindest nicht verhinderte, dass sich eine kleine Clique in provokativer Weise bereichern konnte. Auch die in erster Linie von seiner Frau verfolgten (von ihm selbst aber nicht unterbundenen) Bemühungen, den älteren Sohn Gamal zum Nachfolger aufzubauen, bleiben in negativer Erinnerung. Insgesamt wird Mubarak zugebilligt, in der ersten Hälfte seiner Präsidentschaft die von seinem Vorgänger Sadat hinterlassenen innenpolitischen und sozialen Spannungen gemindert, erhebliche Leistungen für die Infrastruktur erbracht und in der zweiten Hälfte eine begrenzte, aber doch spürbare Liberalisierung der Medien und Lockerung der Meinungsfreiheit zugelassen zu haben. Auf dem Gebiet der Volkswirtschaft wurden zumindest ab 2004 unbestreitbare makro-ökonomische Erfolge, insbesondere ein starker Anstieg der Auslandsinvestitionen und erhebliches Wirtschaftswachstum erzielt. Allerdings blieb der „trickle-down-Effekt“ aus: Die Reichen wurden sichtbar reicher, die Armen verharrten hingegen auf einem Niveau in der Nähe des Existenzminimums. Die Bevölkerung Ägyptens wuchs in der 29 ½-jährigen Regierungszeit von Präsident Mubarak um 76 Prozent von 46 auf 81 Millionen. Ein großer Teil der zusätzlichen Millionen fand nur noch Platz in den „ashwa’iyat“ rund um Kairo und in anderen Großstädten, illegalen, ungeordneten Slums ohne formale Infrastruktur, die fast ausschließlich auf fruchtbarem Ackerland errichtet wurden, das damit dauerhaft verloren ging. Das öffentliche Erziehungs- und Gesundheitssystem unterlag zunehmender Auszehrung. Ein Bewusstsein für die dramatischen sozialen und volkswirtschaftlichen Folgen dieser Entwicklung war im Regierungsapparat kaum spürbar – und noch viel weniger die Einsicht, dass zu ihrer Korrektur eine nationale Kraftanstrengung notwendig gewesen wäre. Medien berichteten zwar über die wachsenden Probleme, und einige Filme, die die Missstände schonungslos darstellten, wurden sogar zu Kassenschlagern (z. B. 2007 „Hīna Maysara“). Wer aber politische Strukturen außerhalb der Staats- und Regierungspartei NDP (Nationaldemokratische Partei) zur Lösung der Probleme bilden wollte, wurde mehr oder minder massiv behindert.
Offen bekämpft wurde die verbotene Muslimbruderschaft, deren Aktivitäten allerdings zeitweilig auch in dem Maß geduldet wurden, wie es erforderlich war, um ein dauerhaftes völliges Abgleiten der Organisation in den Untergrund zu verhindern. Die Bruderschaft hatte sich insbesondere ab 1992, als sie nach einem großen Erdbeben in Kairo schnellere und wirksamere Hilfe leistete als der Staat, zu einer Institution entwickelt, die den armen Schichten Leistungen bot, die die Behörden nicht zu erbringen in der Lage waren. Die Durchdringung vieler Berufsverbände durch Mitglieder der Muslimbruderschaft in den neunziger Jahren machte sie zeitweilig auch zu Wortführern ganzer Berufsgruppen. Bei den Parlamentswahlen 2005, bei denen US-Druck zu verminderter Behinderung oppositioneller Kandidaten geführt hatte, konnten die Muslimbrüder als „Unabhängige“ sogar 88 Sitze (19,4 Prozent) erringen. Regelmäßige Verhaftungswellen sorgten aber dafür, dass die Flügel der Bruderschaft immer wieder beschnitten wurden. Bei den letzten Wahlen zur Volksversammlung in der Ära Mubarak Ende 2010, also kurz vor Ausbruch der Revolution, sorgte der Apparat hingegen dafür, dass nur noch ein einziger Muslimbruder den Weg ins Parlament fand.
