Kitabı oku: «TEXT + KRITIK 228 - Gabriele Tergit», sayfa 2

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Auch in ihren Gerichtsreportagen schreibt sie oft über Frauen, aus deren Perspektive über Männer und Männlichkeit, Krieg, Gewalt, häusliche wie politische. Umgekehrt über Sehnsucht nach Geborgenheit, Abhängigkeit und Hörigkeit. Was sie 1929 unter dem Titel »Gerechtigkeit« (BT, 13.6.1929) notiert hat: »Aller Mord und Totschlag, die die Frauen begehen, ist Todesstrafe, die sie vollziehen für die Tötung ihres Liebeslebens!« – das wird sie immer wieder an den einschlägigen Gerichtsprozessen beschäftigen, wiewohl freilich diese gegen Ende der Weimarer Republik zunehmend von den Prozessen zu politisierten Gewalttätigkeiten unter Männern überlagert wurden.

Begonnen hatte sie mit Gerichtsberichten schon früh im »Berliner Börsen Courier«, hier allerdings waren ihre Beiträge, obwohl zahlreich, oft noch kleine Notizen, besonders signifikant, als sie Ende 1924 stets am Rand neben den umfänglichen Berichten vom Haarmann-Prozess in Hannover platziert wird. Sie bewegt sich wie selbstverständlich in dieser Domäne von Männern. So wird Gabriele Tergit bald Renommierreporterin von Mosses »Berliner Tageblatt«und damit erfolgreiche Konkurrentin etwa von Sling (d. i. Paul Schlesinger) und dessen Nachfolger Inquit (d. i. Moritz Goldstein), die für Ullsteins »Vossische Zeitung« berichteten. Freilich: 1928 musste sie beim spektakulären Prozess gegen den Gymnasiasten Paul Kranz, der später als Schriftsteller unter dem Namen Ernst Erich Noth Karriere machte, um den Mord an zwei Mitschülern, beim sogenannten Steglitzer Schülermordprozess, ihrem Kollegen Rudolf Olden den Vortritt lassen. 1927 hatte sie über das Kriminalgericht Moabit mit seinen 21 Gerichtssälen geschrieben, es sei »seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit. Nicht mehr um die individuelle Tat des einzelnen, die Sensation einer saturierten Gesellschaft, um zeitlos menschliche Triebe, (…) handelt es sich, sondern das typische Geschehen selber, die Epoche, Res gestae steht vor Gericht. Willkür fast, so scheint es, daß wirkliche Menschen auf der Anklagebank sitzen. Musterbeispiele gleichsam.«13 So fokussiert sie »Erkenntnis der Zeit«, emphatisch pointierter Anspruch der neusachlichen Faktografie, auf die Gerichtsberichterstattung.

Zwar scheinen das zunächst Standardthemen, Betrug und Raub, Mord und Totschlag, Affekte zwischen Eifersucht und Neid, Sexuelles von Prostitution bis Hörigkeit, die berüchtigten Paragrafen 175 und 218, Frühreife oder Gewalttätigkeit der Jugend, Justizspezifisches wie Meineidprozesse und Todesstrafe, zunehmend und schließlich überwiegend die verschärften Auseinandersetzungen politischer Extremisten sowie das wachsende einseitige Verhältnis der Justiz dazu – woraus sich für die Gerichtsreporterin das Bild der Gesellschaft in ihrer Epoche konturierte.

Für Gabriele Tergit standen vor allem zwei Aspekte der ihr gegenwärtigen Gesellschaft im Zentrum: Der zunehmende politische Terror und das Verhältnis der Geschlechter. Hier entfaltet sie über die Jahre ein ganzes Panorama menschlicher Abgründe und flauer Verhältnisse. Die Geschichte einer 35-jährigen Lehrerin etwa, die ein Liebesverhältnis mit einem 14-jährigen Friseurlehrling beginnt, ein Fall, in dem – wie nicht selten – Magnus Hirschfeld gutachtet. Es geht um alle Schattierungen von Prostitution, Zuhälterei, Transvestismus bis Homosexualität, Ausbeutung und Abhängigkeit, Gewalt und Hörigkeit. Darin scheint durch ihren Blick immer wieder ein Amalgam auf aus aussichtsloser Arbeitslosigkeit, sozialer Verwahrlosung und Trostlosigkeit, Doppelmoral, sexueller Unterdrückung und Unaufgeklärtheit.

