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|7|Die Praxis aus wissenschaftlicher Perspektive in Antike und Mittelalter. Methodische und inhaltliche Grundlagen bei Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin

Matthias Perkams

1. Vorbemerkungen

Die Praxis ist bereits früh zum Thema der Philosophie geworden, und zwar sowohl als Wort als auch als ein Problemfeld eigener Art. Dabei wurden bereits von Platon (ca. 428–347 v. Chr.) und insbesondere von Aristoteles (384–322 v. Chr.) Zugangsweisen und Konzeptualisierungen entwickelt, die den Besonderheiten der Praxis Rechnung tragen und eine wissenschaftliche Rede hierüber ermöglichen sollen. Aufgrund neuer Begriffs- und Problemfelder haben diese Praxistheorien in der späteren Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit das Denken angeregt und zu weiteren Ausarbeitungen Anlass gegeben, unter denen der Ansatz des Thomas von Aquin (1224/25–1274) durch die Berücksichtigung vieler Gesichtspunkte der Einheit und Vielheit menschlichen Handelns eine besondere Differenziertheit erreicht.

Schon den aristotelischen Überlegungen liegt ein sehr weites Verständnis von Praxis zugrunde, bei der jedes Handeln insofern als Praxis gelten kann, als es von intrinsischer Bedeutung für ein gelingendes menschliches Leben ist. Diese Globalperspektive bedeutet freilich nicht, dass eine Fokussierung des Praxisbegriffs auf einzelne Handlungsvollzüge nicht stattfände: Vielmehr gelingt Praxis gerade dadurch, dass jemand entsprechend den unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Situation auf gute Weise aktiv ist. Eine solche Praxis durch dauerhaft erworbene, das Handeln prägende Charakterzüge des Einzelnen, die Tugenden, ermöglicht. Hierbei bewirken im aristotelischen Modell die ‚ethischen Tugenden‘, dass die emotionale Seite unseres Charakters auf ein maßvolles Handeln gerichtet ist, das im Einzelfall durch Zusammenwirken mit der Klugheit gelingt, einer spezifisch praktischen Form von Rationalität, welche im konkreten Handeln die richtigen Mittel und Wege finden kann. Der hiermit gegebene Fokus auf die Besonderheit einzelner Situationen und Akteure, aber auch auf die Einbringung von Wissen in den Vollzug einer Handlung macht die aristotelische Theorie bis heute zu einem dauernden, nicht überholten Referenzpunkt für das philosophische Nachdenken über menschliche Praxis.

|8|Eher indirekt berücksichtigt der aristotelische Ansatz auch ein Problem menschlicher Praxis, mit dem sich bereits Aristoteles’ Lehrer Platon auseinandergesetzt hatte: Wie lässt sich sicherstellen, dass menschliche Praxis nicht nur in der Sache erfolgreich ist, sondern auch tatsächlich gut und gerecht durchgeführt wird? Der damit angezeigten moralischen bzw. normativen Dimension guten Handelns (zu den Kriterien normativen Handelns s. Birnbacher 2003, 12–43) entspricht der aristotelische Ansatz insofern, als der aristotelische gute Akteur, der ‚Tüchtige‘ (ho spūdaios) mit Freude das Gute und somit auch das Gerechte tun wird; die von Platon insbesondere in der Politeia behandelten Fragen, warum es für den Einzelnen besser ist, gerecht, also moralisch gut, und eventuell (zumindest dem Anschein nach) erfolglos zu handeln als schlecht und erfolgreich, werden jedoch in der aristotelischen Philosophie nicht explizit adressiert: Aufgrund von Aristoteles’ Konzentration auf die begriffliche Klärung der Bestimmung des im Sinne des Glücklich-Seins (hē eudaimonia) gelingenden Lebens und der charakterlichen Voraussetzungen dafür, tritt die Frage danach, wann ein Handeln gerecht bzw. oder, wenn man so will, im moralischen Sinne gut ist, etwas in den Hintergrund.