Sehr viel negativer für die Entwicklung des Landes und seiner Gesellschaft wirkte sich jedoch das Verhalten des Staatsapparats gegenüber konkurrierenden nicht islamistischen Parteien, Nichtregierungsorganisationen und anderen Gruppen der Zivilgesellschaft aus. Eine wesentliche Teilhabe konstruktiv tätiger säkularer Parteien in der Politik hätte die Stabilität des Systems keinesfalls beeinträchtigt, sondern gerade im Konflikt mit dem Islamismus langfristig und nachhaltig gefördert. Mit ideologischen Argumenten war dieses Verhalten des Staatsapparats nicht zu erklären: Die NDP war eine Staats- bzw. Regierungspartei mit kaum definierbarer Ideologie und Flügeln mit großer Bandbreite. Das Übel lag vielmehr im simplen kurzsichtigen Bestreben des Apparats und weiterer Kreise, Veränderungen grundsätzlich zu verhindern, um keine Beeinträchtigung gewachsener Pfründe zu riskieren. Aus ähnlichen Gründen wurde auch verhindert, dass sich populäre Persönlichkeiten und fähige Politiker zu Figuren des öffentlichen Lebens profilieren konnten, die als potenzielle Nachfolgekandidaten für die Präsidentschaft in Betracht gekommen wären. Der äußerst beliebte langjährige Außenminister Amr Moussa wurde schon 2001 in das Amt des Generalsekretärs der Arabischen Liga weggelobt; andere wurden in Affären oder Prozesse verwickelt. Sogar das in der Verfassung vorgesehene Amt des Vizepräsidenten blieb 29 Jahre lang unbesetzt. In der Spätphase seiner Präsidentschaft war Mubarak von einer Gruppe von Hofschranzen umgeben, die ihm kaum noch realistische Einblicke in die wirklichen Verhältnisse erlaubten (2007 meisterlich verarbeitet in der sarkastischen Filmkomödie „Tabbakh El Rayyis“/„Der Koch des Präsidenten“). Der „Apparat“ fühlte sich hingegen sicher, die Lage durch die Kontrolle über die Sicherheitskräfte stets beherrschen zu können und machte sich Ende 2010 noch nicht einmal die Mühe, den Eindruck einer korrekten Parlamentswahl zu erwecken: Die Ankündigung, den Muslimbrüdern diesmal keine Sitze zu überlassen, wurde (mit einer Ausnahme) umgesetzt, während die NDP 81 Prozent erreichte. Ursachen für eine breite Protestbewegung waren damit im Übermaß vorhanden.
Dennoch war die Intensität und Wucht der Proteste ab 25. Januar 2011 nicht nur für den Staatsapparat, sondern auch für (fast) alle Beobachter eine große Überraschung: Zu lange hatte man sich daran gewöhnt, dass sich das ägyptische Volk in allen Krisen ein ums andere Mal in seiner sprichwörtlichen Duldsamkeit und Genügsamkeit übte. Seit Menschengedenken nahm der Großteil der Bevölkerung des Niltals die Dinge weitgehend so hin, wie sie waren, und strebte kaum mehr an als das kleine Alltagsglück. Man schimpfte (oder witzelte) zwar ständig über den „Pharao“ an der Spitze, ließ sich aber insgeheim gerne von pyramidalen Strukturen regieren und verwalten. Friedfertigkeit einerseits, ein gewisser Mangel an Ambitionen andererseits waren die beiden empfundenen Seiten der ägyptischen Medaille.
