Kitabı oku: «Wörterbuch des besorgten Bürgers», sayfa 2
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Fünf Ausrufezeichen sind »ein sicheres Zeichen dafür, daß jemand die Unterhose auf dem Kopf trägt«, witzelt eine Figur im Terry-Pratchett-Roman Mummenschanz. Ausrufezeichen müssen dazu herhalten, die Unmöglichkeit des Schreiens im geschriebenen Wort aufzufangen. Und weil die Frustration besorgter Bürger kaum zu steigern ist angesichts der Manipulationen und Bedrohungen, die das deutsche Volk erleiden müsse, ertönt jeder Satz mit zornbebender Stimme. Die Zahl der Ausrufezeichen markiert die Erregungsleiter. Zwei, drei wirken ruhig und besonnen. Ab acht wird die Wut anschaulich, bei 30 droht die Halsschlagader zu platzen. Die alte Kunst der Argumentation ist einem marktschreierischen Überbietungswettkampf gewichen: Jede noch so absurde Aussage beweist ihren Wahrheitswert anhand der Häufung einer Punkt-Strich-Kombination am Satzende. Die erregte Gesellschaft hat ihr Lieblingszeichen gefunden. Im Eifer des Gefechts und in Unkenntnis der Feststelltaste schleicht sich hin und wieder eine 1 ein, was der Angelegenheit beinahe einen typographischen Charme verleiht. Das wäre eine Randnotiz, würden die Besorgten nicht auf die Reinheit der deutschen Sprache pochen, die ein Ausrufezeichen nur bei einem Satz mit Imperativ vorsieht. Also wirklich selten. Und immer nur eins. [rf]
89
1989 war das Jahr, in dem mächtig was los war im Osten. Die Leute gingen in vielen Städten auf die Straße, riefen unter anderem »Wir sind das Volk« und am Ende gab es keine DDR mehr − so die verkürzte Wahrnehmung. Die wackeren Gida-Montagsspaziergänger meinen, Parallelen zur Gegenwart zu erkennen. »Ihr habt es geschafft, dieses Unrechtsregime dahin zu schicken, wo es hingehört, auf den Müllhaufen der Geschichte«, ruft Michael Stürzenberger am Jahrestag des Mauerfalls 2015 von der Leipziger Legida-Bühne. Und legt den Zuhörern nahe, es ein gutes Vierteljahrhundert später wieder so kommen zu lassen. Ähnliches schwebt auch Redner Graziano vor, der hofft, »dass wir alle gemeinsam es doch schaffen werden, dieses Regime zum Umdenken zu bringen, genau wie damals vor der Wende 1989. Sowas kann sich von heute auf morgen ändern und ihr wisst es: Das geht ruckzuck.« Weil ein Häufchen Getreuer in Leipzig alleine nicht in der Lage ist, derart Großes zu vollbringen, fallen die Namen von Städten, in denen der Protest ebenfalls lodert: Chemnitz, Duisburg und Kassel sind zu hören, Stendal, Goslar, Gera. Es seien viele »Patrioten« regelmäßig auf der Straße, »die dieses Regime nicht mehr länger ertragen können«. Im »Regime« und den abendländischen Protesten dagegen findet am selben Tag eine weitere Rednerin nicht nur Parallelen. Eigentlich sieht sie keine Unterschiede mehr zwischen früher und heute: Leute werden von Arbeitgebern und Kollegen wegen ihrer politischen Meinung schikaniert, die Kanzlerin ist eine ehemalige IM ( Erika), Parteien und Presse sind gleichgeschaltet. »Wir sind das Volk!« und »Merkel muss weg!« sekundieren die Zuhörer und sind sich sicher, dieses Regime knickt vor ihnen ein, wie 89 der DDR-Staatsapparat. [fr]
Abendland
»Abendland in Christenhand«: Vor einigen Jahren ging die österreichische FPÖ mit dieser Parole in den Wahlkampf, suggerierend, das Abendland befinde sich nicht mehr in christlichen Händen. Dann wäre es aber gar nicht mehr das Abendland, weil das dem Konzept nach nur christlich sein kann. Von der problematischen Verstrickung beziehungsweise Gleichsetzung von Demokratie und gesellschaftlicher Verfasstheit mit Religion ( christlich-jüdisch) abgesehen, dient das Abendland bis heute als Abgrenzungsmetapher.