Hin und wieder zieht sie Quersummen aus ihren Beobachtungen. »Ist man sechs Jahre ein Bewohner von Moabit und hat vieler Menschen Schicksale gesehen, so macht man eine erschütternde Beobachtung. Männer schießen aus Liebe zwischen siebzehn und dreiundzwanzig, Frauen schießen zwischen fünfunddreißig und fünfzig. (…) Zu lieben, vor allem unglücklich zu lieben, gilt nämlich als Schwäche und Lächerlichkeit, und eine alternde Frau, die unglücklich liebt, ist ebenso komisch wie ein männlicher Grünschnabel. Nur an einem Ort ist der unglücklich Liebende merkwürdigerweise der Sympathische, in Moabit nämlich, wo es immer so aussieht, als ob die Tragödie nie durch die Gewalttätigkeit und die Ungerechtigkeit der Liebenden entstünden, sondern durch die Indolenz und Mitleidlosigkeit der Geliebten.«14 Wie sie in diesem Falle auf quasi Anthropologisches abzuheben scheint, so benennt sie in anderen die sozialen Umstände und gesellschaftlichen Normen als Ursache der verhandelten Fälle – und oft genug dann auch des als ungerecht wahrgenommenen Urteils. Nach Möglichkeit überlässt sie den Leserinnen und Lesern das Urteil, indem sie in enumerativen Kurzsätzen das Verhandelte vermeintlich nur wiedergibt.

Was nun die politischen Prozesse angeht, so bemühte sich Tergit immer wieder, um Verständnis für die Lage der Richter zu werben und ihrer Ansicht nach gute Richter entsprechend zu loben. Sie weicht jedoch in einem Punkt regelmäßig von den Wertungen der Gerichte ab: Wo diese kriminelle Energie am Werke sahen, machte sie meist die sozialen Umstände verantwortlich. Die in den letzten Jahren der Republik besonders signifikante Drift der Justiz nach rechts erzeugt auch bei ihr Resignation und zunehmend Verbitterung. Das scheint gerade bei Prozessen durch, die den tristen Alltag spiegeln – politisch motivierte Schlägereien und Schießereien unter jungen Arbeitern und Arbeitslosen. Sie sieht ungerichtete Aggressivität junger, unausgebildeter und perspektivloser Männer, doch auch jene fatale Aufrüstung der Aggressivität durch politische Gruppenbildungen und Indoktrination. Mal apostrophiert sie ironisch »Helden der Straße«, mal lautet die nüchterne Überschrift »Montag und Donnerstag Überfall«.15 Hatte sie 1925 noch die Eitelkeit junger Burschen als Ursache ausgemacht und rhetorisch gefragt: »Was würde aus allem Heldentum, wenn es keine Spiegel gäbe?«,16 so beobachtet sie zunehmend die Vergleichgültigung und Vereinseitigung der Justiz. Einer Justiz, wie sie im Oktober 1932 schreibt, die inzwischen bewusst von zweierlei Recht ausginge, »einem für die Nationalsozialisten als Staatsbejaher, einem anderen für Kommunisten als Staatsverneiner«, und die daher nicht mehr Tat und Täter beurteile, sondern »plump und grob wie in einem schlechten Kriminalroman« mit der Frage: »Wer schoß? Die Justiz wurde degradiert zur Detektei.«17 An dieser Passage – der einzigen in all den Gerichtsberichten übrigens, in dem vom Kriminalroman die Rede ist, während sie selbst ja an einem mitgeschrieben hatte18 – wird zugleich deutlich, worin ihre Berichte die Differenz zu Kriminalromanen sahen, im Anspruch nämlich, dass es im Vollzug des Rechts um Gerechtigkeit gehe, was elementar voraussetzte, je individuell nach Persönlichkeiten, Motiven und Umständen von Taten zu fragen. So, wie sie selbst nach den Auswirkungen auf die Beteiligten und die Öffentlichkeit fragt.

