Kitabı oku: «Unter Schweizer Schutz»

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Über dieses Buch

Zwischen März 1944 und Januar 1945 leitete der Schweizer Diplomat Carl Lutz (1895–1975) in Budapest eine umfangreiche Rettungsaktion. Lutz und sein Rettungsteam haben schätzungsweise mehr als 50000 Schutzbriefe ausgestellt und verfolgte Jüdinnen und Juden in 76 sogenannten Schweizer Schutz-häusern untergebracht und damit Zehntausende vor Deportationen, Erschiessungen und Todesmärschen bewahrt.

«Unter Schweizer Schutz» enthält Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Berichte, Briefe und Vorträge von Überlebenden in Israel, den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Ungarn, Grossbritannien und Kanada. Das Buch zeigt die aussergewöhnliche Reichweite und das Ausmass der humanitären Hilfe von Carl Lutz und erinnert an seine selbstlose Grosstat.

Carl Lutz kämpfte sein Leben lang um die staatliche Anerkennung seines Einsatzes, der von der offiziellen Schweiz als «Kompetenzüberschreitung» gewertet wurde. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, war dreimal für den Friedensnobelpreis nominiert und erhielt von Yad Vashem den Ehrentitel «Gerechter unter den Völkern». Im Jahr 2018 wurde im Bundeshaus in Bern ein «Carl Lutz Saal» eingeweiht.


Agnes Hirschi, geboren kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in London, Kindheit in Budapest. Die Belagerung der ungarischen Hauptstadt erlebte sie als sechs Jahre altes Mädchen, die letzten zwei Monate des Kriegs mit der Familie Lutz und dreissig weiteren Personen im Luftschutzkeller. Nach dem Krieg heiratete Carl Lutz ihre Mutter, so kam sie in die Schweiz, wo sie seit 1949 lebt. Bis zu ihrer Pensionierung war sie als Journalistin in Bern tätig. Sie ist Präsidentin der 2018 in Bern gegründeten Carl Lutz Gesellschaft und Mitglied des Kuratoriums der 2004 gegründeten Carl Lutz Stiftung, Budapest.


Foto Gerry Schallié

Charlotte Schallié, geboren 1965 in Toronto, aufgewachsen im Aargau. Studium der Geschichte und Germanistik an der University of British Columbia in Vancouver. Sie ist Professorin an der University of Victoria in Kanada für Germanistik und Holocaust Studies. Veröffentlichte u. a. «Heimdurchsuchungen. Deutschschweizer Literatur, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur seit 1965».

Unter Schweizer Schutz

Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest – Zeitzeugen berichten

Herausgegeben von Agnes Hirschi und Charlotte Schallié

Unter Mitarbeit von Dahlia Beck, Daniel Teichman, Daniel von Aarburg und Noga Yarmar Mit einem Beitrag von François Wisard

Übersetzungen von Lis Künzli und Barbara Linner

Limmat Verlag

Zürich

«Doch die Gesetze des Lebens sind nun einmal stärker als menschliche Paragraphen»1
Charlotte Schallié und Agnes Hirschi

«Im Frühjahr 1944, während der unbarmherzigsten Schreckensherrschaft, fand sich ein Mensch, ein Schweizer Diplomat, der sich über alle Vorschriften (sowohl der Schweiz als auch Amerikas) hinwegsetzte, der seinen Diensteid verletzte, um einem Mitmenschen zu helfen.» 2

Dieses Buch zeichnet aus der Sicht von Geretteten und Widerstandskämpfern die Rettungsaktivitäten des Schweizer Diplomaten Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest nach.

