Kitabı oku: «TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller», sayfa 6
1 Herta Müller: »Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. Roman«, Reinbek 1997, S. 7. — 2 Herta Müller: »Der Fuchs war damals schon der Jäger. Roman«, Reinbek 1992. — 3 Herta Müller: »Herztier. Roman«, Reinbek 1994. — 4 Hierin sowie im anderen historischen und thematischen Fokus liegt eine wesentliche Differenz zum Roman »Atemschaukel« (München 2009), der im Austausch mit Oskar Pastior entstand und dessen Erlebnisse autofiktional gestaltet. Literarästhetische Einwände u. a. gegen die Metaphorik in »Atemschaukel«, die manche Kritiker unter Kitschverdacht stellten und als »parfümiert und kulissenhaft« kritisierten (vgl. Iris Radisch: »Kitsch oder Weltliteratur? Gulag-Romane lassen sich nicht aus zweiter Hand schreiben. Herta Müllers Buch ist parfümiert und kulissenhaft«, in: »Die Zeit«, 20.8.2009; https://www.zeit.de/2009/35/L-B-Mueller-Contra, aufgerufen am 15.4.2020), mögen sich aus der Dissoziation von fremder Biografie und Fiktion erklären. Müller selbst akzentuiert die gemeinsame Autorschaft an der Fiktion des Faktischen: »wir schrieben (…) miteinander erfundene Realitäten«. Herta Müller: »Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel«, München 2011, S. 129. — 5 So zum Beispiel Moyrer über »Herztier«. Monika Moyrer: »›Herztier‹«, in: Nobert Otto Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, Stuttgart 2017, S. 41–49, hier S. 46; doch handelt es sich hier um eine Stoff- und Autorin-spezifische Stilistik, welche die drei Ceauşescu-Romane eint und eben für andere Romane, den Ankunftsroman »Reisende auf einem Bein« (Berlin 1989) oder den Gulagroman »Atemschaukel« (München 2009) nur bedingt gilt und ›funktioniert‹. — 6 Norbert Otto Eke: »Schönheit der Verwund(er)ung. Herta Müllers Weg zum Gedicht«, in: »TEXT + KRITIK«, H. 155 (2002): »Herta Müller«, S. 64–79, hier S. 70. — 7 Herta Müller: »Niederungen. Prosa«, Bukarest 1982 (Berlin 1984; München 2010). — 8 Herta Müller: »Hunger und Seide. Essays«, Reinbek 1995. — 9 Vgl. Moyrer: »›Herztier‹«, a. a. O., S. 45. — 10 So etwa Paola Bozzi: »Autofiktionalität«, in: Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, a. a. O., S. 158–167, hier S. 158. — 11 Dass Fantasie als ambivalentes Potenzial Teil einer Art poetischen Anthropologie bzw. einer anthropologischen Poetik ist, erhellt daraus, dass bildmächtige Sprache, hyperbolische oder unheimliche Vorstellungen sich in Tradition und Brauchtum (»Niederungen«) ebenso ausmachen lassen wie in den subtilen Demütigungen der staatlichen Überwachung, deren Perfidie darin besteht, nicht wirklich verborgen zu arbeiten, sondern mit Zeichen auf ihre verborgene Allgegenwart zu verweisen (»Der Fuchs …«). In den Romanen wird diese Poetik zugleich zum Signum der Zeugenschaft sowie von deren Sprache. — 12 Herta Müller: »Die Nacht ist aus Tinte gemacht. Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat«, 2 Audio-CDs, Berlin 2009. — 13 Müller: »Der Fuchs war damals schon der Jäger«, a. a. O., S. 11. — 14 Müller: »Herztier«, a. a. O., S. 285 f. — 15 Helgard Mahrdt »›Man kann sich doch nicht mit einer Katastrophe versöhnen‹. Herta Müller: Einführung in Leben und Werk«, in: Helgard Mahrdt / Sissel Lægreid (Hg.): »Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller«, Würzburg 2013, S. 27–54, hier S. 35. — 16 Vgl. René Kegelmann: »Figurenkonstellationen«, in: Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, a. a. O., S. 176–184, hier S. 181. — 17 Müller: »Heute wär ich mir lieber nicht begegnet«, a. a. O., S. 240. — 18 Müller: »Herztier«, a. a. O., S. 5. — 19 Ebd., S. 35. — 20 Die kontraintuitive Verwendung von Weiß nicht als Farbe der Unschuld, sondern als Farbe einer Schuld, die nicht nachgewiesen werden kann, wie sie im Ausdruck »weiße Weste« anklingt, wird bei Müller systematisch eingesetzt, etwa in »Heute wär ich mir …«, wo die Farbe u. a. im Namen des verhörenden Offizier Albu anklingt. Vgl. Ute Weidenhiller: »›Heute wär ich mir lieber nicht begegnet‹«, in: Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, a. a. O., S. 50–58, hier S. 52–54. — 21 Müller: »Herztier«, a. a. O., S. 156. — 22 Vgl. Moyrer: »›Herztier‹«, a. a. O., S. 48. — 23 Müller: »Herztier«, a. a. O., S. 252. — 24 Ebd., S. 45. — 25 Vgl. zur autobiografischen und poetischen Bedeutung des Verfahrens Sanna Schulte: »Blicken und Schreiben (Der ›Fremde Blick‹)«, in: Eke (Hg): »Herta Müller Handbuch«, a. a. O., S. 185–190, hier bes. S. 185–187. — 26 Vgl. etwa Müller: »Der Fuchs war damals schon der Jäger«, a. a. O., S. 44 bzw. 70. — 27 Vgl. ebd. — 28 Vgl. ebd. — 29 Alexandra Pontzen: »›Der Fuchs war damals schon der Jäger‹«, in: Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, a. a. O., S. 31–40, hier S. 34.