Dazu etwas ausführlicher ihr Fazit zu einem Prozess, in dem die Todesstrafe gefordert wurde gegen fünf Kommunisten, fälschlicherweise des Mordes an einem Nazi angeklagt, der tatsächlich versehentlich von den eigenen ›Kameraden‹ erschossen worden war: »So sprachen die Menschen, die Polizei schützt sie nicht, die Staatsanwaltschaft blieb nicht die objektivste Behörde, die sie zu sein hat. Tief fraßen schon faschistische Gedankengänge sich in die Köpfe. Die letzte Instanz, das Gericht, hat nicht versagt. Das ist kaum mehr als ein Zufall. Es traf zusammen eine groteske Anschuldigung, ein wahrheitssuchender Mensch als Richter, dem der heilige Gedanke des gleichen Rechts für alle nicht eine Phrase ist, und leidenschaftliche Anwälte des Rechts. So ging es gut aus.«19

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Berlin ist in Tergits Feuilletons und Reportagen bei aller kritischen Distanz ein lebbarer Wohnort, nicht gerade anheimelnd, aber auch nicht unbewohnbar, ein Ort der Verwerfungen und Kontraste von Krieg und Nachkrieg, alter und neuer Moderne, unter zunehmend polarisierender Politik und erschwerten sozialen Verhältnissen. Mit ihrem feinen Sensorium für Phrasen, Gerede und falschen Schein, erkennt Tergit, wie nicht nur der »Käsebier«-Roman bezeugt,20 den falschen Zungenschlag und die obsoleten Versprechen von Heimat als Kitsch und Marketing. Ein Zitat aus einer nicht näher genannten »Rechtszeitung« nimmt sie in »Die Sache mit der Berolina« (BT, 16.4.1929) zum Anlass einer Abrechnung mit dem historistischen Berliner Architektur- und Dekorationskitsch, wozu für sie die Statue der Berolina steht, die der Neugestaltung des Alexanderplatzes weichen musste. »Hierher gehört die Berolina in ihrer abgründigen Scheusslichkeit, mit ihrem Materialwert, mit ihrer nur auf Quantität berechneten Wirkung.« Aber, setzt sie dann hinzu, »wenn die Statue auf unserem Schulweg gestanden hat, weinen wir doch, wenn sie ganz einfach auf den Müll kommt, wenn sie sich dort nur noch mit dem Ball, der allzulange in der Regenrinne lag, und mit dem Kreisel, der seine Vergoldung verloren hat und mit einem zerrissenen Hemd unterhalten kann«. Wie bei Walter Benjamin und vielen anderen in Berlin aufgewachsenen Autoren wird die Erinnerung an die schwindende oder verschwundene Stadt der Kindheit zur imaginären Heimat.21 Dem steht die Kritik an der betriebsamen Vermarktung von Heimat nicht nur im Roman, sondern auch in den Feuilleton-Texten entgegen. »›Im Schoss beseligender Heimat‹« (BT, 4.9.1928) berichtet vom Besuch von Haus Vaterland, einem Amüsierlokal mit heimatlich-kosmopolitischen Pappmaché-Inszenierungen: Ein Wiener Heurigenlokal, alpenländisches Bayern, spanische Taverne, ungarische Bauernschänke, Rheinromantik, Orient von Tausendundeine Nacht, Venedig mit »Gondel und Makkaroni« und ein Berlin, das durch Revue, »Fleisch und Gymnastik, Trude Hesterberg und großkotzige Gäste« repräsentiert wird. Fluchtartig das Etablissement und seine Musikbeschallung verlassend, betritt sie »den stillen, behaglichen Potsdamer Platz«, eben jenen Ort, der den Zeitgenossen Inbegriff von Unrast und Lärm war. Explizit angesprochen wird schließlich die Frage nach der Heimat im Titel eines Feuilletons von 1930: »Heimat 75 resp. 78« (BT, 19.2.1930). Das beginnt: »Nicht der Brunnen ist meine Heimat, nicht die Linde, nicht der Gang vors Tor, nicht der Weg um den Wall, wie auch heute noch, wenn du in Zerbst lebst oder in Schweinfurt, Heimat ist meine 75. Früher hiess sie S. oder O.« Auch hier wieder speist sich diese aus Erinnerungen an die Vergangenheit. »Als wir junge Mädchen waren« … Folgt eine weitere Durchmusterung des Verkehrsnetzes nach möglicher Heimatlichkeit, wobei sie das Netzwerk der Straßen und Plätze der gesamten Stadt von West nach Ost imaginiert, um dann am Ende zu wiederholen: Nicht Linde, Tor und Brunnen ist hier Heimat, »Heimat ist unser Einser, unsere Fünfundzwanzig, unsere Siebenundvierzig, treppauf und treppab springen, von der Untergrundbahn bis zum Bahnhof Friedrichstrasse, 97 Stufen.« Dies nüchtern-sentimentale Heimatbild Berlins hat ein Nachbild. In »Effingers« findet sich das Vorhergehende abgewandelt im 142. Kapitel, als Lotte Effinger unter Morddrohungen der Nazis halsüberkopf die Stadt und Deutschland verlassen muss. »Sie kehrte nicht um, um ihren Mantel zu holen. In diesen Straßen mit den grauen Häusern war sie geboren worden, und darum hing sie an allem, was mit dieser Stadt zusammenhing. Am Keller mit Heringen und am kleinen Juwelierladen (…), an der kleinen Maßschneiderei und am Thanatos-Beerdigungsinstitut. Wie oft, wie oft war sie an all dem vorübergefahren! Und da kam schon das alte Tier, die elektrische Bahn Nr. 76, die Erinnerung ihrer Jugend (…). Nicht der Brunnen war ihre Heimat, nicht die Linde, nicht der Gang vors Tor (…), Heimat war das Tier, das sie die täglichen Berufswege führte, die 76, gute, edelwerte 76: Ich werde dies alles nie mehr wiedersehen, dachte sie.«22