Carl Robert Lutz (1895–1975) war von Januar 1942 bis März 1945 Vizekonsul und Leiter der Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft» in Budapest. Zu seinen Aufgaben gehörte, die Schutzmacht-Interessen von vierzehn kriegführenden Staaten in Ungarn zu repräsentieren – unter anderem jene der USA und Grossbritanniens. In dieser Funktion führte Lutz bereits zu Beginn seiner Amtszeit Verhandlungen mit den ungarischen Behörden und erwirkte, dass 10 000 Palästina-Zertifikate 3 für jüdische Kinder und Jugendliche ausgestellt wurden, womit er ihnen die Auswanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina ermöglichte. Diese erfolgreichen Verhandlungserfahrungen in Budapest waren wegweisend für den Verlauf von Lutz’ Rettungsaktion, die er nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 19. März 1944 auf eigene Initiative in die Wege leitete. Im Anschluss an die Besetzung Ungarns wurde die jüdische Bevölkerung – mit Ausnahme der Juden und Jüdinnen in der Hauptstadt – in weniger als zwei Monaten in Ghettos verschleppt und von dort nach Auschwitz-Birkenau und in andere Vernichtungslager deportiert und ermordet. Obwohl die Deportationen im Juli 1944 weitgehend eingestellt wurden, waren die Jüdinnen und Juden in Budapest weiterhin der Gefahr von Angriffen, Erschiessungen und Todesmärschen ausgesetzt. Carl Lutz, der über den Verlauf der Deportationen informiert war, entschloss sich, umgehend zu handeln. Nach wochenlangen Verhandlungen mit dem Reichsbevollmächtigten für Ungarn, SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, und SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann erreichte Lutz, dass er das, von Grossbritannien bereits bewilligte, Kontingent von 7800 Palästina-Zertifikaten an jüdische Schutzsuchende ausstellen durfte.4 Da eine Auswanderung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich war, war Carl Lutz’ Rettungscoup einzig darauf ausgerichtet, die jüdischen Verfolgten in Budapest vor den Erschiessungen, Todesmärschen und vorangetriebenen Abtransporten in die Sammellager zu bewahren. Zu diesem Zweck entwickelte er auf eigene Verantwortung eine Rettungsstrategie, die darauf abzielte, für alle Inhaber der Palästina-Zertifikate sogenannte «Schutzbriefe» auszustellen und sie gleichzeitig in einem kollektiven Auswanderungspass – dem «Kollektivpass» – namentlich zu erfassen. Sowohl die Schutzbriefe wie auch die zwei Kollektivpässe waren mit dem offiziellen Stempel der Schweizer Gesandtschaft versehen. Um sein Vorgehen zu erklären, vertrat Lutz gegenüber den deutschen und ungarischen Behörden den Standpunkt, dass die Inhaberinnen und Inhaber der Schutzbriefe als Schweizer Bürger unter Schweizer Schutz standen und von der Vernichtungspolitik in Ungarn ausgeschlossen waren. Carl Lutz organisierte diesen grossangelegten Rettungseinsatz, der die offizielle Schweiz als Schutzmacht für die jüdische Bevölkerung auftreten liess, ohne dass er dazu von der Schweizer Regierung bevollmächtigt gewesen wäre. Die humanitäre Schutzaktion war aus der Not geboren und konnte – wie die Zeitzeugenberichte in diesem Buch nahelegen – nur mit Hilfe eines Netzwerks von zahlreichen lokalen Helfern und Verbündeten durchgeführt werden. Es war ein gefährliches Unterfangen für alle Mitakteure. Carl Lutz beschreibt diese erste Phase seiner Rettungsaktivitäten wie folgt:

«Die Erstellung dieser Pässe, die ‹Schweizer Kollektivpässe› genannt wurden, bot erhebliche Schwierigkeiten, wenn sich auch zahlreiche Volontäre zur Verfügung stellten, um bei den Schreibarbeiten mitzuhelfen. Meine Idee war, Kollektivpässe von je 1000 Personen zu erstellen. Dazu brauchte es, nebst den Personalien, auch Fotos von den Personen, die aber in den Judenhäusern [Gelbsternhäusern] eingeschlossen waren. Eine Gruppe von 50 jungen jüdischen Volontären stellte sich zur Verfügung – zum Teil in ungarischer Uniform – , um die Personalien und Photi zu beschaffen. In einigen Fällen wurde der Zutritt in die Häuser sogar erzwungen, indem die jungen Burschen sich als Pfeilkreuzler ausgaben. In mühsamer Nachtarbeit wurden vier Pässe angefertigt, die heute wohl historische Dokumente sind.» 5