Das ist der Punkt, an den die Position des Thomas von Aquin in besonders interessanter Weise anschließt: Thomas verbindet das aristotelische Konzept der Praxis mit einer Deutung der menschlichen Vernunft als ein ‚Naturgesetz‘, aufgrund dessen die Klugheit als praktische Vernunft sowohl grundlegende Ziele des menschlichen Lebens als auch Normen für das individuelle und das gesellschaftlich-staatliche Zusammenleben im Lebensvollzug realisieren kann. Zum Gegenstand philosophischer Theorie wird hierbei auch die Möglichkeit (für Personen und selbstregulierte Institutionen) von etablierter Praxis und geltenden Gesetzen sowie von verfestigten Gewohnheiten und Charakterzügen durch bewusste Willensentscheidungen abzuweichen, indem universale Regeln und Normen individuell berücksichtigt werden. Ermöglicht wird das insbesondere durch die differenzierte Beurteilung von Gesetzen mittels praktischer Vernunft als handlungsleitender Klugheit und kritisch urteilendem Gewissen. Eine Notwendigkeit zur Nichtanerkennung, Veränderung und Weiterentwicklung von Gesetzen sowie die Legitimität dieser kritischen Praxis selbst werden so berücksichtigt. Somit kann Thomas’ Ansatz als eine Theorie individuell-rationaler Selbstbestimmung vor einem normativen Horizont beschrieben und auf aktuelle Fragestellungen bezogen werden (vgl. Perkams 2008).

Im Folgenden sollen insbesondere diese drei Ansätze, in ihrer zeitlichen Abfolge, ihren Grundzügen nach vorgestellt und als Theorien rational geleiteter guter Praxis gedeutet werden. Zwischengeschaltet ist ein kurzer Abschnitt, der die wichtigsten systematisch-begrifflichen Entwicklungen nachzeichnet, welche die im Vergleich zur Antike veränderte Perspektive des Thomas von Aquin historisch bedingen. Schließlich folgt ein ausführliches Schlusswort.

|9|2. Die Praxis als Handlungsbeschreibung bei Platon

Platons Annäherung an die Problematik der Praxis geht von Sokrates’ Diskussionen mit den Sophisten aus, einer Gruppe von Denkern und Lehrern einer erfolgreichen politischen Lebensführung, die zu seiner Zeit großen Einfluss auf die Athener Oberschicht besitzt. Die grundsätzlichen Probleme, die Platon, vielleicht auf Anregung seines Lehrers Sokrates, in sophistischen Konzeptualisierungen der Praxis sah, ohne dass er diesen grundsätzlich ablehnend gegenübergestanden hätte, führen in seinem Frühdialog Charmides zu einer begrifflichen Hinterfragung des Konzepts von Praxis: Hier nimmt die Dialogfigur Sokrates die vom Politiker und Sophisten Kritias vorgetragene grundsätzliche Differenzierung des Handlungsbegriffs in ein nicht sittlich qualifiziertes Tun (griechisch poiein) und ein moralisch womöglich gutes Handeln nicht auf, das Kritias mit dem Verb prattein bzw. dessen substantivierter Form praxis, bezeichnen möchte. Insbesondere weist er die Annahme zurück, das Tun des Guten (griechisch praxis tōn agathōn) sei selbst die Tugend der Besonnenheit, da ja der (gute) Nutzen oder (schlechte) Schaden, der aus einer Handlung resultiere, auch dem besonnen Handelnden nicht unbedingt bekannt sei (Charmides, 163b–164c; vgl. Symposion 205b8–c2). Hier wird bereits deutlich, dass für Platon – wie für alle hier behandelten Autoren – die Behandlung menschlicher Praxis durch eine Analyse und Beschreibung des praktisch relevanten Wissens erfolgen muss, die durch rein begriffliche Unterscheidungen nicht zu leisten ist, da dies Wissen letztlich in der konkreten Situation angemessene Handlungsoptionen aufweisen muss, die entsprechend der Vielfalt der Praxis sehr vielfältig sein können.