Sehr pointiert hat einmal Reinhard Hesse (1956 – 2004), aufgewachsen in Ägypten und einer der besten deutschen Kenner des Landes, die Befindlichkeit der Ägypter mit den ironischen Worten beschrieben: „Hier ist die Krise Dauerzustand: Alles wird schlimmer. Aber es wurde schon immer alles schlimmer. Nicht dass der Untergang fern wäre, doch man lebt seit Generationen damit, dass er unmittelbar bevorsteht.“ Dieses spezifische Lebensgefühl findet seine Wurzeln für viele Beobachter in der Geschichte und Geografie des Landes, die den Volkscharakter entscheidend prägte:
Seit Mitte des 4. Jahrtausends vor Christus war in Ägypten aufgrund des Wüstenklimas die Besiedlung – abgesehen von einzelnen Oasen – nur im Niltal möglich. Diese Phase fällt mit dem Beginn der pharaonischen Zivilisation und der Herausbildung einer „hydraulischen Gesellschaft“ (Begriff geprägt von Karl August Wittvogel, 1896 – 1988) zusammen. Die Abhängigkeit vom Nilwasser als einziger Lebensquelle des Landes erforderte Gemeinschaftslösungen für die zu bewältigenden Aufgaben (Lenkung und Verteilung des Wassers, Neuvermessung der Felder nach dem Rückgang der jährlichen Flut), ermöglichte Arbeitsteilung und führte zur Bildung einer differenzierten Gesellschaft mit verschiedenen Berufsschichten. Um leben und überleben zu können, war Ägypten somit seit Jahrtausenden auf eine im ganzen Lande anerkannte und funktionierende Zentralgewalt angewiesen. Für die Menschen wurde Unterordnung unter eine die Lebensumstände prägende Herrschaft und das Lebensgefühl des Einzelnen als Teil einer großen Masse geschichtliche Kontinuität. Je nach der Quantität der jährlichen Überschwemmung erlebte das Land im Wechsel „fette“ und „magere“ Jahre: Der Nil bot stets genug Wasser zum Überleben, ermöglichte aber auch keine Quantensprünge. Die Menschen gewöhnten sich daran, dass ihr Leben materiell in einer relativ engen Bandbreite verlief und ihre Anstrengungen nur begrenzt zu einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse beitragen konnten. Für Individualismus und den Willen, aus den gegebenen Lebensumständen auszubrechen, boten diese Verhältnisse nur wenig Raum. Ägypten nimmt damit eine Sonderstellung im Nahen und Mittleren Osten ein. In der Levante und anderen Teilen der Region konnten sich hingegen wechselnde, auch kleinteilige geografische Einheiten zu staatlichen Gemeinschaften herausbilden, zusammenschließen oder auch wieder auflösen, ohne dass sich dauerhafte Identitäten von Völkern oder Staaten entwickelt hätten (Ausnahmen: Jemen, Iran). Stattdessen wurden Strukturen von Stämmen und Clans geprägt.
Eine weitere ägyptische Besonderheit ist in der Geografie des Landes begründet: Das Niltal ist im Osten und im Westen von fast menschenleeren Wüsten umgeben, die einen geografischen Schutz gegen größere Feindeinbrüche darstellten. Ägypten erlebte zwar gelegentliche Eroberungszüge von außen (von den Hyksos über die Assyrer, Perser, Griechen, Römer, Araber, Osmanen und andere), schaffte es jedoch in der Regel, die Invasoren zu ägyptisieren und seine Existenz als staatliche Gemeinschaft zu bewahren. Insgesamt kann Ägypten auf eine ungewöhnlich friedliche Geschichte zurückblicken. Seit altägyptischer Zeit wurde die geschlossene Kulturentwicklung des Landes nur selten gestört, gleichzeitig aber auch eine selbstgenügsame Abschließung gegen die Außenwelt gefördert. Die Ereignisse in Ägypten seit Januar 2011 haben allerdings mancherlei Zweifel aufkommen lassen, ob die seit Menschengedenken vorherrschende Friedfertigkeit und Ausgleichsbereitschaft der Ägypter noch als prägend gelten können oder ob sich tiefgreifende und dauerhafte Veränderungen in den Verhaltensmustern abzeichnen.