Der junge Carl Lutz auf der Atlantik-Überfahrt 1913

Obwohl sich Carl Lutz nach aussen hin – und gegenüber den deutschen und ungarischen Behörden – an die Kontingent-Anweisungen hielt, setzte er sich in einem zweiten Schritt über sie hinweg, indem er eigenmächtig den Auftrag erteilte, die genehmigte Quote um ein Vielfaches zu überschreiten. Sein ausgeklügelter und erfinderischer Plan bestand darin, die begrenzten Mittel und Ressourcen des bürokratischen Apparats auszuschöpfen, um so viele Menschenleben wie nur möglich zu retten. Damit die waghalsige Strategie nicht aufflog, hielt er seine Mitarbeiter an, jede neue Serie von Einwanderungszertifikaten und Schutzbriefen jeweils von 1 bis 7800 zu nummerieren.6 Ein weiterer bürokratischer Kniff war, die 7800 Palästina-Zertifikate als «Familienzertifikate» zu interpretieren und für jedes Familienmitglied einen eigenen Schutzbrief auszugeben. Denn, so argumentierte der gewandte Verhandlungsführer Lutz, die ungarische Regierung habe doch schliesslich «Einheiten» genehmigt, die, nach seinen Vorstellungen, bis ca. zehn Familienmitglieder beinhalteten. Diese willkürliche Auslegung hatte zur Folge, dass Carl Lutz mit der von ihm ins Leben gerufenen Rettungsaktion und durch die Unterstützung seines Rettungsteams über 50 000 lebensrettende Schutzbriefe und Schutzpässe ausstellen konnte.7

In Verhandlungen mit dem ungarischen Aussenminister Gábor Kemény erreichte Carl Lutz zudem, dass 76 Häuser in der Pozsonyi-Strasse und am Szent-István-Park laut geltendem Exterritorialitätsrecht unter Schweizer Obhut gestellt wurden. Dazu gehörte das Glashaus in der Vadász-Gasse 29, das als exterritoriales Gesandtschaftsgebäude von der ungarischen Regierung anerkannt war.8 In diesem Gebäude eröffnete die Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft» am 24. Juli 1944 ihre Auswanderungsabteilung. Carl Lutz betraute zuerst den Leiter des Budapester Palästina-Amtes Miklós (Mosche) Krausz und danach auch Alexander Grossman damit, die Leitung zu übernehmen. Nach dem Staatsstreich der «Nyilas» (Pfeilkreuzler) am 15. Oktober 1944 war das Glashaus das grösste Gebäude unter Schweizer Schutz und beherbergte gemäss Zeitzeugenaussagen bis zu 3000 verfolgte jüdische Menschen. Nach Schätzungen von Mihály Salamon fanden in allen 76 von der Schweiz geschützten Häusern zirka 17 000 Verfolgte einen Zufluchtsort.9

Aus Carl Lutz’ Aufzeichnungen geht hervor, dass um die 150 Personen – Angestellte der Schweizer Gesandtschaft und Freiwillige – an dieser umfangreichen Rettungsaktion mitbeteiligt waren.10 Zu ihnen gehörten Carl Lutz’ engste Vertraute, seine Ehefrau Gertrud Lutz-Fankhauser (1911–1995), die Schweizer Landsleute Harald Feller (1913–2003), Ernst Vonrufs (1906–1972), Peter Zürcher (1914–1975) sowie Miklós Krausz (1908–1985) und Mitglieder der zionistischen Jugenduntergrundbewegungen. Andere Diplomaten wie Raoul Wallenberg oder der päpstliche Nuntius Angelo Rotta folgten seinem Beispiel und stellten ebenfalls zahlreiche Schutzbriefe, Pässe und Zertifikate für die Menschen in Not aus. Aufgrund ihres Umfangs und ihrer minutiösen Durchführung jedoch darf die risikoreiche Operation von Lutz, die er «ohne einen administrativen Apparat, ohne finanzielle Mittel und ohne amtlichen Auftrag»11 ausführte, als die grösste und erfolgreichste zivile Rettungsmission des Zweiten Weltkriegs betrachtet werden.12 Um das Überleben der jüdischen Bevölkerung, die in akuter Lebensgefahr war, zu sichern, setzte sich Carl Lutz über Konventionen und Vorschriften hinweg, indem er die Menschenrechte und den Grundsatz der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens über das damals geltende Unrecht stellte. Mehr als 70 Jahre später dient Carl Lutz’ Rettungsaktion noch immer als musterhaftes Beispiel humanitärer Diplomatie in Konfliktgebieten.