1 Vgl. etwa Gabriele Tergit: »Der Prophet in der Hotelhalle«, in: »Vossische Zeitung«, 1.12.1922; »Münchener Tagebuchseite«, in: »Berliner Tageblatt«, 1.2.1927, Abendausgabe; »Begegnungen an der Adria. Auf einer Reise nach Griechenland«, in: »Berliner Tageblatt«, 3.9.1927; »Auf den griechischen Inseln. Aeghina oder die Ziegeninsel«, in: »Berliner Tageblatt«, 29.12.1927; »Miss Europa oder der Hermes des Praxiteles«, in: »Berliner Tageblatt«, 28.6.1939, Mittag. — 2 Brief an Benno Reifenberg, 22.4.1926. Zit. nach Joseph Roth: »Briefe 1911–1939«, hg. von Hermann Kesten, Köln, Berlin 1970, S. 87 f. — 3 Vgl. Kurt Pinthus: »Männliche Literatur«, in: »Das Tage-Buch« 10 (1929), Nr. 1, S. 903–911. — 4 Walter Benjamin: »Einbahnstraße«, in: Ders.: »Gesammelte Schriften«, B. IV.1, Frankfurt/M. 1972, S. 103. — 5 Erhard Schütz: »›Kurfürstendamm‹ oder Berlin als geistiger Kriegsschauplatz. Das Textmuster Berlin in der Weimarer Republik«, in: Klaus Siebenhaar (Hg.): »Poetisches Berlin«, Wiesbaden 1992, S. 163–191. — 6 Christian Jäger / Erhard Schütz (Hg.): »Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik«, Berlin 1994. — 7 Vgl. Prof. Dr. Kirchberger: »›Das Auge sieht den Himmel offen‹. Das Berliner Planetarium«, in: »Berliner Tageblatt«, 9.11.1926. — 8 Gabriele Tergit: »Viertelstunde Ewigkeit«, in: »Berliner Tageblatt«, 4.8.1931. — 9 Gabriele Tergit: »Heutige Leistungen. Und ein notwendiger Rückblick«, in: »Berliner Tageblatt«, 21.1.1932. Morgenausgabe. — 10 Rolf Lindner: »Berlin – absolute Stadt. Eine kleine Anthropologie der großen Stadt«. Berlin 2016, S. 24. — 11 In: »Atem einer anderen Welt. Berliner Reportagen«, hg. von Jens Brüning, Frankfurt/M. 1994, S. 21–24. — 12 Gabriele Tergit: »Bekenntnis zur Margarine«, in: »Das Tage-Buch«, 4 (1923), H. 39, S. 1370–1371. — 13 Gabriele Tergit: »Gestalten aus dem Femeprozeß« (1927), in: Dies.: »Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923–1933«, hg. von Jens Brüning, Berlin 1984, S. 98. — 14 Gabriele Tergit: »Wer schießt aus Liebe?« (1931), ebd., S. 197. — 15 Gabriele Tergit: »Helden der Straße« (1927), ebd., S. 104, und Gabriele Tergit: »Montag und Donnerstag Überfall« (1927), ebd., S. 103. — 16 Gabriele Tergit: »Der Held im Spiegel« (1925), ebd., S. 93. — 17 Gabriele Tergit: »Freigesprochen« (1932), ebd., S. 115. — 18 Vgl. Alfred Döblin / Gabriele Tergit u. a.: »Die verschlossene Tür. Kriminalrat Koppens seltsamster Fall«, hg. von Erhard Schütz, Berlin 2015. — 19 Gabriele Tergit: »Freigesprochen«, in: Tergit: »Blüten«, a. a. O., S. 120 f. — 20 Vgl. dazu Elizabeth Boa: »Urban Modernity and the Politics of Heimat. Gabriele Tergit’s ›Käsebier erobert den Kurfürstendamm‹«, in: »German Life and Letters«, 72 (2019), H. 1, S. 14–27. — 21 Vgl. dazu Erhard Schütz: »Berlin. Jüdische Heimat um Neunzehnhundert?«, in: »Zeitschrift für Germanistik« NF 7 (1997), H. 1, S. 74–90. — 22 Gabriele Tergit: »Effingers«, mit einem Nachwort von Nicole Henneberg, Frankfurt/M. 2019, S. 847.