Die vergangenen drei Jahre stellen in der jüngeren Geschichte Ägyptens die Phase mit der höchsten Anzahl (mehrere Tausend) von Gewaltopfern dar. Die ägyptische Gesellschaft ist in hohem Maße polarisiert, oft gehen Trennungslinien sogar durch Familien. Immer häufiger treten sich politische Gegner nicht mehr mit Dialog- und Kompromissbereitschaft gegenüber, sondern wünschen sich gegenseitig Vernichtung. Die Entwicklung demokratischer Strukturen und Spielregeln stand auch nach dem Sturz von Präsident Mubarak unter keinem guten Stern. Der Oberste Rat der Streitkräfte (Supreme Council of the Armed Forces/SCAF), der die Ablösung von Mubarak billigte und am 11. Februar 2011 formal die oberste Staatsgewalt übernommen hatte, löste die beiden Kammern des Parlaments auf und setzte die Verfassung aus. Die von ihm eingesetzten Kabinette blieben blass und wirkungslos und konnten keine der mit der Revolution verbundenen Hoffnungen erfüllen; die Protestbewegung setzte sich daher in Schüben fort. Den Islamisten, die sich zunächst nicht am Aufstand beteiligt hatten, gelang es zunehmend, ins Zentrum der politischen Agitation zu rücken und schließlich im Nachhinein die Januar-Revolution für sich zu „kapern“: Bei den zum Jahreswechsel 2011/12 durchgeführten Wahlen zur Volksversammlung errangen die Muslimbrüder 37,5 Prozent der Stimmen und die fundamentalistischen Salafisten überraschend zusätzliche 27,8 Prozent – zusammen knapp zwei Drittel der Stimmen und über 70 Prozent der Sitze. Die Säkularen und Liberalen sowie die revolutionäre Jugend (überwiegend aus dem gebildeten Mittelstand), die sich als Träger der Januar-Revolution betrachteten, erreichten zusammen nur ein enttäuschendes Fünftel. Bei der Präsidentschaftswahl fünf Monate später konnte sich wiederum kein Kandidat der „Revolution“ oder der säkularen Liberalen durchsetzen. Stattdessen erreichten der (in seiner eigenen Partei nur als zweitklassig betrachtete) Muslimbruder Mohamed Morsi und ein Vertreter des alten Regimes, Ahmed Schafiq, mit jeweils knapp einem Viertel der Stimmen die zweite Runde: In dieser von Millionen als schlechteste Konstellation und Wahl zwischen zwei Übeln empfundenen Situation entschlossen sich viele nicht islamistische Wähler, den Muslimbrüdern durch ihre Stimme (oder zumindest ihre Enthaltung) „eine Chance zu geben“. Sie schoben damit die Warnung beiseite, man dürfe die Muslimbrüder nicht durch demokratische Wahlen an die Macht kommen lassen, da sie ihre demokratische Abwahl nicht mehr zulassen würden. Sehr häufig wurde auch argumentiert, nach 80 Jahren der staatlichen Verfolgung könnten der Opfer-Status der Muslimbrüder und der Mythos, die Organisation sei zur gerechten und effizienten Lenkung von Staat und Gesellschaft besser als andere politische Kräfte in der Lage, nur durch eine Diskreditierung der Organisation in der praktischen Politik beseitigt werden. Der Spuk des politischen Islamismus werde erst vergehen, wenn die Unfähigkeit der Muslimbrüder durch ihr Scheitern an den politischen Realitäten erwiesen sei.
Wer so argumentierte ging bei der Präsidentschaftswahl Mitte 2012 in der Regel davon aus, dass die Muslimbrüder entweder gewisse Leistungen für das Land erbringen oder aber ihren Nimbus innerhalb von einer Legislaturperiode verlieren würden. Die Dinge nahmen dann aber einen sehr viel schnelleren und dramatischeren Lauf:
Mohamed Morsi gewann die Stichwahl denkbar knapp mit 51,73 Prozent und trat am 30. Juni 2012 das Amt des fünften Präsidenten der ägyptischen Republik an. Die von ihm eingesetzte Regierung unter Ministerpräsident Hesham Kandil blieb erfolglos. Mangelerscheinungen (Stromausfälle, Knappheit von Benzin, Diesel und Flaschengas) traten zunehmend auf, verstärkt durch die Unwilligkeit eines Teils des bürokratischen Unterbaus („deep state“) zur Zusammenarbeit mit dem Regime. Die Sicherheitslage verschlechterte sich nicht nur im städtischen Bereich, sondern auch auf dem Sinai, wo vermehrt djihadistische Gruppen in Erscheinung traten. Die im Januar 2012 konstituierte Volksversammlung mit ihrer islamistischen Mehrheit war bereits wenige Tage vor der Stichwahl zur Präsidentschaft am 14. Juni 