Carl Lutz mit seiner geliebten Mutter Ursula, USA 1934

Carl Lutz

Carl Lutz wurde am 30. März 1895 in Walzenhausen (Appenzell Ausserrhoden), einer hoch über dem Bodensee gelegenen Gemeinde, als zweitjüngstes von zehn Kindern geboren. Sein Vater, Johannes Lutz, betrieb einen Steinbruch, starb jedoch früh. Die tiefreligiöse Familie war arm. Seine Mutter, Ursula Lutz-Künzler, war Sonntagsschullehrerin in der Methodistengemeinde und kümmerte sich um die Armen in der Gemeinde. Sie war eine warmherzige Frau und ein Vorbild für Carl Lutz, der seine Mutter liebte und verehrte. Da ein Studium in der Schweiz aus finanziellen Gründen nicht in Frage kam, wanderte er nach seiner kaufmännischen Lehre in St. Margrethen (St. Gallen) im Jahr 1913 nach St. Louis (Missouri), in die Vereinigten Staaten, aus. Er war gerade achtzehn Jahre alt geworden; ohne eigenes Vermögen und ohne Beziehungen dorthin. Um sein geplantes Studium zu finanzieren, arbeitete er fünf Jahre lang in einer Fabrik in Granite City (Illinois). Dann erst konnte er an der George Washington University sein Studium in Geschichte und Jura aufnehmen und drei Jahre später (1924) mit dem Bachelor of Arts abschliessen. In dieser Zeit begann auch seine diplomatische Karriere, zunächst mit einer Aushilfsstelle als Korrespondent und bald als Kanzlist in der Visa-Abteilung der Schweizer Gesandtschaft in Washington, D. C. Daraufhin folgten feste Anstellungen als Kanzleisekretär an den Schweizer Konsulaten in Philadelphia und St. Louis. Im Jahr 1935, nach seiner Heirat mit Gertrud Fankhauser, wurde Carl Lutz an das Schweizer Konsulat in Jaffa, das für das damalige Palästina und Transjordanien zuständig war, versetzt. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vertrat er auch die Interessen der deutschen Reichsangehörigen in Palästina. In diese Zeit fiel seine Ernennung als Vizekonsul. Die guten Kontakte zu Deutschland kamen ihm später in Budapest zugute. Wie bereits erwähnt war Carl Lutz nach seiner Tätigkeit in Palästina von Januar 1942 bis März 1945 Vizekonsul in Budapest.


Carl Lutz und Gertrud Lutz-Fankhauser (2. Reihe rechts aussen) im Bus von Lissabon nach Genf 1945. Dazu schreibt Carl Lutz: «Endlich rückt die Heimat näher! Von Lissabon ging es Mitte Mai 1945 über Madrid nach Barcelona, wo wir von einem schweizerischen Autobus abgeholt und wohlbehalten nach Hause gebracht wurden.»

Nach den Ereignissen in Budapest kehrte Carl Lutz im Mai 1945 gesundheitlich schwer angeschlagen über Bulgarien und die Türkei in die Schweiz zurück. In seinem unveröffentlichten Lebenslauf, den er 1968 verfasste, schildert er die Umstände dieser abenteuerlichen Reise:

«Nach einem einwöchigen Aufenthalt in der Türkei setzten wir die Reise auf dem Schutzmachtdampfer ‹Drottingholm›, stets mit Schwimmgürtel durch das minenverseuchte Mittelmeer, nach Lissabon fort, von dort über Spanien nach Genf, wo wir nach der sechs Wochen dauernden Reise um Mitternacht ankamen und den Dank und Gruss der Heimat entgegennahmen, der da lautete: ‹Haben Sie was zu verzollen?› »13

Carl Lutz arbeitete nach seiner Genesung von 1946 bis 1954 für das Politische Departement in Bern und Zürich. In dieser Zeit liess er sich von seiner Frau Gertrud scheiden und heiratete im Jahr 1949 Magda Grausz aus Budapest. Im Jahr 1951 war er in einer besonderen Mission für die Lutheran World Federation in Israel tätig. Von 1954 bis 1961 amtete er als Konsul in Bregenz (Österreich) – zuletzt als Titular-Generalkonsul. Nach seiner Pensionierung lebte Carl Lutz in Bern, wo er am 13. Februar 1975 im Alter von 80 Jahren verstarb. Seine erste Frau, Gertrud Lutz-Fankhauser schrieb über ihn: «Er gehörte zu den Stillen im Lande und war zeitlebens ein pflichtbewusster Beamter. Gleichzeitig war er von seinem tiefen christlichen Glauben stark geprägt, was ihn aus innerstem Bedürfnis immer wieder dazu verpflichtete, Menschen in Not beizustehen.»14