Bettina Bannasch
»Aber ich bin nicht mein Fleisch« Herta Müllers Roman »Atemschaukel«
Herta Müllers 2009 erschienener Roman »Atemschaukel« verhandelt, mit Warlam Schalamow gesprochen, die »Kernfrage unserer Epoche«: »Das Lagerthema, weit gefasst, prinzipiell betrachtet – ist die größte, die Kernfrage unserer Epoche. Ist denn die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat? Diese Frage ist viel wichtiger als die des Krieges.«1 »Atemschaukel« ist vermutlich jener Roman Herta Müllers, dem bisher die größte öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Seine Sonderstellung verdankt sich dabei jedoch nicht so sehr der Thematisierung des Lagers als dem Zufall seines Erscheinungsdatums. Müllers Bekanntheit und auch ihr Status als öffentliche Figur änderte sich entscheidend und nachhaltig mit der Vergabe des Literaturnobelpreises; zuvor war sie lediglich einem literarisch interessierten Publikum bekannt, dies allerdings schon seit ihrem ersten, in den Feuilletons viel beachteten Erzählband »Niederungen«, dies auch durch die zahlreichen Preise, mit denen sie vor dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war. Der breiteren Öffentlichkeit aber, die sich die Frage »Herta ‒ who?« stellte und sich möglichst schnell einen Eindruck von Müllers Werk zu verschaffen suchte, bot sich im Jahr 2009 »Atemschaukel« als die neueste Veröffentlichung der Autorin an. In den Folgejahren behauptete »Atemschaukel« seine Sonderstellung, wenn auch aus anderen Gründen. Folgte doch auf diesen Roman – die in dem Buch »Die Akte Christina« dokumentierte Auseinandersetzung mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate ausgenommen – kein längerer Prosatext mehr. Mit der Hinwendung zu den Collage-Arbeiten, die seither erschienen, bezeichnet »Atemschaukel« im Werk Herta Müllers eine Wende.
Sie wurde so ausgerechnet mit einem Roman bekannt, der im Rahmen ihres Gesamtwerks als eine Ausnahme wahrgenommen wurde und wird. Denn »Atemschaukel« erzählt nicht, wie die Erzählungen und die vorangegangenen Romane, von den Erfahrungen unter der rumänischen Diktatur, der Ausreise nach Deutschland und dem langen Arm der Securitate, der bis ins deutsche Exil reichte. In diesem Roman scheint das für Müller charakteristische Erzählverfahren »autofiktionalen Schreibens« aufgegeben zu sein. »Atemschaukel« erzählt stattdessen die Lebensgeschichte des rumäniendeutschen Mannes Leo Auberg, der sich an seine Internierung als Siebzehnjähriger in einem sowjetischen Lager erinnert. Seine Geschichte steht für viele Rumäniendeutsche, die nach 1945 in sowjetische Lager verschleppt wurden; man wies der deutschsprachigen Minderheit die Schuld an der rumänischen Kollaboration mit den Nationalsozialisten zu. Von den Verschleppungen waren insgesamt zwischen 70 000 und 100 000 Menschen im Alter von 17 bis 45 Jahren betroffen, etwa 60 Prozent davon Frauen, unter ihnen auch die Mutter Herta Müllers. Die ersten Verschleppten kehrten 1949, die letzten 1952 zurück, einige wenige erst 1956. Etwa ein Drittel der Inhaftierten kam in den Lagern zu Tode.2
Müllers Protagonist Leo Auberg überlebt das Lager, doch bleibt er zeitlebens durch seine Lagererfahrung traumatisiert. In insgesamt 64 kurzen Kapiteln – neun davon Kürzestkapitel, die so etwas wie die Quintessenz des Romans bilden – umkreist der Roman in den verstörten und in kleinste Details zersplitterten Erinnerungen Leo Aubergs seine im Lager erlittenen seelischen Beschädigungen. Es sind zumeist wenig spektakuläre Ereignisse, die aufgerufen und mit großer Detailgenauigkeit beschrieben werden.
