Kitabı oku: «Praktische Theologie in der Spätmoderne», sayfa 7
Leben als Projekt
Wolfgang Fritzen / Stefan Gärtner
Das Leben der Einzelnen wird seit der Moderne zunehmend aus den scheinbar schicksalhaft feststehenden Vorgaben von Sozialstruktur und Tradition freigesetzt. Die eigene Identität verliert immer mehr ihre relative Selbstverständlichkeit, Stabilität und soziale Einbindung; sie wird als dynamische Wirklichkeit und als individuell zu bewältigende Aufgabe entdeckt. Das Selbstbewusstsein und der Wille zur Selbstbestimmung sind enorm gewachsen. Das Leben ist nicht mehr nur Schicksal, sondern zunehmend auch Gestaltungsnotwendigkeit.
Was zu Beginn der Moderne ein Privileg begüterter, männlicher und gebildeter Kreise blieb, kam aufgrund des Individualisierungsschubs im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Breite der Gesellschaft an. Die sozial vorgegebene Biographie wurde in die „selbst hergestellte und herzustellende transformiert“253, die Normalbiographie damit zur Wahlbiographie (Katrin Ley), reflexiven Biographie (Anthony Giddens), Bastelbiographie (Ronald Hitzler) und Risikobiographie (Ulrich Beck). Das Leben wird als einzigartige Aufgabe aufgefasst, die möglichst selbstbestimmt und innovativ gelöst werden muss. Dem Individuum werden gleichermaßen Freiheit wie Verantwortung für das Lebensprojekt übergeben; der Einzelne muss „zum biographischen Planungsbüro seiner selbst werden“254. Daher tritt ein entsprechendes Selbstmanagement ins Zentrum der Lebensgestaltung.
Das Leben als Projekt wird so zu einem anspruchsvollen Unterfangen. Sein Gelingen und sein Scheitern liegen beim Individuum selbst. Es erlebt sich als Produzenten der Risiken und Kontingenzen, die seine Biographie prägen.255 Die Ambivalenzen der spätmodernen Gesellschaft schlagen direkt auf den Einzelnen durch. Denn der Schutz traditioneller sozialer Rückbindungen wie Familie, Nachbarschaft oder Kirchengemeinde ist zumindest teilweise perforiert.256
In der Folge werden das eigene Leben und die darin abverlangten Entscheidungen zum Gegenstand expliziter Thematisierung und permanenter Reflexion.257 Für jede Festlegung, die man trifft, muss man sich rechtfertigen können. Personale Identität kommt in der Spätmoderne durch Reflexion auf sich selbst als Projekt zustande.258 Der Projektcharakter des Lebens impliziert die Aufforderung zur Selbstkritik und zur Selbstbespiegelung.
1. Zwang zur Freiheit – Erfahrung der Verunsicherung
Ohne Frage ist in der Spätmoderne die Freiheit zum Lebensentwurf gestiegen. Niemand wird die Chancen zur Verwirklichung eigener Ideen missen wollen. Doch die Gestaltung des Lebens ist nicht nur eine Lust, sondern auch eine Last, und sie geht mit Verunsicherungen einher. Die zunehmende Ablösung sozialer Praktiken von konkreten Orten und spezifischen Zeiten wie von natürlichen und traditionalen Vorgaben führt zu einem disembedding der/des Einzelnen.259 Die gesellschaftliche Individualisierung hat ein Janusgesicht, das gleichzeitig Freisetzung und Entwurzelung bedeutet.260 Die Frage ist zunehmend virulent, woher man wissen kann, was man wollen soll. Außerdem wird deutlich, dass man von immer mehr Wahlmöglichkeiten faktisch ausgeschlossen bleibt.
Die Spannung zwischen dem Bestreben, nur man selbst zu sein, und der Schwierigkeit, dieses Projekt zu verwirklichen, kann zu Depression und Sucht führen – Krankheiten, die als typische Störungen des Subjekts in der Spätmoderne auszumachen sind.261 Die Unsicherheit in der Organisation des Lebens erklärt auch den Erfolg des Beratungswesens in Fragen des Berufs, der Partnerschaft, der Gesundheit, der Freizeit oder des Stils. Manchmal steht im Hintergrund der Wunsch nach einfachen und fertigen Antworten. Entsprechende Angebote auf dem Psycho-Markt, aber auch religiöser Fundamentalismus oder politischer Extremismus sind für manche attraktiv.