Nach der Zeit in Budapest war Carl Lutz für den Rest seines Lebens von einem grundlegenden Widerspruch gezeichnet. Obwohl er sich Vorwürfe machte, in Budapest nicht mehr «Schutzbefohlene» gerettet zu haben, tat er sich schwer damit zu akzeptieren, dass seine humanitäre Aktion in der Schweiz wenig Beachtung fand. Während ihm aus dem Ausland verschiedene Zeichen der Anerkennung zuteil wurden – unter anderem eine Strassennamensgebung in Haifa (1958), das Grosse Bundesverdienstkreuz der BRD (1962), und die Ehrung als «Gerechter unter den Völkern» von Yad Vashem (1964)15 – wurden seine Rettungsaktivitäten in seiner Heimat nur vereinzelt gewürdigt, er erhielt zum Beispiel das Ehrenbürgerrecht seiner Heimatgemeinde Walzenhausen (1963). Nach seiner Rückkehr aus Budapest nahmen sich seine Vorgesetzten im Bundeshaus kaum Zeit, ihn anzuhören; stattdessen prüfte man seine Spesenabrechnung. Auch wurde seiner beim Eidgenössischen Politischen Departement (EPD; heute EDA) vorgebrachten Bitte, ihm zwei Kollektivpässe für einige Zeit zur Verfügung zu stellen, nicht entsprochen. In einem Brief (5. Februar 1949) erhielt Carl Lutz den Bescheid, dass die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartements gegen ihn den Vorwurf der «Kompetenzüberschreitung» erhob, denn es sei in Budapest nicht gesetzmässig gewesen, Schweizerpässe an Ausländer zu verteilen:

«Die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartements macht uns [...] mit Schreiben vom 25. Januar 1949 darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung der betreffenden Ausweispapiere als schweizerische Kollektivpässe nicht statthaft war; denn die Abteilung für fremde Interessen sei wohl ermächtigt gewesen, den ihrem Schutz unterstellten Ausländern Papiere abzugeben, habe aber diese nicht als Schweizerpässe bezeichnen dürfen.»16

Man muss sich vergegenwärtigen, dass Carl Lutz in einer höchst dramatischen Situation in Ungarn, wo Adolf Eichmann die Vernichtung der ungarischen Juden vorantrieb, sich eines raffinierten juristischen Manövers bediente, um Tausende von Menschenleben zu retten. Während er sich dazu entschied, Menschenleben höher zu gewichten als das buchstabengetreue Befolgen von Gesetzen, wurde ihm letztlich genau dies von seinen Vorgesetzten vorgehalten. Die oben zitierte schriftliche Rüge – auch wenn sie keine Bestrafung nach sich zog – empfand der gewissenhafte und verantwortungsbewusste Beamte, als würde man sein Handeln als schweres Vergehen werten. Es darf deshalb nicht verwundern, dass Carl Lutz bis zu seinem Lebensende darum kämpfte, sich in den Augen jener, die seine Vorgehensweise in Budapest legalistisch oder moralisch verurteilten, zu rehabilitieren.


Carl Lutz mit einer Kinderschar in Appenzell, Schweiz, undatiert

Nach dieser schriftlichen Massregelung sollten noch neun Jahre verstreichen, bevor Carl Lutz’ «unbefugtes» Vorgehen zum ersten Mal von offizieller Schweizer Seite als humanitäres Engagement gewürdigt wurde. Die Anerkennung von Bundesrat Markus Feldmann kam Lutz anlässlich der Debatte über den Ludwig-Bericht im Nationalrat zuteil. Die eigentliche offizielle Rehabilitierung erfolgte jedoch erst 1995 im Rahmen der Gedenkstunde zum 100. Geburtstag von Carl Lutz. Der damalige Aussenminister Flavio Cotti würdigte Carl Lutz als «stillen, aber grossen Helden». Es ist bezeichnend, dass Cotti in seiner Rede die Privatperson Lutz ehrte, indem er darauf hinwies, dass Lutz «als Mensch und verantwortliches Individuum gehandelt [habe], weil sein persönliches Gewissen ihm keine Ruhe liess». Dass die Rettungsaktion in Budapest nur möglich war, weil Lutz in seiner Funktion als Amtsträger handelte, darauf verwies Cotti in diskret indirekter Weise. Cottis Rede war keine politische Entschuldigung, es war die Ehrung eines Aufrechten und Gerechten, der – hier zitierte Cotti das humanitäre Credo von Carl Lutz – sich das Recht herausnahm, die jüdischen Flüchtlinge unter den offiziellen Schutz der Schweizer Regierung zu stellen: «Wenn es so viele Länder gibt, welche die Gesetze verletzen, um zu töten, so dürfte es doch ein Land geben, dass die Gesetze verletzt, um zu retten.»17