Liane Schüller

»Der Menschheit anderer Teil, die Frau« Gabriele Tergit und die Neue Frau in der Weimarer Republik
1 Die Frauenfrage

Gabriele Tergits Reportagen, die in den 1920er und 1930er Jahren im Feuilleton verschiedener Publikationsorgane wie der »Vossischen Zeitung«, dem »Berliner Tageblatt« und der »Weltbühne« erschienen, rekurrieren häufig auf Typisierungen und Spielarten der sogenannten Neuen Frau – immer essayistisch pointiert und oftmals auf die für Tergits Schreiben konstitutive lakonisch-knappe Weise. Ihre Texte durchzieht spürbar der Modus »liebenswürdiger Ironie«, während sie sich von stereotypen Attitüden des Geschlechterkampfs samt forcierter Rhetorik abheben: »(Tergit) kämpft, indem sie für Frauen wirbt, die aber ganz ungeschoren auch nicht bleiben.«1 Später arbeitet die Autorin in literarischer Form verschiedene Aspekte der im öffentlichen Diskurs der Weimarer Republik hochaktuellen Gender-Debatte differenzierter heraus, etwa anhand der unterschiedlichen Frauenfiguren ihres Großstadtromans »Käsebier erobert den Kurfürstendamm« aus dem Jahr 1931.2

Mediale Bilder und literarische Inszenierungen der Neuen Frau der Zwischenkriegszeit und das ihnen zugrunde liegende kulturgeschichtliche Konzept sind in den vergangenen Jahrzehnten im Bereich der Kunst- und Mediengeschichte ikonografisch aufbereitet, kultur- und literaturwissenschaftlich besprochen und häufig ambivalent beurteilt worden. Bereits die öffentlichen Debatten in der Weimarer Republik dokumentieren die oft widersprüchliche Haltung gegenüber dem Phänomen, das sowohl die Wandlungen des Phänotypus als auch sich ändernde Moralvorstellungen fokussierte, tradierte Geschlechterrollen infrage stellte und die Entwicklung der Frauenrolle in Beruf, Haushalt und Ehe als ›neu‹ attribuierte.3 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war »neu« zu einem Leitbegriff avanciert, »der Aufbruch signalisierte und Utopien evozierte«4 und besonders im Zusammenhang mit dem weiblichen Geschlecht und dem Label »Neue Frau« in den folgenden Jahren allenthalben inflationär verwendet wurde.