Die Rolle des Wissens wird in dem etwas späteren Dialog Protagoras noch mehr herausgestellt, der von der These des Sophisten Protagoras ausgeht, dass Tugend grundsätzlich lehr- und lernbar sei, was Sokrates bezweifelt (320b). Als Antwort erklärt Protagoras mit einem Mythos die Unterschiede zwischen der Ausübung einer bestimmten Fertigkeit, z.B. der Heilkunst, die von bestimmten Menschen gelernt und gelehrt werden kann, sowie einer Tugend wie der Gerechtigkeit, die zwar allen Menschen in gleichem Maße zukommt, die aber auch von allen erlernt werden muss (321c–322d). Im weiteren Verlauf des Gesprächs werden die Schwierigkeiten des somit erforderlichen Lernprozesses durch konstantes Nachfragen des Sokrates verdeutlicht. Er hinterfragt insbesondere die Annahme, dass die Tugenden jeweils etwas Verschiedenes sind (328d–334c, 348c–353b), und stellt die These auf, dass jeder das tut, was er als gut, d.h. als lustbringend, erkannt hat (351d–360e).

Ähnliche Punkte werden auch im etwa zeitgleichen Dialog Gorgias angesprochen. Hier beginnt Platon mit einer Unterscheidung verschiedener Formen des Handelns nach deren Gegenständen, ob sie etwa auf körperliche Gegenstände oder auf Worte ausgerichtet sind (449c6–454a5). Diese Typologie wird auch hier zur Frage nach den auf die Polis bezogenen Tätigkeiten zugespitzt, die nicht nur im weitesten Sinn produktive Fertigkeiten sind, sondern nur mit einer sittlichen |10|Zielsetzung überhaupt sinnvoll vollzogen werden können. Rhetorische bzw. politische Lehre muss daher durch die Einbeziehung einer normativen Dimension fundiert sein, wie gegenüber den Sophisten festgehalten wird (454b5–461b2). In beiden Dialogen wird somit die politische Aktivität als herausgehobene Form von Praxis zum Thema, deren Behandlung freilich besondere Schwierigkeiten aufwirft, weil sie nicht wie ein spezifisches Handwerk vermittelt werden kann. Zwar wird auch für sie die Bedeutung des Wissens als Vergleichsgrundlage zwischen verschiedenen möglichen Handlungsalternativen herausgehoben, doch überwiegt insgesamt die Hinterfragung der sophistischen Positionen, also die eigentlich konstruktive philosophische Begriffsarbeit.

Auch in weiteren Dialogen bleiben die angesprochenen Themen zentral für die platonische Gedankenentwicklung, wobei die Wurzel prattein/praxis weiterhin häufig verwendet wird, um dasjenige Handeln zu beschreiben, das zum menschlichen Glück (eudaimonia) führt (Charmides 172a1–3; Euthydemos 279e3–6; vgl. Bien 1989, 1277). Handlungstheoretisch erweist sich dabei insbesondere als zentral, wie das für den Menschen Angenehme (hêdy) richtig zu verstehen ist: Auf die Dauer und im Ganzen fällt es für Platon mit dem sittlich Guten zusammen und ist durch dieses zu definieren (Protagoras 354a3–356c3), so dass das sittlich Gute nur erstrebt werden kann, allein weil es angenehm ist (Philebos 20e1–22a6).

Insgesamt gibt sich Platon nicht damit zufrieden, die (seiner Meinung nach) auf unreflektierte Nützlichkeitserwägungen abzielende sophistische Handlungstheorie mit Argumenten aus der Praxis selbst zu bekämpfen. Vielmehr sucht er zu einer begründeten Einschätzung des sittlichen Wertes menschlicher Handlungen zu gelangen, als deren Ausdruck er die philosophische Lebensführung ansieht, die sich gerade nicht an äußerem Erfolg orientiert (Gorgias 500c 1–9; Phaidon 69c3–d4; Euthydemos 282c1–d2; vgl. Kauffmann 1993, 79f.). Als Gegenmodell hierzu wird insbesondere die Disposition des recht Handelnden untersucht, die in der Politeia als die Gerechtigkeit (dikaiosynē) bestimmt wird, die durch die rechte Zuordnung der verschiedenen Elemente gekennzeichnet ist (Politeia 441d5–e7). Dass diese Zuordnung nicht beliebig ist, wird in der Politeia durch den Vergleich mit der Ordnung der Polis und im Gorgias durch einen mit der Struktur des Kosmos verdeutlicht (Gorgias 506d2–507a2). In den Nomoi ist es die rechte Beachtung des Ganzen gegenüber den unwichtigen Details, die das gute Handeln gegenüber dem Schlechten ausmacht (901b1–c6).