Ursprünglich bezeichnete das Abendland − Okzident − nur jene westlichen Lande der bekannten Welt, die der untergehenden Sonne am nächsten liegen. Der Nahe Osten wurde hingegen Morgenland − Orient − genannt. Von der geografischen Ordnungsvorstellung wurde das Abendland dann zum Kampfbegriff. Es soll irgendwie die antike Philosophie mit dem Christentum verschmelzen und damit einen über die Zeiten hinweg homogenen europäischen Kulturkreis behaupten. Mit dem Begriff setzte sich das lateinische Christentum vom orthodoxen in Byzanz auf Distanz. Dann diente es als Konzept gegen die Angriffe der Türken, wurde gezielt gegen Muslime verwendet; auch Juden waren lange außen vor. Bei Autoren wie Oswald Spengler ( Untergang des Abendlands) gerinnt es später zur Beschreibung eines ursprünglichen Europas, das von Kapitalismus und Demokratie im Westen und Kommunismus im Osten in die Zange genommen wird. So gerierte sich auch Adolf Hitler als Verteidiger des Abendlands. In Zeiten des Kalten Kriegs wird es − dann inklusive USA − als Wertegemeinschaft gebraucht, die vorm Ostblock zu verteidigen sei.
Allmählich verblasste sein Glanz, aber nicht ganz. Noch 1997 hielt der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Rede die Fahne hoch: »Lassen wir uns nicht von jenen beirren, die meinen, über den Begriff des ›christlichen Abendlandes‹ spotten zu müssen. Die Werte und Anschauungen, die unser christliches Abendland verkörpert, sind älter als die pseudophilosophischen Denkschulen unserer Zeit und werden auch noch zu einem Zeitpunkt bestehen, diskutiert und gelebt werden, an dem so manche der modernen Weisheiten und Wahrheiten schon lange vergessen sein werden.« Pegida hat das Wort wieder populär gemacht und seither trampeln auch viele Nichtgläubige unter dem Namen »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« als wütende Demonstranten durch Dresden & Co. [tp]
Abschiebeverhinderungsindustrie
Man muss Rainer Wendt Respekt zollen. Kaum jemand sonst hatte sich derart festgebissen im deutschen Talkshowgeschäft. Woche für Woche polterte der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPoIG) gegen die aufgeklärte Welt und redete ihren Untergang herbei. Nur die ganz harte Hand könne noch helfen. Dabei gelang es Wendt, als Gesicht der ganzen Polizei aufzutreten, obwohl seine durchaus umstrittene Gewerkschaft mit 94.000 Mitgliedern deutlich kleiner ist als die Konkurrenz, die Gewerkschaft der Polizei.
In einem seiner rhetorisch sonst nicht ungeschickten Redeanfälle prägte er einen Begriff, den Besorgte dankbar aufnahmen: »Es gibt eine regelrechte Industrie für Abschiebeverhinderung«, schwadronierte er gewohnt bitterlich. Gemeint ist die tatsächlich recht seltene Praxis, eine Abschiebung etwa am Wohnort der Betroffenen zu verhindern, indem sich Menschen der Polizei in den Weg setzen. Diese müsste sich erst durch eine Gruppe hindurchprügeln, um die Abschiebung einleiten zu können, was unverhältnismäßig wäre.