2012 aufgrund eines Urteils des Obersten Verfassungsgerichts durch den SCAF aufgelöst worden. Auch hatte sich der SCAF erhebliche Sonderrechte für den Bereich der Streitkräfte reserviert. Der Versuch von Morsi, sich am 22. November 2012 durch einen Verfassungszusatz per Präsidial-Dekret eine bessere Machtposition gegenüber Justiz und Armee zu verschaffen, führte zu Massenprotesten. Auch die am 26. Dezember 2012 in Kraft getretene neue Verfassung, die von einem Gremium mit islamistischer Mehrheit ausgearbeitet worden war, stieß trotz formaler Billigung durch ein Referendum auf heftige Ablehnung. Noch breiteren Widerstand forderte Morsi durch eine Politik der Einsetzung von Muslimbrüdern und anderen Islamisten in alle Kategorien staatlicher Ämter heraus. Damit handelte er seiner im Zuge seines äußerst knappen Wahlsieges versprochenen Rolle als „Präsident aller Ägypter“ zuwider und gerierte sich zunehmend als willfähriges Werkzeug der Führung der Muslimbruderschaft, die – nach 80 Jahren verwehrten Zugangs zu politischen Ämtern – die „historische“ Chance zu einer umfassenden Umbesetzung der personellen Strukturen zu nutzen entschlossen war. Höhepunkt dieser Maßnahmen war ein Revirement auf den Posten der Provinzgouverneure, in dessen Rahmen ein Vertreter der „Gamaa Islamiyya“, die in ihrer terroristischen Vergangenheit 1997 für einen Anschlag auf Touristen in Luxor mit 62 Toten verantwortlich war, ausgerechnet zum Gouverneur von Luxor ernannt wurde. Auch im Bereich der Kultur- und Bildungspolitik waren zunehmend Maßnahmen zu verzeichnen, die auf eine Islamisierung der Strukturen und des öffentlichen Lebens abzielten.
Mediale Kritik an dieser Politik blieb – trotz zahlreicher Versuche juristischer Einschüchterung – in erstaunlich hohem Maße möglich. Besonders populär war eine regelmäßig im Privatfernsehen ausgestrahlte politische Satireshow von Bassem Youssef, in der er Präsident Morsi und seine Politik der Lächerlichkeit preisgab.
Die dem Präsidenten von der Opposition gewährte Schonfrist war schon nach wenigen Monaten abgelaufen. Seit Erlass des präsidialen Verfassungszusatzes am 22. November 2012 rissen die Massenkundgebungen gegen Morsi nicht mehr ab und führten zu Dutzenden von Toten und Hunderten von Verletzten. Die im April 2013 von Aktivisten gebildete Tamarod-Bewegung („Rebellion“) forderte vorgezogene Neuwahlen zur Präsidentschaft und sammelte nach eigenen Angaben bis zum 29. Juni 2013 über 22 Millionen Unterschriften für einen Rücktritt von Morsi. Am 30. Juni 2013, dem ersten Jahrestag der Amtsübernahme von Präsident Morsi, folgte eine beispiellose Zahl von Ägyptern dem Aufruf von Tamarod zur Massendemonstration gegen den Präsidenten. Für den Fall, dass der Präsident nicht bis zum 2. Juli zurücktrete, drohte Tamarod mit „vollständigem zivilem Ungehorsam“. Der Oberste Rat der Streitkräfte (SCAF) unter Abd al-Fattah as-Sisi, der am 12. August 2012 als Nachfolger des aus der Mubarak-Ära stammenden Feldmarschalls Tantawi zum neuen Verteidigungsminister ernannt worden war, hatte sich bislang neutral verhalten und wurde von nicht wenigen Liberalen und Säkularen sogar verdächtigt, sich mit der Muslimbruderschaft arrangiert zu haben. Am 1. Juli 2014 setzte as-Sisi jedoch allen politischen Kräften das Ultimatum, sich innerhalb von 48 Stunden zu einigen; andernfalls würden die Streitkräfte intervenieren und ihre eigene „Roadmap“ umsetzen. Da Morsi keinen Konsens mit der Opposition herstellte, aber auch nicht zurücktrat, wurde er zwei Tage später von der Armee aus seinem Amt entfernt und am 4. Juli 2013 durch den Präsidenten des Obersten Verfassungsgerichts, Adli Mansur, als Interims-Präsident ersetzt. Mansur ernannte in den folgenden Tagen den anerkannten Ökonomen Hazem El Beblawi zum Interims-Ministerpräsidenten; er bildete am 16. Juli 2013 ein Interims-Kabinett ohne Mitglieder der Muslimbruderschaft. Die Verfassung von Ende 2012 wurde außer Kraft gesetzt (und im Januar 2014 durch eine von den hinzugefügten islamistischen Elementen wieder befreite Neufassung ersetzt). Neuwahlen für die Präsidentschaft und das Parlament wurden für die folgenden neun Monate angekündigt.