Diese sittlich-normative Perspektive sollte es verbieten, Platons Philosophie als „poiētisch“ im gleich zu erläuternden aristotelischen Sinne zu charakterisieren (vgl. Buchheim 1986, 131–135) obwohl die gleichsam objektive Beurteilbarkeit menschlichen Handelns ein wichtiger Punkt in der Auseinandersetzung Platons mit der Sophistik ist (Kratylos 386e5–387b7, in Bezug auf technisches Handeln), die auch zur Heranziehung ontologischer Gesichtspunkte bei der Beurteilung des Handelns führt (Philebos 18e3–19a2; vgl. Kauffmann 1993, 52–58). Auf diesem Weg führt die Frage nach dem rechten Praxiswissen hin zur Ideenlehre. Gegen die Annahme, dass das Bemühen um Sittlichkeit für Platon nur durch das |11|Streben danach, glücklich zu werden, motiviert sein kann bzw. darf, spricht andererseits das Gewicht, das er dem Guten als einer objektiven Größe beimisst. Es findet seinen deutlichsten Ausdruck in der herausgehobenen Stellung, die der Idee des Guten auch innerhalb bzw. jenseits des Seins der Ideenwelt zukommt (epekeina tês ūsias: Politeia 509b8f.). Hierbei wird die Idee des Guten sowohl als Grundlage jeglicher Erkenntnis als auch als Strebensziel thematisiert (vgl. Horn 2009, 166f.). Wenn auch die handlungstheoretischen Implikationen der Lehre von der Idee des Guten in der Politeia nicht ganz deutlich werden (vgl. Pfannkuche 1988, 169–183), so ist doch klar, dass die ontologische Dignität des höchsten Guten jedenfalls in die Beschreibung richtigen Handelns eingeht: Dieses muss dem Guten entsprechen, insofern es Autarkie (hikanon) und Vollkommenheit (teleon) aufweist (Philebos 20d1–10, 22b3–8; vgl. Kaufmann 1993, 61; Horn 2009, 162–164).

Ein konstanter Faktor von Platons Analyse des richtigen Handelns stellt weiterhin die Beschäftigung mit der praxisleitenden Vernunft dar, die er, wie gesagt, als entscheidend für die Bestimmung menschlicher Praxis ansieht. Im Phaidon wird diese Vernunft deutlich von den sekundären Ursachen für das menschliche Handeln abgehoben: Die Ursache dafür, dass Sokrates im Gefängnis sitzt, ist die durch Vernunft (nôi) begründete Meinung (doxa) der Athener, dass er sterben soll, bzw. seine eigene Meinung, dass es besser sei, das Urteil zu akzeptieren, als sich durch Flucht zu retten; die körperlichen Ursachen, die die Möglichkeit zur Ausführung dieser Ansichten geben, sind dem gegenüber sekundär (98b7–99b6; vgl. Politikos 281e 1–5). Auch noch in den späten Nomoi ist es die Vernunft, durch die jemand gut handelt, während das Fehlen vernünftiger Einsicht gleich zum schlechten Handeln führt (Nomoi 897b1–4). Im Hintergrund steht hier die Ansicht, dass der ganze Kosmos letztlich durch rationale Ursachen bestimmt wird, denen gegenüber auch die Wirkkraft der Gestirne sekundär ist (Nomoi 892b5–8).

Es ist also durchaus korrekt zu behaupten, dass die Praxis bereits ein zentrales Thema von Platons Philosophie darstellt, zu dessen Erhellung viele in den Dialogen verhandelte Gegenstände beitragen. Tatsächlich sind diese Überlegungen in vielerlei Hinsicht, z.B. im Hinblick auf die Möglichkeit der Erlernbarkeit von Praxis, bis heute aufschlussreich, wobei den Hinweisen auf die Notwendigkeit eines Bemühens um ein objektiv gutes Handeln besondere Bedeutung zukommt. Gerade die Vielfalt der Ansätze führt andererseits dazu, dass eine geschlossene Praxistheorie bei Platon noch nicht zu finden ist, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil er zu wichtigen Themen anscheinend keine abschließende Lösung erkennen kann. Das gilt insbesondere in der Frage nach dem Verhältnis von Glücksstreben und der Berücksichtigung objektiv geltender Normen, aber auch in der Frage, inwieweit ein Wissen allein, ohne Beteiligung anderer Seelenvermögen, ausreicht, um gute Praxis zu garantieren.

|12|3. Die Praxis und ihre Realisierung durch Klugheit und Tugend in Aristoteles’ Handlungstheorie

Eine Erklärung dieser Punkte in einer weitgehend kohärenten Theorie, in der auch die von Platon noch abgelehnte Unterscheidung von „Praxis“ und der sogenannten Poiēsis ihren Platz findet, kann als die Epoche machende Leistung des Aristoteles im Hinblick auf das Nachdenken über Praxis gelten.