Die Entscheidung für ein solches Erzählen beleuchtet ein Essay, den Herta Müller über die Autobiografie einer Shoah-Überlebenden, Ruth Klügers Autobiografie »weiter leben«, geschrieben hat. Darin wendet sie sich gegen einen Gestus der unbestimmten ›Betroffenheit‹ und fordert eine größtmögliche Genauigkeit. Es ist ebenso eine stilistische wie eine ethische Forderung. »Die Autorin«, so schreibt Herta Müller über Ruth Klüger, »setzt keinem Toten ein Denkmal. Sie wehrt sich gegen ›Ehrfurcht, die leicht umschlägt in Ekel‹. Sie hebt keinen Toten auf die Höhe des Sockels hinauf. Stattdessen in die Höhe des genauen Blicks.«3
In ihrer Anschaulichkeit und Alltäglichkeit weisen die Lagererfahrungen in Klügers Autobiografie wie auch in Müllers Roman »Atemschaukel« über die Grenzen des Einzelfalls hinaus. Sie erlauben und provozieren Vergleiche – und mit ihnen die Reflexion dieser Vergleiche –; im Falle Herta Müllers erweitern sie zudem den Begriff des Lagers auf totalitäre Strukturen überhaupt. Die in »Atemschaukel« beschriebenen Erinnerungen werden damit auch in Beziehung gesetzt zu den Überwachungs- und Bedrohungsszenarien der rumänischen Diktatur, die in den früheren Erzählungen, Romanen und Essays von Herta Müller verhandelt werden. »Atemschaukel« ist somit sehr viel enger in das autofiktionale Gesamtwerk Müllers eingebunden, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Nachdrücklicher jedoch als in ihren anderen Prosaarbeiten bezieht Herta Müller über intertextuelle Anspielungen und Bezüge einschlägige Texte der Shoah- und Gulagliteratur in ihre Arbeit an diesem Roman ein. Vor allem aber bezieht sich »Atemschaukel« auf die Aufzeichnungen eines anderen, mit Müller eng befreundeten Autors, der sich an seine eigenen Lagererfahrungen erinnert: auf die Notizen des aus Siebenbürgen stammenden, ebenfalls rumäniendeutschen Autors Oskar Pastior. Als Siebzehnjähriger wurde er für fünf Jahre in ein sowjetisches Lager verschleppt. Wie Müller so bekennt sich auch Oskar Pastior prinzipiell zu der biografischen Prägung seines literarischen Werks. »Der Autor«, so bemerkt Pastior lakonisch, »steht in der Auslage. Ich plädiere für heiteres Dazustehen. Selbst im Schmerz, selbst in der Skepsis. Die Lyrik will nicht Wahrheiten der Umwelt, sondern Wahrheiten der Seele, der Reaktion. Also recht individuelle Wahrheiten.«4
Eine wirkmächtige Kritik, die bald nach dem Erscheinen von »Atemschaukel« formuliert wurde, nimmt daran Anstoß, dass Müller sich ausgerechnet bei einem so heiklen und intimen Thema wie der Lagererfahrung bei dem biografischen Material eines anderen bedient und gewissermaßen in einem unstatthaften Akt der übergriffigen Aneignung die Ich-Perspektive wählt. Durch die Sonderstellung unter den übrigen Romanen der Autorin bietet »Atemschaukel« die Gelegenheit, Herta Müllers Konzeption des autofiktionalen Schreibens – die sie auch für diesen Roman in Anschlag bringt – noch einmal zu schärfen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass eine Beschränkung des Verständnisses vom autofiktionalen Schreiben im Werk Herta Müllers auf den schlichten Nachweis der Einarbeitung biografischen Materials bedeuten würde, wesentliche Charakteristika und Funktionen ihres Schreibens zu verkürzen, mehr noch: zu verfehlen. Der Vorwurf, der sich gegen Müllers vermeintlich unstatthaften Umgang mit dem biografischen Material anderer richtete, ging aber noch einen Schritt weiter. Er argumentierte im Blick auf die Gepflogenheiten der Gattung, das stark autobiografisch geprägte Genre der Lager- und Gulagliteratur. Müllers Roman, so die Argumentation, greife lediglich auf Erfahrungen aus ›zweiter Hand‹ zurück und verwandle diese in einen hochartifiziellen, literarischen und entsprechend gut konsumierbaren Text. Seinem Gegenstand, den Schrecken der Lagererfahrung, könne er so kaum gerecht werden. In seiner forciert ›poetischen‹ Sprache, die vor allem in der übermäßigen Häufung von Metaphern wie »Herzschaufel« und »Hungerengel« zum Ausdruck komme – hier sind in der Tat zwei zentrale Metaphern des Romans genannt –, werde dieser Mangel vor allem evident. Iris Radisch beispielsweise beklagt in ihrer Rezension von »Atemschaukel« in »Die Zeit« »süßliche, infantilisierende Allianzen«, eine »Kunstschnee-Prosa«, hergestellt durch »Herzschmerzvokabeln und Engelbeigaben«.5 Im Zusammenhang mit »Atemschaukel« spricht Müller dagegen von der »großen Bedeutung des Kitschs«; es lässt sich vermuten, dass sie damit implizit auch auf den gegen den Roman erhobenen Kitschvorwurf reagiert.