Wendts Gefühlskälte ob der häufigen Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit − etwa wenn gut integrierte Menschen aufgrund absurder Gesetze in ein Land abgeschoben werden sollen, das sie gar nicht kennen − verwundert nicht. Das Maß der verbalen Eskalation dagegen schon. Klassischerweise bezeichnet Industrie eine Art des Wirtschaftens mit einem hohen Grad der Automatisierung: Maschinen, Fließbänder und Serienproduktion, womöglich am besten bebildert durch die dreckigen Fabrikhallen des 19. Jahrhunderts. Es braucht schon viel üble Vorstellungskraft, den Schutz einzelner Menschen durch schlichte Anwesenheit von Aktivisten mit einem solchen Begriff in Verbindung zu bringen. Das einzige Mal, dass an anderer Stelle das Wort Industrie in Bezug auf Menschen als Objekt (und nicht als Arbeiter) zur Geltung kam, war jener des »industriellen Massenmords« an Juden und Roma in Auschwitz und anderswo. Bleibt die Hoffnung, dass sich Wendt dieser Überblendung nicht bewusst ist und vorrangig seine Gier nach Aufmerksamkeit einen solchen Fehlgriff begründet. Zweifel daran allerdings sind angebracht. [rf]
Afrikaner
Afrikaner, tönte Björn Höcke von der AfD, hätten eine andere Reproduktionsstrategie als Europäer. In den nördlichen Breiten zeuge man weniger Kinder, um »die Kapazität des Lebensraums optimal ausnutzen« zu können (K-Strategie). Soll heißen, für Europäer gebe es keinen Grund, auch territorial zu expandieren, da alle genug Platz hätten. »Afrikanern« hingegen attestierte er, sie würden auf Kinderreichtum setzen, um die Bevölkerung möglichst stark anwachsen zu lassen (r-Strategie). Da all die Menschen aber Raum bräuchten, kämen viele aus Afrika nach Europa. Solange man sie hier aber aufnehme, würden sie nie lernen, nach der europäischen Strategie zu vögeln.
Höcke bedient sich in astrein rassistischer Manier bei der Biologie, wo es für die Tierwelt heißt, dass Säugetiere weniger Nachwuchs bekommen, um den sich die Eltern intensiv kümmern (K-Strategie). Bakterien, Läuse und Fliegen vermehren sich nach der r-Strategie: Eine hohe Reproduktionsrate sichert nicht das Überleben des Einzelnen, aber der Art.
Als Bakterien oder Läuse gelten »die Afrikaner«. In diesem falschen Sammelbegriff für sehr viele, sehr unterschiedliche Menschen eines ganzen Kontinents und in der widerlichen Überblendung von Menschen und Insekten drückt sich die bodenlos rassistische Abwertung des schwarzen Anderen aus. Wie zerrüttet muss das Selbstwertgefühl sein, wenn es solcher Argumentationen braucht, um sich überlegen und gut zu fühlen? [ng]
Ahu!
Die sinnentleerteste Besorgtenparole verbreiten die Hooligans gegen Salafisten (HoGeSa). Unter dem Schirmbegriff können sich Einzelpersonen oder Gruppen zu Aktionen (Demos, Straßenschlachten) ohne festen Organisationskern sammeln. Das dumpfe, im Endlosband wiederholte »Ahu! Ahu! Ahu!« ist der begleitende Kampfschrei, etwa als eine HoGeSa-Demo 2014 in Köln eskalierte. Der Schlachtruf tauchte wohl das erste Mal bei Fans des FC Hansa Rostock auf und machte dann die ganze Hoolrunde. Er entstammt der Comic-Verfilmung 300, die sehr frei die Schlacht bei den Thermopylen wiedergibt: An diesem Engpass haben Spartaner 480 v. u. Z. einer persischen Übermacht getrotzt. Muskelgestählte Männerkörper, inszeniert als Phalanx gegen die Fremden, »Ahu!« dient als Ausweis ihres Intellekts. Das muss Fans der dritten Halbzeit gefallen.