3.1. Die Entfaltung des Begriffs Praxis im Unterschied zum Hervorbringen (Poiēsis)

Bei Praxis und Poiēsis handelt es sich für Aristoteles um zwei verschiedene Weisen menschlicher Aktivität. Den Unterschied beider macht er insbesondere an zwei Punkten fest:

[1] Jede Fertigkeit (technē) bezieht sich auf die Entstehung sowie das Fertigmachen und Betrachten (technazein kai theōrein), wie etwas von dem entsteht, was es geben und nicht geben kann und das seinen Ursprung im Hervorbringenden, aber nicht im Hervorgebrachten hat. […] Weil aber das Hervorbringen (poiēsis) und die Praxis etwas Verschiedenes sind, muss sich eine Fertigkeit auf das Hervorbringen, aber nicht auf eine Praxis beziehen. […] Denn das Ziel des Hervorbringens ist gewiss etwas Verschiedenes, das der Praxis aber nicht. Denn die gute Praxis ist selbst das Ziel.

[2] Deswegen glauben wir, dass Perikles und ähnliche Leute klug sind, weil sie das für sich und für die Menschen Gute betrachten (theōrein) können. […] Deswegen muss die Klugheit eine auf Praxis abzielende, mit Vernunft verbundene, in Bezug auf das Menschliche wahre Charakterhaltung sein.

[3] Aber gewiss gibt es für eine Fertigkeit eine Tugend (aretē), für die Klugheit aber nicht. Und in einer Fertigkeit ist der vorzuziehen, der freiwillig einen Fehler macht, im Hinblick auf die Klugheit aber weniger, so wie auch im Hinblick auf die Tugend. (Nikomachische Ethik [NE] VI 4, 1140a10–14, 16f.; 5, 1140b6–10, 20–24)

Der Kerngedanke dieser Stelle besteht in der Herausarbeitung von Praxis als einer spezifischen Weise des menschlichen Agierens: Neben der üblichen Weise der Aktivität, in der es uns darum geht, etwas zu produzieren oder zustande zu bringen, muss man eine Art von Aktivität annehmen, deren Ziel im guten Handeln selbst liegt.

Zur Verdeutlichung dieses Gedankens sind mehrere Bemerkungen zu machen: Mit „Hervorbringen“ ist hier nicht nur eine Herstellung im engeren Sinne gemeint, die dazu führt, dass ein materieller Gegenstand entsteht, sondern dieser Begriff ist auf jede Tätigkeit zu beziehen, die in erster Linie darauf abzielt, etwas zu erreichen, was vom Handelnden verschieden ist. Hierzu gehört also das Schreinern eines Tisches ebenso wie das Produzieren eines Buches. Aber auch das Erreichen eines sportlichen Ziels, wie etwas das Schießen eines Tors oder das Besteigen eines bestimmten Bergs, oder das Vermitteln einer bestimmten Lehre kann grundsätzlich zu diesem Bereich gerechnet werden, und wohl überhaupt jede Tätigkeit, deren Ziel im Verdienen des eigenen Lebensunterhalts liegt. Wie |13|diese Beispiele zeigen, können die Unterschiede zu Tätigkeiten, deren Zweck in ihnen selbst liegt, fließend sein, wenn man etwa das Betreiben von Sport, z.B. Fußball, oder das Musizieren als in sich selbst sinnvolle Tätigkeiten ansieht. Übrigens weisen diese Beispiele für inhärent wertvolles Handeln auf den wichtigen Punkt hin, dass eine Tätigkeit durchaus praktisch und poiētisch zugleich sein kann, wenn ein Musiker mit Freude ein Stück spielt und doch für den Auftritt bezahlt wird (vgl. Broadie 1991, 205–208).