»Daß der Kitsch ein großes Reservoir in der Verzweiflung ist, weil er auch ohne Lager, im gewöhnlichen Alltag ein Reservoir ist. Am Nullpunkt der Existenz ist der Kitsch ein letzter Rest Normalität. Er ist die Poesie des Wir-Gefühls, weil man nicht mehr allein sein kann, es gar nicht mehr aushält. Er ist der mechanische Gebrauch der Gefühle, man muß nicht tief in sich hineinschauen. Der Kitsch bietet fertige Hüllen für die Gefühle, das Individuelle muß sich nackt machen. Es würde abstürzen. Der Kitsch hält ein Netz bereit – Pathos in fertiger, fester Form. (…) Das Wort KITSCH ist ein Schimpfwort, ein Begriff, den wir anwenden, um absichtlich zu verletzen. Aber Kitsch ist wandelbar und vielleicht das Komplizierteste, das wir an unzähligen Stellen gestreut in uns haben und an keiner Stelle gern zugeben.«6
Ob etwas als Kitsch zu verstehen ist, so führt Müller weiter aus, hängt ab von der Situation, in der es Verwendung findet, und von der Person, die sich seiner bedient. Auf die Lagererfahrung bezogen bedeutet dies: »Wenn Internierte in ihrer Not ein noch so banales Lied singen, machen sie authentische Kunst. Wenn Kapos oder Lagerkommandanten eine noch so anspruchsvolle Oper hören, machen sie Kitsch. Sie degradieren die Kunst zum Kitsch, weil der Gebrauch des Lagergefühls für sie unverbindlich bleibt. Wenn es anders wäre, könnten sie am nächsten Tag nicht weitermachen mit ihrem Dienst.«7 Ausgehend von den erst noch genauer zu klärenden normativen Vorgaben durch die Gattung der Shoah- und Gulagliteratur soll schließlich der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung und Funktion der Sprache und den Sprachbildern in »Atemschaukel« zukommt und in welches Verhältnis diese zur existenziellen Frage des Überlebens gestellt werden.
Den Zugang zum Thema des Lagers fand Herta Müller über ihre eigene Lebenserfahrung. Als Kind und Jugendliche war sie von der tabuisierten Lagererfahrung ihrer Mutter unmittelbar betroffen; sie befasst sich mit dem Stoff als eine Angehörige der ›zweiten Generation‹. In der rumänischen Diktatur war es den aus den sowjetischen Lagern Zurückgekehrten untersagt, über ihre Zeit im Lager zu sprechen. Ihre Erinnerungen waren gleichwohl allgegenwärtig. Sie kamen in Andeutungen zur Sprache, sie drückten sich in Lebensgewohnheiten und Erziehungspraktiken aus. Das verordnete Schweigen setzt sich fort, als die inzwischen erwachsen gewordene Tochter, die gemeinsam mit der Mutter nach Deutschland emigriert war, mehr über das Lager erfahren wollte. Die Mutter blieb auch in Deutschland wortkarg, dasselbe galt für andere Betroffene und Augenzeugen, die Müller befragte. Immer wieder wurde sie mit stereotypen Wendungen, mit zu Abstrakta geronnenen Lebenserfahrungen konfrontiert.