Popkultur statt Politik: Auch die Identitären ( Identität) griffen zur Sparta-Inspiration, die Abkürzung via 300 ist wahrscheinlich. Ihr gelbes Signet Λ auf schwarzem Grund greift das Lambda-Zeichen auf, das die spartanischen Fußsoldaten auf ihren Schilden trugen. Als martialisches Symbol nutzt auch Tatjana Festerling, die ihre Hoolsympathie nie verhehlte, den Ruf. Angesichts des Merkel-Besuchs am 3. Oktober 2016 in Dresden geiferte sie: »Hier wirst du dein Blaues Wunder erleben! Deine Speichellecker, Hofschranzen und Schoßhündchen im Bundestag und bei der deutschen Presse mögen einen Nichtangriffspakt mit dir geschlossen haben − WIR NICHT! Im Gegenteil (…) stehen die Zeichen auf Attacke. Also, GröKaZ, trau’ dich − AHU!« [tp]
Alternative
Wenn etwas nicht so klappt, wie gewünscht, muss ein Plan B her. So ähnlich werden die Überlegungen gelaufen sein, als die AfD sich ihren Namen überlegte, der anzeigen soll, dass es hier um nichts Geringeres geht als um eine Alternative für das ganze Land. Angela Merkel betätigte sich als Thatcher-Double, erklärte Entscheidungen und Vorgehensweisen kurzerhand für »alternativlos« und alle machten mit oder schienen von der allgemeinen Agonie, die wie Mehltau über dem Land lag, so gelähmt, dass sie höchstens kopfschüttelnd Widerspruch leisteten. Es fehlten harte Kämpfe um Positionen und Visionen jenseits von Koalitionsfrieden und Schwarzer Null. Mit Begriffen wie Postpolitik oder Postdemokratie hatten solche Diskussionen um den Wechsel vom Politischen zur reinen Verwaltung der Welt auch in der Politikwissenschaft einige Wellen geschlagen. Es ist allerdings fraglich, ob die Vorstellung einer autochthonen Nation auf ihrer Scholle im frühen 21. Jahrhundert wirklich eine Alternative ist. Der Begriff Alternative steht im Rahmen der AfD eher für den wirklichkeitsfernen Versuch, die glücklicherweise überwundene Enge deutschen Biedermeiers wiederzubeleben ( Genderwahn).
Die Anhänger der AfD können sich schließlich darüber freuen, dass sie sich mit dem ganzen linksgrünversifften volksfernen Haufen nicht mehr auseinandersetzen müssen, seit sie auf dem Wahlzettel eine Alternative finden. Dort steht sie übrigens − Alphabet sei Dank − an erster Stelle, jedenfalls unter den Parteien, die bei der Wahl davor nicht angetreten sind. Vielleicht war die Namenswahl also gar nicht so sehr von dem ehrlichen Wunsch getrieben, etwas anders zu machen und eben eine Alternative zu bieten. In Sachsen-Anhalt jedenfalls plant der dortige Parteichef André Poggenburg seit mindestens 2016 eher eine »Alternative für Poggenburg«. Seine Fraktion bröckelt, die Unterstützung ebenso. Sicher hat er einen Plan B. Für ihn selbst und natürlich für ganz Deutschland. [fr]
Altmedien
Der Begriff meint eine »Pfründegemeinschaft«, deren Merkmal die »inhaltliche Gleichschaltung« und ihre »gemeinschaftliche Status-quo-Fixierung« sei, so Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag. Nein, das Wort »Lügenpresse« habe er (seines Wissens) nie in den Mund genommen, den Begriff »Lückenpresse« würde Höcke indes gerne »seiner Verwendung zuführen«. Aber er sagt lieber »Altmedien«. Klingt vornehmer − Höcke ist immerhin beurlaubter Gymnasiallehrer −, meint aber nichts anderes: den an Selbstbereicherung interessierten, verkommenen Haufen von Journalisten mit falschem »volkspädagogischem Anspruch«.
Deshalb erklärt Höcke »die Zeit des Rechtfertigens für beendet« und schreitet weiter auf dem Weg seiner Partei, den er als »unkonventionell« beschreibt. Mit Günther Lachmann, dem Pressesprecher seiner Fraktion im Thüringer Landtag, an seiner Seite.
Der kommt aus den Altmedien. Das allein wäre aus Höckes Perspektive unkonventionell genug, aber er setzt noch einen drauf. Lachmann musste das Altmedium Die Welt verlassen, weil er neben seiner Redakteurstätigkeit eine Pfründegemeinschaft mit der AfD gründen wollte. Er soll Höckes damaliger Parteikollegin Frauke Petry angeboten haben, sie für 4.000 Euro im Monat zu beraten. Nebenbei, denn er wollte für Die Welt weiter der zuständige AfD-Berichterstatter bleiben. Der Deal kam nicht zustande, Lachmann musste nach den Bestechlichkeitsvorwürfen das Blatt verlassen.
Aber quo vadis ohne Altmedien? Gerade als jemand wie Höcke, der sicherheitshalber eine Deutschlandfahne mit in die Talkshow nimmt, um auf jeden Fall Schlagzeile zu machen. Als Mitglied einer Partei, deren Spitzenpersonal den Dreiklang »provozieren − relativieren − dementieren« überhaupt als Kommunikationsstrategie erfunden hat. Sie würde ohne die Altmedien, die altbacken an der Routineformel »Es gilt das gesprochene Wort« festhalten, nicht funktionieren.