Die Entstehung zeittypischer Erkrankungen sowie eines lebensanschaulichen Marktes verweist auf die materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen, die zur eigenverantwortlichen Gestaltung des Lebens notwendig sind.262 Längst nicht allen Menschen sind diese Ressourcen in ausreichendem Maße zugänglich, bedingt etwa durch Herkunft, Gesundheitszustand, Geschlecht oder soziale Stellung.263 Trotzdem bleibt auch für sie der Anspruch bestehen, das Leben als Projekt zu führen, selbst wenn sie dazu manchmal kaum in der Lage sind.
Die Erwartung, das Leben als Projekt zu begreifen, wirkt also an und für sich normativ. Es gibt einen Zwang zur Freiheit. Man kann sich diesem Anspruch nicht entziehen. So wird Entscheidungen mit Skepsis begegnet, die den Projektcharakter des Lebens scheinbar begrenzen, ob es nun um den Zölibat oder die dauerhafte Übernahme von Pflege- und Versorgungstätigkeiten für einen chronisch Kranken geht. Projektmäßige Lebensführung impliziert gerade eine prinzipielle Offenheit, die jede Festlegung vorläufig und veränderbar erscheinen lässt. Der Lebensentwurf soll so viele Optionen wie möglich beinhalten. „Project identity […] refers to the capacity of human subjects to envision different and alternative futures.“264 Alles wäre auch anders möglich bzw. sollte anders möglich sein.
2. Illusion der Freiheit – Erfahrung der Fremdbestimmung
Während die auf dem Individualisierungstheorem beruhende Perspektive die Freisetzung des Individuums aus traditionalen und soziostrukturellen Vorgaben betont, wird von anderer Seite kritisch gefragt, ob die Enttraditionalisierung tatsächlich zu mehr Autonomie geführt hat. Der emanzipatorische Impetus der Individualisierung entpuppt sich als ambivalent. Wer sein Leben als Projekt führt, wird dadurch nicht schon autonomer. Denn die Lebensführung unterliegt in der Spätmoderne neuen Zwängen, etwa denen des Mediengebrauchs, dem Primat der Erwerbsarbeit, den Konsumansprüchen oder dem Gesundheitspostulat. Es finden heute also paradoxerweise „gleichzeitig standardisierende und destandardisierende Prozesse statt“265. Ungekannte Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten treffen auf neue Einschränkungen.
Diese drücken sich nicht nur als äußerer Zwang aus. Vielmehr internalisieren die Individuen die homogenisierenden Vorgaben der Sozialwelt. Die Verinnerlichung der Affekt- und Handlungskontrolle, die gesellschaftlich erwünscht und ökonomisch nützlich ist, wirkt als Selbstzwangapparatur.266 Der Individualisierungsprozess führt darum nicht nur zu einem Mehr an Entscheidungsfreiheit, sondern auch zu einer Destabilisierung der Idee einer mit sich selbst identischen Persönlichkeit: Deren vermeintliche Autonomie droht sich auf kluge Umweltassimilation zu beschränken.267
Das Element der subtilen Fremdbestimmung kann auch und gerade in spätmodernen Gesellschaften nicht geleugnet werden. Zwänge der Arbeitswelt, soziale Geschlechterkonstruktionen, prägende Vorgaben der Massenmedien, staatliche Normierungen etc. greifen tief in das Leben der Einzelnen ein. Umgekehrt entziehen sie sich weitgehend deren Zugriff. Die Betrachtung des Lebens als Projekt ist nur realitätsnah, wenn damit nicht nur besonders originelle und nonkonformistische Formen gemeint sind. Sie muss neben dem Original auch „das inszenierte Originäre wie auch das gewählte Standardisierte des ‚eigenen‘ Lebens gleichermaßen“268 umfassen bzw. die fließenden Grenzen zwischen diesen Formen.
3. Grenzen der Freiheit – Erfahrung der Kontingenz
Das Leben als Projekt aufzufassen, erinnert an die Sprache der Bauplanung. Selbst bei geschickter Konzeption ist aber mit dem Unplanbaren und Ungeahnten zu rechnen.269 Dies gilt umso mehr mit Blick auf die Biographie. Es kann viel ‚dazwischenkommen‘ wie Krankheit oder Behinderung, Arbeitslosigkeit oder Beziehungsabbruch, der Tod geliebter Menschen. Umgekehrt gibt es unerwartete Glücksfälle, wie hilfreiche und schöne Begegnungen oder unverdiente Möglichkeiten.
Die Kontingenz des Lebens bleibt also bestehen, auch wenn man es als Projekt auffasst. Dies durchkreuzt die Idee der Planbarkeit, die dem Projektgedanken zugrunde liegt. Kontingenzerfahrungen brechen Lebensprojekte – manchmal gewaltsam – auf und ab, sie eröffnen aber auch neue Chancen. Auch in dieser Hinsicht erscheint die Autonomie des Individuums als „eine optimistische Illusion“, wenn nicht gar als „ein Ideologem“270. Das Leben ist offenbar weniger ein Gesamtkunstwerk, das das Individuum selber gestaltet, als vielmehr eine Reise ohne Reiseleitung, Kartenmaterial und fertiges Konzept.