Proteste von Anhängern der Muslimbruderschaft gegen den Sturz von Morsi arteten rasch in Gewalt aus und wurden mit Härte niedergeschlagen. Die meisten Mitglieder der Führung der Bruderschaft wurden in Haft genommen und vor Gericht gestellt, andere tauchten in den Untergrund ab oder flohen ins Ausland. Am 26. Juli 2013 folgten Millionen einem Aufruf von General as-Sisi, Armee und Polizei durch Massendemonstrationen ein Volksmandat zur Bekämpfung von Gewalt und Terrorismus zu erteilen. Am 14. August 2013 begann die Armee, Protestlager von Muslimbrüdern auf zwei großen Plätzen in Kairo mit hohen Verlusten an Menschenleben aufzulösen. Militante Muslimbrüder griffen im Gegenzug Polizeistationen in verschiedenen Landesteilen an und setzten Kirchen in Brand. Der Gewaltzyklus führte zu mehr als tausend Todesopfern. Am 23. September 2013 wurde die Muslimbruderschaft wieder verboten. Nachdem ihr noch einige Anschläge zur Last gelegt worden waren, erklärte die Interimsregierung die Muslimbruderschaft am 25. Dezember 2013 sogar zur terroristischen Organisation. Der spektakuläre Aufstieg und der dramatische Fall der Bruderschaft hatten sich innerhalb von nur zwei Jahren vollzogen.
General as-Sisi erwarb sich mit dem Eingreifen der Streitkräfte zum Sturz von Morsi bei einem großen Teil der Bevölkerung den Ruf des „Retters der Nation“. Das harte Vorgehen gegen die Muslimbruderschaft stieß – abgesehen von der geschrumpften Anhängerschaft der Organisation selbst – nur bei einer kleinen Minderheit auf Protest oder Vorbehalte. Für viele Ägypter entwickelte sich as-Sisi zunehmend zum Volkshelden und Hoffnungsträger für die Zukunft.
Kaum eine Frage wurde in den ägyptischen und westlichen Medien und zwischen den politischen Fronten so gegensätzlich und emotional diskutiert wie die Kontroverse, ob am 3. Juli 2013 ein Militär-Putsch gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten stattgefunden hat oder ob Morsi gemäß dem Willen des Volkes und damit „demokratisch“ mithilfe der Streitkräfte aus dem Amt entfernt wurde.
Um der Kontroverse hier kein langes Kapitel hinzuzufügen, sei auf den Artikel „The Democratic Coup d’Etat“ des Harvard-Juristen Ozan Varol vom Sommer 2012 verwiesen; als „demokratischen Putsch“ bezeichnet er den auf Wunsch der Bevölkerung erfolgenden Sturz eines Regimes durch das Militär mit dem Ziel anschließender Bildung demokratischer ziviler Regierungsstrukturen. Ob diese Definition auf die Ereignisse vom Juli 2013 passt, wird sich teilweise erst in der Zukunft erweisen. Gewissermaßen lässt sich dies auch auf die Januar-Revolution 2011 anwenden. Alternativ lässt sich der Sturz beider Präsidenten als erste und zweite Revolution definieren. Wo in einem revolutionären Prozess Legitimität beginnt oder endet, entzieht sich einfachen Definitionen.