Auf dem Gipfel der Empörung »bedauert« Höcke, dass seine rassentheoretische Rede über den »lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp« ( Afrikaner), der auf »den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp« treffe, zu »Fehldeutungen« geführt habe. Parteikollege Alexander Gauland konnte sich zunächst nicht erinnern, Jérôme Boateng im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung überhaupt erwähnt zu haben. Stunden später räumte er dann doch ein, »dass die Leute einen Boateng« nicht als Nachbarn haben wollten. Das hätte er aber nicht als Person Gauland, sondern quasi als Medium der Leute gesagt. Er kolportiere also nur die Stimme des Volkes. Die Altmedien zerbrachen sich den Kopf: Darf man jemanden verurteilen, weil er sagt, was seiner Meinung nach die Leute denken? Unklar. Ein weiteres Meisterstück der Verwirrung gelang AfD-Chef Jörg Meuthen: »Wenn die NPD vernünftige Vorschläge macht«, würde die AfD nicht gegen sie stimmen. Schon am nächsten Tag behauptete er die klare Abgrenzung zu »allen extremistischen Positionen und Parteien« ( Extremismus).
Gäbe es die Altmedien nicht, würde dieser Wahnsinn kaum auffallen. Thomas etwa ist Gegner der wirklichkeitsverzerrenden »Altmedien« und feiert in seinem Blog sein zehntes Jahr ohne Altmedien mit den Worten: »Keine Sorge, ich schaffe es auch ohne stundenlange Berieselung, meinen Tag zu füllen. Problemlos auch mit sinnlosem Scheiss«. [jest]
Altparteien
Altparteien, auch etablierte Parteien, System- oder Blockparteien, sind »die da oben«. Wenn Gida ankündigt, so lange im Kreis zu spazieren, bis die Regierung ihre Forderungen erfüllt, sagt das mindestens zwei Dinge über ihr Weltbild aus. Einmal, dass sie nicht begriffen haben, wie eine Demokratie funktioniert. Andererseits, dass sie »die da oben« als komplett von der eigenen Lebenswelt getrennt wahrnehmen, als politische Kaste der Alt-, System- und Blockparteien, die allen Debatten im Bundestag zum Trotz in eine Schublade passen.
Dort regiert ein verordneter monolithischer Meinungsblock, sitzen saturierte Herrschaften der Altparteien, die vom System profitieren, das sie am Leben halten. Ernährt werden sie von den Steuern, die das stets und ständig betrogene Volk entrichtet. Vom Alltag der Bevölkerung wissen diese Leute nichts, schon gar nichts von deren Sorgen, die sie regelmäßig auf die Straße treiben, um Reden zu bejubeln, in denen »wir« gegen »die« wettern. Entsprechend hieß es von der Legida-Bühne im Frühjahr 2015 wissend, dass »die etablierten Parteien beginnen, Angst zu haben«. Die imaginierten Widerständler unterscheidet Folgendes von diesem »Scheißhaufen«, der »korrupt« sei: »Ihr seid hier aus freiem Willen, und vor diesem Geist der Freiheit und Unabhängigkeit erzittern diese Systempolitiker.« Dass nach dem Wahlsupersonntag ein gutes Jahr später am 13. März 2016 die Hauptnachrichten der Öffentlich-Rechtlichen mehrfach das Wort »Etablierte« verwendeten, um alle Parteien außer der AfD zu bezeichnen, dürfte dieser gut gefallen. Im Vergleich mit den Altparteien wollen die kämpferischen Kräfte von Gida und AfD nicht nur wie die Frischlinge auf dem politischen Parkett erscheinen, die sie teilweise sogar sind. Sie wollen vor allem als gerechte Kämpfer mit dem Ohr am Volk dastehen, die selbiges wirklich repräsentieren können.