Der Projektgedanke lässt die Verfügung des Menschen über sein Leben dagegen absolut erscheinen. Entsprechend wird der maßgebende Einfluss von Kontingenzen geleugnet. Der Mensch soll nicht durch Zufälle, sondern durch seine bewussten Entscheidungen bestimmt sein. Er soll möglichst ausschließlich das Resultat seiner Absichten sein. Realistischer ist aber wohl die umgekehrte Sichtweise: „Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.“271
4. ‚Leben als Projekt‘ im praktisch-theologischen Diskurs
Das Leben als ein Projekt zu bezeichnen, erscheint vor dem Hintergrund dieser Überlegungen als fragwürdig, wenn nicht gar als zynisch: Angesichts der Verunsicherung durch die Freiheit, des Illusionären der Freiheit und ihrer faktischen Grenzen ist diese Betrachtungsweise einseitig und tendenziell schädlich. Dennoch haben wir in den Lebensprojekten der Spätmoderne „keine andere Wahl, als zu wählen“272. Es gibt keine Alternative dazu, sein Leben selbst zu organisieren und zu verantworten. Das Projekthafte des Lebens bleibt somit Ideal, Lust und Last.
Entsprechend ist eine reflexive Art der Lebensführung gefragt. Sie kreist um die Frage, wie wir nach dem Ende der selbstverständlichen Herrschaft von Natur, Sozialwelt und Tradition angesichts einer Fülle von Informationen und Optionen leben sollen. Die Menschen der Spätmoderne zu einer reflektierten und eigenverantwortlichen Lebensführung zu ermächtigen, ihnen bei ihrer Ausformung vom Evangelium her kritisch beizustehen und die Verhinderung von Lebensmöglichkeiten für alle prophetisch zu bekämpfen, sind wichtige Aufgaben einer zeitgemäßen Pastoral.
Auch die praktisch-theologische Reflexion kann an den genannten Beobachtungen nicht vorbeigehen. Zu Recht gehört die Biographie zu den „key concepts, which more recently have found wide acceptance in practical theology“273. Praktische Theologinnen und Theologen werden daher kritisch analysieren, inwiefern Kirche und Pastoral den Menschen bei der Lust und Last ihres Lebensprojekts hilfreich sind. Denn es gerät „die Selbstthematisierung, Selbstreflexion, Selbstvergewisserung – die Frage nach der persönlichen Identität – zunehmend zum zentralen religiösen Thema“274. Für den praktisch-theologischen Diskurs ist zu fragen, ob und wie die Ambivalenzen eines Lebens als Projekt in den Blick kommen und inwiefern er einen Beitrag zur Ermächtigung zu einer Lebensführung leistet, die ebenso situationsgerecht wie evangeliumsgemäß ist.
Multiperspektivität
Renate Wieser
1. Die immer schon multiperspektivische Rede von Gott
„Theology that is not written as a life told four
ways already departs from the most authoritative
model for Christian writing.“275
Das obige Zitat verweist auf das Faktum, dass das Christentum schon in seinen Anfängen keineswegs eine monoperspektivische Religion war, ist ihm doch die Multiperspektivität und Pluralität der Zugänge in seine Genese und Grundlagen zutiefst eingeschrieben: In vier Versionen wird uns das Wirken eines jüdischen Messias überliefert, den die frühe, bereits die jüdischen Grenzen überschreitende Kirche bald als zweite Person des trinitarisch gedachten Gottes bekannte – inkarniert und damit unausweichlich kontextuell und unhintergehbar situativ „im Fleisch“, ganz Mensch und ganz Gott.