Aus westlicher Sicht ist Vorsicht geboten, die Ereignisse in Ägypten in erster Linie unter formal-demokratischen Kriterien zu betrachten: Ägypten ist ein Land mit nur rudimentärer Demokratie-Erfahrung, in dem bisher kaum partizipatorische Strukturen vorhanden sind. Ein tragfähiger Respekt und eine generelle Wertschätzung für demokratische Spielregeln werden sich erst nach einer längeren Phase einstellen, wenn sich mehrere Regierungen nacheinander auf der Grundlage korrekter Wahlen abgelöst haben. Nach unzähligen Jahren autoritärer Herrschaft ist es bereits ein großer Schritt in Richtung Demokratie, dass sich in Ägypten in den letzten Jahren das Bewusstsein verbreitet hat, dass Regierungen nicht aus sich heraus legitim sind, sondern den Willen der Mehrheit reflektieren müssen.
Beunruhigender als die Verletzung formal-demokratischer Regeln ist die in jüngster Zeit mangelnde Bereitschaft zum Ausgleich zwischen den politischen Lagern. Damit ist auch die Frage verknüpft, warum sich viele Ägypter, die noch im ersten Halbjahr 2012 mehrfach islamistische Mehrheiten geschaffen hatten, mit solcher Wucht ein Jahr später gegen die Muslimbruderschaft wandten.
Die graduelle Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage während Morsis einjähriger Amtszeit trug zweifellos zur Ablehnung seiner Regierung bei, kann aber, schon aufgrund der Kürze der Zeit und der Größe der strukturellen Probleme, den dramatischen Umschwung nicht erklären. Auch die politische Repression hatte keine neue Dimension angenommen. Auf die Frage nach den Gründen erhält man von Vertretern der verschiedensten Gesellschaftsschichten und Altersgruppen, von frommen Muslimen, Kopten und Säkularen, Liberalen und Nationalisten fast einheitlich sinngemäß immer wieder dieselbe Antwort: Nach vier Jahren fortgesetzter Herrschaft der Muslimbrüder wäre von „unserem“ Ägypten nicht mehr viel übrig geblieben. Deshalb sei schnelles und entschlossenes Handeln notwendig und nur mithilfe der Armee möglich gewesen, die sich als nationale Institution beispielhaft bewährt habe.
Dies erklärt zum einen, warum so viele Ägypter allergisch darauf reagieren, wenn der Sturz von Morsi als „Militär-Putsch“ bezeichnet wird. Zum anderen legt es dar, dass es in Ägypten im Sommer 2013 offensichtlich nicht in erster Linie um materielle Gründe, sondern vorrangig um das immaterielle Gut der „ägyptischen Identität“ ging.
Diese ägyptische Identität ist vielschichtig. Im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens ist Ägypten kein künstliches Gebilde, dessen Grenzen durch Kolonialmächte willkürlich gezogen worden wäre. Vielmehr blickt Ägypten als Staat und Volk auf eine mehr als 5.000-jährige Geschichte zurück, in der Ägypten stets eine spezifische Identität behielt. Einen Riss in seiner kulturellen Kontinuität erlebte das Land zwar im Rahmen der von den Byzantinern im 4. Jahrhundert betriebenen radikalen Christianisierung: Die Kenntnis der Hieroglyphenschrift, Kulturträgerin dreier Jahrtausende, ging innerhalb von einer Generation vollständig verloren; das Altägyptische konnte erst im 19. Jahrhundert von europäischen Wissenschaftlern wieder entziffert werden. Dennoch wahrte Ägypten auch als christliches Land seine spezifische Identität, indem sich die koptische (= ägyptische) Kirche beim Konzil von Chalcedon 451 von der byzantinischen Kirche lossagte und seither als autokephale Kirche ihrem eigenen Papst untersteht. Nach der arabischen Eroberung im Jahre 642 dauerte es 500 Jahre, bis Ägypten von einem mehrheitlich christlichen zu einem mehrheitlich islamischen Land wurde. Dabei stand Ägypten unter der Herrschaft verschiedener nicht ägyptischer Dynastien, doch machten sich lokale Statthalter immer wieder selbständig und wahrten die Eigenständigkeit des Landes. Zuletzt galt dies für die von Muhammad Ali (einem albanischen Osmanen) begründete Dynastie, die bis 1952 regierte und der ägyptischen Identität eine mediterrane Komponente hinzufügte.
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