Wenn die AfD sich als Teil des Volkes inszeniert, beginnt die Rhetorik um »System« und »Etablierte« zu schillern. Wer so tut, als wolle er den Politikladen aufmischen, aber in fast allen Landesparlamenten sowie im Bundestag sitzt und Steuergelder kassiert, befindet sich nicht nur in einer Etablierungsspirale, sondern vor allem in einem interessanten Spagat zwischen »wir« und »die«. [fr]
Angst
Angst ist erstens ein subjektives Gefühl, die gleichermaßen drängende wie diffuse Empfindung, bedroht zu sein. Angst ist zweitens eine Emotion, der für andere − etwa als Erbleichen, Zittern oder Schweißausbruch − sichtbare individuelle Ausdruck dieses Bedrohungsgefühls. Angst ist drittens ein kollektiver Affekt, eine überindividuelle Stimmung des Bedrohtseins, die Welt- und Selbstwahrnehmung in toto einfärbt. Angst als Affekt unterläuft die Differenz von Verstand und Gefühl, sie wirkt ansteckend und kann sich bis zur Massenpanik steigern. Viertens schließlich besitzt Angst auch eine kommunikative Dimension. Von Angst wird geredet, und sie verbreitet sich, indem von ihr geredet wird. Besonders in politischen Auseinandersetzungen fungiert sie als Argument, mit dem sich nahezu alles rechtfertigen lässt.
Angstkommunikation dramatisiert und erzeugt einen Sog. Sie signalisiert: Die Sache ist dringlich. Zeit kennt sie nur als stets viel zu knappe Frist. Die Angstuhr steht immer auf fünf vor zwölf. Wer Angst sagt, schaltet um in den Alarmmodus. Es muss etwas geschehen, und zwar sofort. Daraus folgt eine Dynamik der Überbietung, die in sich selbst keinen Haltepunkt findet: Immer ist da jemand, der sagt, es gehe nicht schnell genug, es werde nicht genug oder das Falsche getan, und überhaupt sei die Lage noch viel schlimmer, als die Verantwortlichen zugeben. Das Sprechen über Angst wirkt selbstverstärkend. Je mehr darüber geredet wird, desto größer wird sie. Bestimmen Angstthemen erst die Agenda, können die zu ergreifenden Maßnahmen gar nicht radikal genug sein. Wo die Angst regiert, herrscht die Logik des Ausnahmezustands: Demokratische Aushandlungsprozesse − dauern viel zu lang; humanitäre Erwägungen − ein Luxus für bessere Zeiten. Schon Fragen zu stellen heißt, dem Gegner in die Hände zu spielen. Stattdessen wird die Wirklichkeit radikal vereinfacht: Wir oder die Anderen, Freund oder Feind, Schwarz oder Weiß. Für Zwischentöne und Ambivalenzen bleibt kein Platz. Als subjektives Gefühl mag Angst quälend sein, als Brille, durch die man auf die Welt schaut, ist sie verlockend. Sie löst zwar keine Probleme, aber entlastet ungemein.
Die Berufung auf Angst hat einen weiteren strategischen Vorteil: Wer die Angstkarte ausspielt, unterläuft jede Kritik. Man kann sie nicht widerlegen, weil sie auf die Authentizität ihres Gefühls pocht. Auf jeden Einwand wird erwidert: »Aber ich habe doch meine Angst! Wer wollte sie mir bestreiten?« Der Affekt immunisiert gegen Fakten. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob etwas stimmt, als dass es affektiv anschlussfähig ist. Was dem Zirkel der Selbstverstärkung zuwiderläuft, wird geleugnet oder als Komplott der Lügenpresse denunziert. Wer auf überprüfbare Tatsachen pocht, gilt selbst als Teil der Bedrohung. Die Angstrhetorik erzeugt einen Erregungszustand, in dem noch die abstrusesten Geschichten Glauben finden. Statt um Sachhaltigkeit geht es um Einschwingen in den Sog. Daraus speisen sich antisemitische Verschwörungstheorien ebenso wie xenophobe Horrorgeschichten. Angstkommunikation beansprucht für sich zwar gute Gründe, entzieht sich aber dem Anspruch auf Begründbarkeit. Weil sie keine Gegenrede duldet und die Vernunft immer schon auf ihrer Seite weiß, lizenziert sie die Unvernunft.