Dies änderte sich, als Herta Müller 2002 mit dem befreundeten Dichter Oskar Pastior in ein Gespräch über dessen Lagererfahrungen kam. Müller erkannte schnell, dass Pastiors Erinnerungen ihr die Arbeit am Thema ermöglichten. Pastior erzählte von alltäglichen Details, von Kleinigkeiten und scheinbaren Nebensächlichkeiten, die (noch) nicht in eine kollektive ›große‹ Geschichtserzählung eingegangen waren. In einer noch unverbrauchten Sprache ließen sich die dem Vergessen entrissenen Details beschreiben, entstand die spezifisch ›poetische‹ Sprache von »Atemschaukel«. »Das Wort ›Trauma‹ oder ›Deportation‹ oder ›Beschädigung‹«, so formuliert es Müller in einem Gespräch mit Renata Schmidtkunz, »hat in der Literatur ja keinen Sinn. Das muss ja aufgelöst werden in Einzelheiten, aus denen dann dieses Trauma oder diese Beschädigung hervorgegangen ist, und da war Oskar Pastior der Einzige, der mir in diesen Einzelheiten weitergeholfen hat.«8
In der so gefundenen Sprache schreibt Müller über die Lagererfahrungen und ihre bis in die Gegenwart fortwirkenden Traumatisierungen. In den wöchentlichen Gesprächen mit Pastior fertigt sie handschriftliche Notizen an, nimmt also eine Auswahl und Bearbeitung des Gesprochenen vor. Diese Aufzeichnungen legt sie Pastior zur Durchsicht und Ergänzung vor. In seine Korrekturen bringt er frühere Aufzeichnungen mit ein, die er als junger Mann in einer Reihe von Notizbüchern niedergelegt hatte.9 Auf diese Aufzeichnungen kann sich dann auch Müller selbst stützen, als Pastior 2007 überraschend stirbt. Ein Jahr lang ruht die Arbeit an dem Roman, der ursprünglich als ein Gemeinschaftsprojekt geplant gewesen war, dann nimmt Müller die Arbeit wieder auf. Zurückgreifen kann sie auch auf eine noch im Juni 2004 mit Oskar Pastior und dem gemeinsamen Freund Ernest Wichner unternommene zehntägige Reise zu den Überresten des Lagers, in dem Pastior inhaftiert war.10 Die Reise macht sie zur Augenzeugin der Erinnerungen und Emotionen, die bei Pastior durch den seit seiner Entlassung erstmals wieder aufgesuchten Ort freigesetzt wurden.
Der Roman ist somit das Ergebnis einer langen und intensiven Zusammenarbeit an einem Romanprojekt, das zunächst von der eigenen, autobiografischen Kindheitserfahrung im Zusammenleben mit der Mutter seinen Ausgang nahm, das angesichts des vielseitigen und vielschichtigen Beschweigens der Lagererfahrung stockte, schließlich durch die Erzähl- und Erinnerungsbereitschaft Oskar Pastiors wieder in Gang kam, und das nach dessen Tod – nicht zuletzt aus einer Empfindung der Verpflichtung dem Toten gegenüber – von Müller allein zu Ende geführt wurde. Ein Vergleich von »Atemschaukel« mit den inzwischen dem Marbacher Literaturarchiv übergebenen Notizbüchern Oskar Pastiors belegt, wie eng Müller sich in vielen wesentlichen Passagen an Pastiors Aufzeichnungen orientiert hat. Er dokumentiert jedoch zugleich auch, dass und in welcher Weise Müller die entsprechenden Passagen bearbeitet und ihrem eigenen Ton anverwandelt hat. Ein erwähnenswertes Seitenstück des Textvergleichs ist, dass die zentralen Metaphern der »Herzschaufel« und des »Hungerengels«, die einst als Indizien für eine aus ›zweiter Hand‹ verfasste Lagerliteratur gewertet und als verfehlt ›poetisch‹ gescholten wurden, aus der Feder Oskar Pastiors stammen.11
Ein Verständnis von Authentizität, das angesichts der existenziellen Erfahrung des Lagers keine Literatur aus ›zweiter Hand‹, sondern nur die Dokumentation von Selbsterlebtem zulassen möchte, ist im deutschsprachigen Diskurs der Nachkriegszeit vielfach diskutiert und problematisiert worden. Die Fragwürdigkeit eines solchen Verständnisses zeigt sich nicht nur in der Pointe der durch Pastior selbst für »Atemschaukel« verwendeten Metaphern, zu denen auch die titelgebende des Romans gehört. Sie zeigt sich auch in dem vielfachen Einspruch von Autorinnen und Autoren, die sich gegen eine Trennung von Inhalt und Form aussprechen und die Auffassung vertreten, dass Texte