Es brauchte in der Folge nicht unerhebliche diskursive und nicht-diskursive Machtmittel, um diese in der leiblichen Vielfalt und kontextuellen Situiertheit des Lebens und Glaubens wurzelnden Anfänge durch das stillzustellen, was Laurel C. Schneider in ihrem Versuch, eine theology of multiplicity zu denken, the logic of the One nennt – ein geschlossenes System ohne Platz für Ambiguitäten, Öffnungen, Unfertiges und Unverstandenes, ein System vermeintlich ohne Brüche und Spalten, ohne Anderes und Fremdes seiner selbst, ein System, in dem Gott als das Synonym für das Eine, das Unteilbare, das Absolute, die Totalität stand.276 Allerdings wird diese logic of the One weder der Vergangenheit noch unserer aktuellen, spätmodernen Gegenwart gerecht:
„For all its success, however, the logic of the One simply doesn‘t work well enough any more to satisfy far-reaching questions about either divinity or the world. The logic of the One is not wrong, except, ironically, when it is taken to be the whole story. Rather than false, it is incomplete. The logic of the One (and the concept of God that falls within it) is simply not One. There is always less, and more, to the story.”277
2. Von der Utopie der einen Wahrheit zur Hypertopie der Beschreibungen
Wenn es ein „Herzwort“278 der Spätmoderne gibt, dann ist es das der Pluralität, die gegenwärtig wohl historisch erstmalig die Fundamente der Gesellschaft betrifft, in ihrer verdichteten Radikalität wahrgenommen wird und die wissenschaftliche Reflexion sowie soziale und individuelle Realitäten zutiefst durchdringt.
So macht die soziologische Analyse auf der Mikro- wie auf der Makroebene auf die grundlegenden Differenzen innerhalb der Gesellschaft aufmerksam, welche als Ausdruck dieser radikalen Pluralität zu verstehen sind. Auf der Mikroebene bietet sich dem Individuum – nach der Freisetzung aus den Zwängen und letzten Sicherheiten einer traditionalen und damit ständisch-feudalen Ordnung durch die Individualisierungsprozesse der letzten 200 Jahre – die Möglichkeit zur hochindividuellen Ausgestaltung der eigenen Biographie, zur Wahl unterschiedlichster Lebensweisen und Sinnkonzeptionen (wobei unbestritten bleibt, dass dadurch auch neue Zwänge entstehen).279 Auf der Makroebene stellt sich die westliche Welt gegenwärtig als funktional differenzierte Gesellschaft dar, deren Subsysteme (Wirtschaft, Politik, Familie, Religion usw.) in ihrer Systemlogik durch je unterschiedliche binäre Codes (z. B. Politik: Macht/Ohnmacht; Religion: Transzendenz/Immanenz) hervorgebracht werden, so dass im 21. Jahrhundert die Konfrontation mit verschiedenen Perspektiven und Logiken – synchron wie auch diachron, intra- wie interkulturell, zwischen den einzelnen Subsystemen wie auch innerhalb der eigenen Identitätskonstruktion – in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen angekommen ist:
„Wenn es ein besonderes Merkmal der modernen Welt im Vergleich zu früheren gibt, dann ist es die Tatsache, dass diese Welt von unterschiedlichen, konkurrierenden, sich ergänzenden, voneinander unabhängigen, aufeinander bezogenen, widersprüchlichen, auch völlig inkompatiblen Beschreibungen aller möglichen Sachverhalte nur so strotzt. […] Die moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Zentrum, ohne Zentralperspektive – und da das von allen denkbaren Perspektiven her sichtbar werden kann, ist es diese Unvermitteltheit der Perspektiven, die diese miteinander vermittelt.“280
Radikale Perspektivendifferenz – das verweist auf die Grunderfahrung von Modernität, nämlich mit Unterschiedlichem konfrontiert zu werden. Denn so funktioniert das spätmoderne Leben: „schnell und multiperspektivisch, kaum steuerbar und doch permanent unter Regulierungsdruck, befasst mit lebenswichtigen Entscheidungen und doch ohne Zentrum, von dem her sich das Ganze erschließt.“281 Die Welt sieht aus unterschiedlichen Perspektiven, in unterschiedlichen Kontexten und im Hinblick auf unterschiedliche praktische Erfordernisse radikal anders aus; alle könnten recht haben, obwohl sie sich doch zum Teil erheblich widersprechen.