Zugleich bringt die kommunizierte Angst, die Angst als Argument, erst das Gefühl, die Emotion, den Affekt hervor, auf die sie sich beruft. Angst ist etwas, in das man sich hineinreden, das man sich oder anderen einreden kann. Sie ist nicht zuletzt ein Effekt des Sprechens über Angst. Populistische Agitatoren wissen das zu nutzen, und die sozialen Netzwerke fungieren als mediale Affektverstärker. Damit der Erregungspegel nicht absinkt, darf der Strom der Facebook-Einträge, Online-Kommentare und Tweets nicht abreißen.
Dass Angst im Unterschied zur Furcht diffus ist, bedeutet nicht, dass sie kein Objekt hat, es bedeutet vielmehr, dass sie sich auf alles Mögliche richten kann ( Sorge). Sie sucht sich ihre Anlässe und erfindet sie notfalls. Gleichwohl sind sie nicht beliebig. Es gibt einen gesellschaftlichen Fundus an Situationen und Figuren, vor denen wir Angst haben dürfen oder sollen. Aus ihm bedienen wir uns intuitiv, und die populistischen Angstmacher wissen nur zu gut, welche Register sie ziehen müssen. Sie sind Resonanzvirtuosen, die geschickt jene Motive anspielen, die ihr Publikum hören will. Das Stichwortverzeichnis des AfD-Wahlprogramms liest sich wie das Ranking populärer Ängste der Deutschen, das die R+V-Versicherung jährlich erstellen lässt.
Affekte sind nicht nur beweglich im Hinblick auf ihre Objekte, sondern auch auf ihre Qualität. Selten ist ihre Färbung eindeutig, Mischungen unterschiedlicher Affektlagen sind die Regel. Angst, Wut und Hass gehen ineinander über, oder das eine kippt schlagartig ins andere um. Entscheidend ist ohnehin die Intensität der Erregung. Auch deshalb lässt sich Angstkommunikation so schwer fassen: Was lauthals beschworen wird, ist nicht unbedingt das, was tatsächlich getriggert und mobilisiert wird. Stimme, Mimik oder die verwendeten Sprachbilder verraten hier oft mehr als die expliziten Aussagen. Es bedarf keiner besonderen hermeneutischen Fähigkeiten, um festzustellen, dass bei denjenigen, die derzeit am lautesten von den Ängsten der Menschen und dem drohenden Untergang des deutschen Volkes schwadronieren, eher Aggression als Angst am Werk ist. Ihr Brüllen verrät sie. Angst ist das Argument, in das sie ihren Hass gegen Flüchtlinge und ihre Wut gegen die etablierte Politik kleiden. Sie wollen geradezu Angst haben, um sich aufregen zu können, wollen Angst machen, damit auch andere es tun. Als Sprechakt zeitigt der Satz »Ich habe Angst vor den Fremden« andere Effekte als die Aussage »Ich hasse sie«: Wer sich auf seine Angst beruft, beansprucht, ernst genommen zu werden; aber kein noch so besorgter Politiker käme auf die Idee zu fordern, man müsse den Hass der Menschen ernst nehmen und deshalb die Asylgesetze verschärfen. Wenn die Demagogen rhetorisch illegitime in legitime Affekte konvertieren, können sie sicher sein, dass ihr Publikum sie schon richtig versteht. Für das augenzwinkernde Einverständnis braucht es nicht mehr als einen gemeinsamen Sündenbock.