der Lagerliteratur ebenso als Literatur verstanden werden müssen wie andere Texte auch. Diese Forderung schließt nicht aus, dass die Lebenserfahrung, die sich in ihnen ausdrückt, auch jenseits der Literaturkritik wahrzunehmen und zu würdigen ist. Im Kern all dieser Debatten, die im deutschsprachigen Diskurs vor allem im Zusammenhang mit literarischen Texten über den Holocaust verhandelt werden und sich mit der sogenannten Adorno-Debatte verbinden – und die bis hin zu jener Kritik reichen, die »Atemschaukel« mit dem Kitschverdacht belegt –, stehen die ethischen Implikationen literarisierter Rede über den Holocaust. Diese besteht in dem Einspruch gegen eine kunstvolle Verwertung existenzieller Lebenserfahrungen, die solcherart zum konsumierbaren Kulturgut werden und deren Einschätzung und Bewertung dementsprechend nicht moralischen, sondern ästhetischen Maßstäben unterworfen werden. Für »Atemschaukel« sind in diesem Zusammenhang, der von Müller etwa in ihrem Essay über Ruth Klüger, aber auch in anderen Zusammenhängen immer wieder reflektiert wird, insbesondere zwei Aspekte relevant: Erstens lehnt Müller mit ihrer Konzeption von Autofiktionalität, die sie für dieses wie für alle anderen ihrer literarischen Werke in Anschlag bringt, grundsätzlich eine Distanzierung gegenüber dem verhandelten Gegenstand und seiner Reduktion auf einen allein einem ästhetischen Urteil zu unterwerfenden ›Stoff‹ ab. Die Entstehungsgeschichte des Romans, von Müller und von Pastior ausführlich dokumentiert und kolportiert, bekennt sich unmissverständlich zu dem persönlichen Anteil an dem bearbeiteten Material, das in den Roman Eingang gefunden hat. Dieser persönliche Anteil beschränkt sich nicht auf die Lagererzählung, sie schließt weitere persönliche Aspekte und Erfahrungen Pastiors und Müllers mit ein. So kommt etwa die Homosexualität Oskar Pastiors im Zusammenhang mit dem Roman zur Sprache: Im Roman selbst wird die existenziell notwendige Geheimhaltung der Homosexualität Leo Aubergs in der rumänischen Diktatur und im Lager thematisiert. Herta Müller bringt ihre Erfahrungen aus dem Zusammenleben mit der Mutter als eine Angehörige der ›zweiten Generation‹ mit ein.
Zweitens ist für das Verständnis der Poesie dieses Lagerromans zentral, dass sich Müllers Verständnis von Poetizität ebenso wenig wie dasjenige Pastiors auf die ›schöne Literatur‹, ja überhaupt nur auf ›Literatur‹ beschränkt. Es ist der alltäglichen Sprache verpflichtet. »Was ist das Literarische?«, fragt Herta Müller, um darauf zu antworten: »Das Literarische ist ja nichts Einzigartiges, das sonst nirgends vorkommt. Es kommt auf Schritt und Tritt vor, in der Folklore, in den Sprichwörtern und Redewendungen, in den Bildern des Aberglaubens. Jede Sprache ist voller Metaphern.«12
Mit vielschichtigen intertextuellen Bezügen schreibt sich »Atemschaukel« in das Genre des Lagerromans und in die Debatten, die sich mit ihm verbinden, ein; vor allem gilt dies für die Kontextualisierung mit dem russischen und dem deutschsprachigen Erinnerungsdiskurs.13
In beiden Diskursen steht die Frage nach dem Verhältnis von Lagererfahrung und ›schöner Literatur‹ im Zentrum. In Deutschland steht stellvertretend dafür Adornos Diktum, ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben, sei barbarisch – und der Einspruch Paul Celans, der dagegenhält, dass dieses Diktum mit einem verkürzenden Verständnis von Lyrik als Inbegriff der ›schönen Literatur‹ operiert. Im russischsprachigen Diskurs über den Gulag und die Lagerliteratur14 ist die Auseinandersetzung etwas anders gelagert. Alexander Solschenyzin, Verfasser des auch in Deutschland breit rezipierten »Archipel Gulag«, und Warlam Schalamow, Verfasser der mehrbändigen »Erzählungen aus Kolyma«,15 sind ehemalige Lagerhäftlinge, die ihre Erinnerungen an das Lager aufzeichnen. Beide legen großen Wert darauf, dass es sich bei ihren Aufzeichnungen nicht um ›schöne Literatur‹ handelt. In seinem Vorwort zum »Archipel Gulag« formuliert