Ähnliches gilt auch, wenn man den Sinn der aristotelischen Praxis etwas genauer eingrenzt: Die von mir als [2] und [3] gezählten Paragraphen weisen nämlich darauf hin, dass es Aristoteles nicht um jede möglicherweise selbstzweckliche Tätigkeit geht, sondern dass er eine noch spezifischere Form hiervon als Praxis bezeichnet: Seine Beispiele sind nicht zufällig der Athener Staatsmann Perikles und vergleichbare Weise, die sich dadurch auszeichnen, dass sie das für den Menschen Gute „betrachten“ können. Ebenso also, wie laut Abschnitt [1] zum Hervorbringen ein „Betrachten“ (theōrein) der Frage gehört, „wie etwas entsteht“, wird nun eine spezifische Kompetenz für die Praxis genannt, die Aristoteles als bekannt voraussetzt: Die Leistung dieses Vermögens, der „Klugheit“ (phronēsis), das sich im Wirken guter Politiker manifestiert, kann daher verdeutlichen, was als Praxis im aristotelischen Sinne zu gelten hat: Eine Aktivität, die konstant das gute menschliche Leben realisiert, indem sie für die menschliche Gemeinschaft direkt wirkt, und zwar, unter Leitung einer ihr angemessenen Rationalität, sowohl im Hinblick auf das Individuum selbst als auch im Hinblick auf politische Gemeinschaften.

Auf diese Weise erschließt sich dann auch, was näherhin mit der Aussage, dass „die gute Praxis selbst das Ziel ist“, gemeint ist. Sie verweist auf den Hintergrund von Aristoteles’ ethischem Ansatz im Ganzen: Für ihn besteht das Ziel des menschlichen Leben in einem Glücklich-Sein (eudaimonia), in dem die dem Menschen als Menschen gegebenen Möglichkeiten möglichst vollständig und dauerhaft realisiert werden (NE I 5f., 1097a15–1098b8; gezeigt im ‚Ergon-Argument‘: NE I 6, 1097b22–1098a20; Eudemische Ethik [EE] II 1, 1218b 31–1219a 39; vlg. Müller 2003, 514–542). Nur eine Aktivität, die diesem Anspruch gerecht wird, verfolgt wirklich keine Ziele, die außerhalb des Menschen liegen, sondern ihre Ziele liegen innerhalb ihrer selbst. „Denn wir wählen sozusagen alles um etwas anderen willen außer der Eudaimonia“ (NE X 6, 1176b30f.). Für Aristoteles kommen, wie er bekanntlich in Buch X der Nikomachischen Ethik erläutert (NE X 7f., 1177a12–1178b32), nur entweder eine theoretische Aktivität wie die des Philosophen oder eine praktisch-politische Aktivität als Realisierung der Eudaimonie infrage. Letztere ist, da die erste eher das Göttliche im Menschen betrifft (1177b30f.), im eigentlichen Sinne die Praxis im aristotelischen Sinne.

Den Unterschied einer solchen Praxis von einem „Hervorbringen“ verdeutlicht Aristoteles in Abschnitt [3] schließlich durch einen weiteren Gedanken: Die Tätigkeit eines exzellenten Hervorbringens kann auch darin bestehen, absichtlich etwas Fehlerhaftes zu produzieren: Zum Beispiel kann ein guter Büchsenmacher Gewehre produzieren, die ihr Ziel regelmäßig verfehlen, und ebenso kann ein |14|guter Fußballtrainer seine Mannschaft absichtlich so aufstellen, dass sie verliert. Für die Klugheit als der Praxis inhärente Rationalität ist das nicht möglich, sondern hier wäre ein absichtliches Verfehlen des menschlichen Gutes ein Zeichen dafür, dass eigentlich keine Klugheit vorliegt. Die Klugheit ist demnach eine „Tugend“, d.h. eine dauernde erworbene Charaktereigenschaft, die nur auf das Gute hinwirken kann, und zwar natürlich auch dann, wenn sie für ein konkretes Ziel, etwa ein neues gerechtes Gesetz, auf gleichsam „poiētische“ Weise arbeitet.

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681 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783846351345
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