Der Grundstein für das Herausbilden eines veränderten, selbständigen Frauentypus und der Weg zur Gleichstellung von Frau und Mann war vor allem den Ambitionen der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende zu verdanken, die nicht nur das Wahlrecht für Frauen, sondern auch einen verbesserten Zugang zur Bildung zur Folge hatten. Zwar war in »Deutschland (…) die ›Neue Frau‹ (noch) zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr als ein Versprechen, eine Jahrhundertphantasie«;5 der Kampf um soziale Gleichrangigkeit, adäquate Bildungschancen und die Möglichkeit, bis dato den Männern vorbehaltene Berufe auszuüben, war aber unübersehbar in Gang gekommen und positionierte die Frauen auf der Schwelle zwischen Tradition und Moderne.6 Im Jahr 1908 waren Frauen zum Studium zugelassen worden, was eine der »Segnungen der akademischen Bildung« bedeutete,7 die auch Gabriele Tergit nutzte und ihr Studium im Jahre 1925 mit einer Dissertation abschloss. Hatten zunächst viele Frauen, die sich der Gruppe ›neuer Frauen‹ zugehörig fühlten und »das Stadtbild vor allem der Großstadt nach dem Ersten Weltkrieg prägte(n)«,8 noch eine (groß-)bürgerliche Herkunft und somit die materiellen Grundbedingungen, alternative Lebenskonzepte auszuprobieren und sich aktiv an politischer Einflussnahme zu beteiligen, orientierten sich später vor allem Frauen aus der Mittelschicht an dem schönen Schein der dynamisch-modernen Frau, der sich freilich spätestens nach der Weltwirtschaftskrise als Schimäre entpuppte.9 Die wirtschaftlich veränderte Stellung der weiblichen Angestellten im tertiären Sektor der Dienstleistungen10 und das allerorts medial transportierte Bild einer »Hyperfrau«11 dienten nun als wichtiges Vehikel für Emanzipationsbestrebungen.

Die »Frauenfrage«, so Alice Rühle-Gerstel im Jahr 1929, sei mit der Aufgabe verknüpft, die äußerlich errungenen Freiheiten der Frauen nun auch im Wortsinn zu verinnerlichen: »(…) daß wir mit unseren errungenen Freiheiten innerlich nichts anfangen können, weil es männliche Freiheiten sind (…). Das Weibliche ist nur noch ein Anachronismus oder erst nur eine Verheißung.«12 Die Frauenfrage in der Weimarer Republik blieb durch das »festgelegte ikonographische System (…), das zum Massenphänomen und Leitbild der Bildmedien werden sollte«,13 ein zentrales Thema im öffentlichen Diskurs und immer wieder auch bei Gabriele Tergit.

Als soziopolitische Kategorie war die Neue Frau innerhalb eines Jahrzehnts massiven Modifikationen unterworfen. Nicht zuletzt durch Typisierungen wie »Girl«, »Garçonne« und »Flapper«,14 von denen vor allem die letzte Gruppe sich als »explizit apolitisch gerierte«,15 fand ein zunehmender Transfer auf Oberflächenphänomene statt. Die beiden vorherrschenden Bildwelten der Magazine und des Films konstituierten und variierten zeitgenössisch aktuelle Konzepte der Neuen Frau und prägten die Repräsentationen von Weiblichkeit und ihr visuelles Framing.16 Dabei überlagerten sich verschiedene Diskurse und deren soziale Realität unter den besonderen historischen Bedingungen der Weimarer Republik: die Neue Frau und die Geschlechterproblematik, die Angestelltenkultur, die Strömung der Neuen Sachlichkeit und die Medien. Die »lebensweltliche Umwälzung (ließ) dabei wenig aus, was bisher Bestand hatte«.17 Und die Literatur – zumal von Autorinnen der Weimarer Republik, die als »Vivisekteure der Zeit«18 den Forderungen neusachlicher Programmatik folgten – erwies sich einmal mehr als Reflex auf gesellschaftliche Prozesse und als ein Medium, »in dem das Leben sich selbst zu erkennen versucht«,19 wenn sie Frauenfiguren abbildete, die wie die »ersten It-Girls« zwischen zwei Polen, nämlich »der aktiven Selbstgestaltung als Funktionselement von Gesellschaft und dem hedonistischen Selbstbezug«, angesiedelt waren.20

Die kosmopolitische und selbstbewusste Neue Frau wurde in der diffusen Atmosphäre der 1920er Jahre zur ambivalenten (Identifikations-)Figur mit großer Strahlkraft. Sie war durch die Ambivalenz von Wünschen und Normen, Selbstverwirklichung und Grenzerfahrung markiert und geriet zur Chiffre für die Idee der intellektuellen, kulturellen und gesellschaftlichen Gleichberechtigung. Aber nicht nur die Bemühungen zur Gleichstellung von Frau und Mann mündeten in einer Sackgasse; auch die Wirkmächtigkeit und der mediale Glanz der heterogenen (modischen) Varianten des Konzepts ›Neue Frau‹ als konsumorientiertem Kulturwesen begann mit der Weltwirtschaftskrise 1929 langsam zu verebben und wurde durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten von einem rückwärtsgewandten Frauenbild abgelöst.21

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