Solschenyzin die eindringliche Versicherung, alles im Folgenden Geschilderte habe sich tatsächlich genau so zugetragen, wie beschrieben. Er stützt die Glaubwürdigkeit seiner Erinnerungen mit dem Hinweis darauf, dass er sich erst nach dem Beginn seiner Aufzeichnungen mit den Berichten anderer Augenzeuginnen und -zeugen des Gulag vertraut gemacht habe.16 Die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen wird, so ist diese Versicherung zu verstehen, nicht durch die Erinnerungen anderer, auch nicht durch die (andere) Wahrheit der Literatur verfälscht. Mit einem erkennbar größeren Interesse an poetologischen Fragen und mit dem Anspruch, nicht nur über das eigene Werk, sondern über die Literatur überhaupt zu sprechen, tritt Warlam Schalamow auf. Er charakterisiert sein Zeitalter als eines, in dem die ›schöne Literatur‹ ausgedient habe. Der Leser, so Schalamow, verlange nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert nach ›schöner Literatur‹, sein Interesse richte sich nun nur mehr auf Memoirenliteratur. Diese Entwicklung deutet Schalamow als Folge der Gewalterfahrungen im 20. Jahrhundert, sie trennten die Literaturauffassungen beider Jahrhunderte unwiderruflich voneinander. »Der Leser«, so schreibt er, »sucht noch immer Antwort auf die ›ewigen‹ Fragen, doch er hat die Hoffnung verloren, diese Antwort in der Belletristik zu finden. Der Leser will keine Belanglosigkeiten lesen. Er verlangt nach Entscheidungen in lebenswichtigen Fragen, sucht Antworten zum Sinn des Lebens, zu den Verbindungen von Kunst und Leben.«17 Entsprechend verlangt Schalamow von den Autorinnen und Autoren, sie hätten fortan ihre Werke mit dem »eigenen Blut«18 zu schreiben. Diese Metapher ist im russischsprachigen Diskurs im Zusammenhang mit den stalinistischen Gewalterfahrungen nicht neu, eine prominente Autorin wie Anna Achmatova steht dafür ein, ein Autor wie Ossip Mandelstam. »Atemschaukel« spielt in einem Bild, das einem zentralen poetologischen Text Mandelstams entlehnt ist – einem Tropfen Blut, der sich leuchtend vom weißen Rasierschaum abhebt, so wie das Himbeerrot bei Mandelstam vom Schnee –, auf diese Auffassung an und bekennt sich zu ihr.19
Die Forderung nach einer mit dem eigenen Blut geschriebenen Literatur bedeutet für Schalamow im Unterschied zu Solschenyzin nun jedoch nicht – und dies ist auch für Müllers Verständnis von Literatur in Anschlag zu bringen –, dass die Wahrheit des Dokumentarischen gegen die der Literatur auszuspielen wäre. Beide Wahrheiten sind vielmehr nicht voneinander zu trennen. Schalamow hebt hervor, dass seine Erzählungen »keine Belanglosigkeiten« enthalten, und er fährt unmittelbar im Anschluss daran fort, dass die Wirkung seiner Erinnerungen nicht (nur) aus der unverschnörkelten Direktheit des erzählerischen Duktus zu erklären ist. »Der Autor glaubt, vielleicht zu Unrecht, dass es dennoch nicht allein am Material liegt, und nicht einmal so sehr am Material …«20
Mit den Erinnerungen Warlam Schalamows korrespondiert ein Kapitel in »Atemschaukel«, sei es im unmittelbaren intertextuellen Bezug – möglicherweise bereits bei Pastior, verstärkt durch die Bearbeitung Müllers –, oder in der Entscheidung für eine vergleichbare Wahl der erzählerischen Mittel. Schalamow erzählt unter der Überschrift »Künstler der Schaufel« die Geschichte eines Lagerinsassen, der in der aberwitzigen Hoffnung auf eine Erhöhung seiner Essensration versucht, seine Arbeitsleistung zu steigern. Um die Aufmerksamkeit des Aufsehers auf sich zu ziehen, macht der zu Tode erschöpfte, verzweifelte Insasse seine Arbeit zu einem grotesken Schau- und Hörstück. Er steigert das »melodische Knirschen von Metall« rhythmisch zu einer Aufsehen erregenden »Schürfgrubensinfonie«: »Krist stellte die Schubkarre mit dem Boden auf das Stegbrett, die Griffe zu der Schürfgrube abgewandten Seite. Und füllte die Schubkarre schnell. Dann bückte er sich und packte die Griffe, spannte die Bauchmuskeln an, und wenn er sein Gleichgewicht gefunden hatte, schob er die Schubkarre zur Waschtrommel, zum Waschgerät. Zurück schob er die Schubkarre nach allen Regeln der Karrenschieber, aus Jahrhunderten katorga ererbt, mit den Griffen nach oben, das Rad voraus, und die Hände hielt Krist zur Erholung an den Schubkarrengriffen, dann stellte er die Schubkarre ab und nahm wieder die Schaufel. Die Schaufel kreischte. (…) ›Du bist ja, wie ich sehe, ein Künstler der Schaufel‹.«21