Im Gegensatz zum politischen Erinnerungsdiskurs berichteten die Medien sporadisch über Carl Lutz’ Rettungsaktivitäten im Zweiten Weltkrieg. Vier Monate nach Kriegsende – am 15. September 1945 – erschien in der «Schweizer Illustrierten» ein Beitrag unter dem Titel «Ein Schweizer Konsul und ein Konsul von Salvador verhinderten die Ausrottung des ungarischen Judentums». Anlässlich seiner Pensionierung im Jahre 1961 wurden Carl Lutz’ persönliche Aufzeichnungen in gekürzter Form in der «Neuen Zürcher Zeitung» unter dem Titel «Die Judenverfolgung unter Hitler in Ungarn» zum ersten Mal veröffentlicht. Der einleitende Paragraph würdigte, «was Mannesmut, Unerschrockenheit und Unbeirrbarkeit im Dienste der Menschlichkeit auch in einer Zeit zu wirken vermögen, in der alle ethischen Wertmassstäbe mit Füssen getreten werden».18 Im selben Jahr erschien «Heute darf ich reden – Ich habe nicht umsonst gelebt» in der Zeitschrift «Sie und Er». In diesem Artikel kamen auch weitere an der Rettungsaktion beteiligte Personen wie Tibor Rosenbaum und Alexander Grossman zu Wort. Als zehn Jahre später Carl Lutz der «Schweizer Illustrierten» den Vorschlag unterbreitete, über die Rettungsaktion zu schreiben, erhielt er die Antwort «Nun verhält es sich leider so, dass sich – wie verlässliche Erhebungen ergeben haben – der Grossteil meiner Leser für die dramatischen Vorgänge, in deren Mittelpunkt Sie einstens gestanden haben, kaum mehr interessiert, sodass ich beim besten Willen keine Möglichkeit sehe, einen Bericht in der ‹Schweizer Illustrierten› zu publizieren, wie er Ihnen vorschwebt. Unterzeichnet von Dr. W. Meier – Chefredaktion.» Diesen ablehnenden Bescheid erhielt Carl Lutz vier Jahre vor seinem Tod.


Carl Lutz und Gertrud Lutz-Fankhauser sitzen mit dem Chauffeur Charles Szluha im Wrack ihres Autos, Budapest, Ungarn 1945

Zwischen 1975 und 1995 finden sich in der medialen Aufarbeitung der Schweizer Erinnerungsgeschichte zum Zweiten Weltkrieg relativ wenige Hinweise auf Carl Lutz. Vereinzelte Beiträge behandelten Alexander Grossmans Biografie «Nur das Gewissen. Carl Lutz und seine Budapester Aktion – Geschichte und Porträt» (1986) und berichteten über die Einweihungen der Ehrentafel in Walzenhausen (1975), des Carl-Lutz-Denkmals in Budapest (1990) und des Carl-Lutz-Weges in Bern (1995).

Obwohl die historische Figur Carl Lutz in der kollektiven Erinnerung der Schweiz auch heutzutage noch nicht fest verankert ist, wird seine Schutzbrief-Rettungsaktion im nationalen Gedächtnis der Schweiz seit zehn Jahren vermehrt gewürdigt. Eine bedeutende Ehrung von Seiten der Bundesregierung erfolgte anlässlich der Herbstsession des Nationalrats am 24. September 2018 im Nationalrat. Ein halbes Jahr zuvor wurde das grösste Sitzungszimmer im Westflügel des Bundeshauses als «Carl Lutz Saal» von Bundesrat Ignazio Cassis eingeweiht.


Carl Lutz in den Ruinen der Britischen Gesandtschaft, Budapest, Ungarn 1945


Erste Weihnachten in Bern, Schweiz 1949


Porträtaufnahme von Carl Lutz 1965

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