Spätmoderne Gesellschaften sehen davon ab und haben auch nicht mehr die Möglichkeit, diese Perspektivendifferenzen – z. B. durch machtförmige Durchsetzung und Etablierung einer Gesamtperspektive auf Gott und die Welt – zu unterdrücken und damit stillzustellen, und das führt direkt zu jener Krisenhaftigkeit der Moderne,
„die nie stillsteht und die gerade dadurch zusammengehalten wird, dass ihre Perspektiven auseinanderstreben – und doch aufeinander bezogen bleiben. Deshalb gibt es keine endgültige Beschreibung, und deshalb müssen wir immer weiter kommunizieren, deshalb verdoppeln wir permanent die Welt. Aber je mehr wir sie beschreiben, desto uneindeutiger wird sie – und je uneindeutiger sie ist, umso mehr Bedarf gibt es, sie zu beschreiben.“282
In unserer Welt ist die Utopie der einen Wahrheit hinter den vielen Plausibilitäten unvermeidlich und unhintergehbar verschwunden und hat einer Hypertopie Platz gemacht – einer Vervielfältigung der Beschreibungsorte und -gelegenheiten.283
3. Wissen im Plural
Schon Thomas S. Kuhn – im Gefolge von Friedrich Nietzsche und Edmund Husserl, später dann noch radikaler Paul Feyerabend – betont gegen den objektiven Schein der Wissenschaft die vorrationale Basis der ForscherInnen in der Forschergemeinschaft, hat doch „jede frühere Wissenschaft […] Glaubenselemente eingeschlossen, die mit den heute vertretenen unvereinbar sind.“284 Bekanntlich sieht er sich angesichts der Erkenntnis, dass das, „was ein Mensch sieht, […] sowohl davon abhängt, worauf er blickt, wie davon, worauf zu sehen ihn seine visuell-begriffliche Erfahrung gelehrt hat“285, veranlasst, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen, infolgedessen angesichts der Pluralität möglicher Modelle der Wirklichkeitserfassung oder -beschreibung auch Begriffe wie wissenschaftlicher Fortschritt und wissenschaftliche Objektivität relativiert bzw. fraglich werden.
Vor diesem Hintergrund wurde auch zunehmend klar, dass Wissen strukturell immer mit Perspektivität verbunden und ohne Perspektivität nicht zu haben ist – Wissen ist demnach nie endgültig wahr, zumindest nicht im Sinne eines korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs. Alle Interpretationen und Beschreibungen der Wirklichkeit implizieren immer eine bestimmte Perspektivität, und Überlieferungen lassen sich nur als komplexes, spannungsreiches und widersprüchliches Konglomerat perspektivischer Sichten auf die Realität sehen.286 Eine multiperspektivische Betrachtung ermöglicht es, mehrere Blicke von verschiedenen Seiten auf die Gegenstände zu richten und zu erkennen, dass das Bild, das dabei entsteht, abhängig ist vom Standpunkt, der jeweils eingenommen wird. Es wird dabei sogar deutlich, dass erst die Perspektive den Gegenstand der Betrachtung konstituiert. Idealtypisch vereinfacht kann mit Wolfgang Sander diese Konstruktion der Wirklichkeit auf drei Ebenen festgemacht werden:287
(1) Ebene der biologischen Determination:
Die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Sinnesorgane führen zu einer bestimmten, spezifischen und perspektivischen, aber eben keinesfalls objektiven Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt.
(2) sozio-kulturelle Ebene:
Ein Blick in die Geschichte der Menschheit offenbart eine Vielfalt an realisierten Lebensformen, eine Vielzahl von höchst unterschiedlichen Welt- und Wirklichkeitsverständnissen. Da die Art und Weise der Organisation und Gestaltung des Zusammenlebens nur wenig determiniert ist, wurden je nach Gesellschaft, sozialer Gruppe, Religion, weltanschaulicher Gemeinschaft oder kulturellem Großraum spezifische Vorstellungen von (sozialer) Wirklichkeit hervorgebracht; zu beachten ist, dass speziell auf dieser sozio-kulturellen Ebene immer auch kollektive Bedürfnisse und Interessen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse zur Geltung kommen.
(3) Ebene der individuellen Deutung der Welt:
Unterschiedliche genetische Dispositionen, Lebenserfahrungen und Weltverständnisse führen zu Konstruktionen von Wirklichkeit, die auch zwischen den einzelnen Menschen variieren. Wenn es bisher auch keiner Gesellschaftsform gelungen ist, diese Ebene der Konstruktion der Wirklichkeit durch massiven Anpassungsdruck völlig zum Verschwinden zu bringen, ist allerdings
„der Spielraum für individuell differente Konstruktionen der Wirklichkeit nicht zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften gleich groß […], sondern hängt vom Grad der Differenzheit der für Einzelnen erfahrbaren sozialen Welt, aber auch von der normativen Akzeptanz einer Vielfalt von Weltverständnissen ab […], die bekanntlich nicht in allen Gesellschaften gleich groß war und ist.“288
Ein konstruktivistisches Wissensverständnis macht darauf aufmerksam, dass die Vorstellung eines endgültig gesicherten Wissens illusionär ist. Zwar kreieren Wissenschaften durchaus immer mehr und immer neues vorläufig gesichertes Wissen, aber letztlich vervielfältigen sie damit zugleich die Perspektiven, unter denen die Welt betrachtet werden kann. Jede neue Erkenntnis führt zu einer Reihe neuer offener Fragen, und damit wächst mit der Vervielfältigung wissenschaftlichen Wissens auch das Nichtwissen.289