In seinen Aufzeichnungen schildert Oskar Pastior die Arbeit des Kohleschaufelns mit einer vergleichbaren Genauigkeit und mit einem vergleichbaren Anspruch auf die hohe künstlerische Qualität, mit der die Zwangsarbeit ausgeführt wird. In ihrer Bearbeitung des von Pastior hinterlassenen Materials übernimmt und betont Herta Müller dieses Moment des Künstlerischen. In dem entsprechenden Kapitel in »Atemschaukel«, das mit dem Titel »Von der Herzschaufel« überschrieben ist, ist die Arbeit des Häftlings zu einem Tanz stilisiert; in der Übertreibung ist auch hier das Groteske der Situation unmissverständlich ausgestellt. Im Unterschied jedoch zu dem Spektakel, das Schalamow schildert, zielt der Tanz des Häftlings in »Atemschaukel« nicht darauf, die Aufmerksamkeit und Gunst des Aufsehers zu gewinnen. Vielmehr ist bei Pastior – und Müller übernimmt dies in »Atemschaukel« – die künstlerische Inszenierung des Kohleschaufelns ein Akt, den der Häftling sich selbst zuliebe aufführt. Leo Auberg kommentiert die Arbeit mit seiner Lieblingsschaufel, der Herzschaufel, so: »Es ist schön wie ein Tango, wechselnd spitzwinklig bei gleichbleibendem Takt. Und ab der Fechtstellung, wenn die Kohle wegfliegen muss, wird es fließend abgelöst von Walzeranwandlungen, wobei die Gewichtsverlagerung im großen Dreieck geschieht, die Körperneigung ist bis 45 Grad, und in der Wurfdistanz fliegt die Kohle wie ein Vogelschwarm. Und der Hungerengel fliegt mit. Er ist in der Kohle, in der Herzschaufel, in den Gelenken. Er weiß, nichts wärmt den Körper mehr als das Schaufeln, das am ganzen Körper zehrt. Er weiß auch, dass der Hunger fast die ganze Artistik frisst.«22
Der ästhetische Akt des Schaufelns in »Atemschaukel« ist dennoch kein sich selbst genügender künstlerischer Akt der l’art pour l’art. Der Tanz mit der Schaufel zeigt die Überlebensstrategie eines Menschen im Lager, die dieser unter den Bedingungen der spezifischen Zwangsarbeit, die ihm zugewiesen wurde, entwickelt hat. Die in einen ästhetischen Akt verwandelte Zwangsarbeit des Schaufelns wird ihm dabei zur Möglichkeit, den letzten Rest seiner Würde zu bewahren und dem personifizierten Hunger etwas entgegenzusetzen. Die Kunst – die hier ganz ohne einfache Anführungszeichen auskommt – gibt ihm einen Handlungsspielraum zu einem Zeitpunkt, als er scheinbar keinen Spielraum mehr hat. Denn er ist bereits so depraviert und ausgezehrt, dass von einem selbstbewussten, souveränen ›Ich‹ nicht mehr die Rede sein kann. Doch dieses Ich ist noch in der Lage, sich in einer unmittelbaren Ansprache an den zur Person gestalteten Hungerengel zu wenden – auch diese Verbildlichung ist ein künstlerischer Akt – und ihm seinen Widerstand entgegenzusetzen. Dieses Ich, das von sich selbst schon nicht mehr als von einem Lebewesen, sondern nur mehr als von einem Ding reden kann, spricht den Hungerengel an und besteht auf seiner Unverfügbarkeit. »Du betrügst mich mit meinem Fleisch. Es ist dir verfallen. Aber ich bin nicht mein Fleisch. Ich bin etwas anderes und lasse nicht locker. Von Wer bin ich kann nicht mehr die Rede sein, aber ich sag dir nicht, was ich bin. Was ich bin, betrügt deine Waage.«23 Unter den unmenschlichen Bedingungen des Lageralltags wird das Ich von einem Lebewesen, einem »Wer«, zum Gegenstand, einem »Was«. Dieses Ding zeichnet sich durch Eigenschaften aus, die der zum »Wer« personifizierte Hungerengel nicht kennt. In diesem minimalen Spielraum des Unverfügbaren behauptet sich das Ich.
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