Die realen oder erdichteten Angstgeschichten, die man nicht müde wird in immer neuen Varianten zu erzählen, gewähren obendrein eine perfide Befriedigung. Insbesondere die Obsession, mit der Berichte über angebliche oder tatsächliche sexuelle Übergriffe ausgebreitet werden, zielt unmittelbar auf eine Mischung aus Faszination und Abscheu − und damit selbst auf einen sexualisierten Erregungszustand. Es ist ein ähnlicher Mechanismus wie bei den Nachrichten über Kriminalfälle in der Zeitung. Auch da erhalten Sexualdelikte die höchste Aufmerksamkeit. Zugleich darf man sich seinen eigenen Gewaltfantasien hingeben, weil man sie auf die Fremden projiziert. Hier greift unmittelbar das rassistische Klischee vom triebgesteuerten, patriarchalisch geprägten schwarzen Mann, der sich der weißen Frau bemächtigt ( Afrikaner, deutsche Frau). Wenn solche Geschichten politisiert werden, geht es immer auch um das Verhältnis von Sex und Macht, von Sex und Gewalt. Psychoanalytisch gesehen ist offenkundig: Was am meisten verdammt wird, wird auch heftig begehrt, und sei es nur, dass begehrt wird, darüber zu reden. Sich aufzuregen ist auch eine Art des Sich-Aufgeilens. Aus ähnlich trüben Quellen speisen sich die Debatten um ein Burka-Verbot: So leidenschaftlich, wie sie sich dafür ereifern, muss die Vorstellung, einer muslimischen Frau in der Öffentlichkeit qua Gesetz den Schleier herunterzureißen, auf viele deutsche (französische, österreichische …) Männer höchst erregend wirken. Auf die Idee, das als Beitrag zum Kampf gegen den Terror oder als Maßnahme zur Integration zu verkaufen, muss man jedenfalls erst mal kommen.
Solche symbolischen Scheingefechte kennzeichnen die aktuellen Politiken der Angst insgesamt: Die mühsame Suche nach Lösungen überlassen die populistischen Affektmanager den verachteten Gutmenschen, die dumm genug sind, noch daran zu glauben. Stattdessen bieten sie wohlfeile Gelegenheiten, sich zu einer Erregungsgemeinschaft zusammenzurotten, zivilisatorische Hemmungen hinter sich zu lassen und das Mütchen an Schwächeren zu kühlen. Es denen »da oben« mal richtig zu zeigen, verschafft zusätzliche Befriedigung. Die Panikreflexe von Horst Seehofer (CSU) bis Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) reichen, damit der kleine Mann sich ganz groß vorkommt. Was braucht es ein Programm, wenn man ein Feindbild hat? Die Angstrhetorik suggeriert eine Notwehrsituation: Weil die Gefahr so groß ist und die Regierenden versagen, so die Botschaft, müssen die Aufrechten die Sache selbst in die Hand nehmen. Um »Asylchaos«, »Terrorgefahr«, »Islamisierung des Abendlands« und »großen Austausch« abzuwehren, ist dann alles erlaubt − am Ende auch brennende Flüchtlingsunterkünfte.
Sollte man die Ängste, welche die völkischen Hetzer unentwegt im Munde führen, also besser ignorieren, um die Erregungsspirale nicht weiter anzutreiben? Das sicher nicht. Einiges wäre schon gewonnen, wenn man ihre Worte nicht für bare Münze nähme, sondern den Hass darin hörte, der sich als Angst unangreifbar zu machen versucht. Selbstverständlich gibt es auch Menschen, die sich ängstigen, ohne gleich nach Sündenböcken Ausschau zu halten. Umso wichtiger, ein Sensorium zu entwickeln für die Unterschiede und Übergänge zwischen Angst und Hass, zwischen Angst als Gefühl, Emotion, Affekt − und als rhetorische Allzweckwaffe. Fatal ist dagegen die Parole »Wir müssen die Ängste der Menschen ernst nehmen«, mit welcher Politiker der etablierten Parteien der völkischen Konkurrenz das Wasser abzugraben versuchen. Wem zum grassierenden Fremdenhass nichts anderes einfällt, als mantrahaft herunterzubeten, die Menschen hätten begründete Ängste und die Politik müsse darauf eingehen, sonst wählten sie halt die AfD oder demonstrierten mit Pegida, der bewirtschaftet Ressentiments und lässt sich von den rechten Bewegungen vor sich hertreiben. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Es gibt in unserer Gesellschaft ein erhebliches Potenzial an fremdenfeindlichen, islamophoben und antisemitischen Einstellungen. Alle empirischen Untersuchungen belegen, dass diese sich keineswegs auf rechtsextreme Gruppen beschränken, sondern längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind (wenn sie nicht immer schon dort zu Hause waren). Es sind viele, die es drängt, ihren Hass endlich auszuleben − zumindest verbal. Um das tun zu können, berufen sie sich auf ihre Angst. Anlässe finden sich dann. Es sind nicht alle rechts, die von Angst reden. Aber wer Angst sagt, hat auch nicht automatisch Recht. [ub]