Kitabı oku: «Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35», sayfa 4
»Da die Tauschwerte der Waren nur gesellschaftliche Funktionen dieser Dinge sind und gar nichts zu tun haben mit ihren natürlichen Qualitäten, so fragt es sich zunächst: Was ist die gemeinsame gesellschaftliche Substanz aller Waren? Es ist die Arbeit. Um eine Ware zu produzieren, muß eine bestimmte Menge Arbeit auf sie verwendet oder in ihr aufgearbeitet werden. Dabei sage ich nicht bloß Arbeit, sondern gesellschaftliche Arbeit. Wer einen Artikel für seinen eignen unmittelbaren Gebrauch produziert, um ihn selbst zu konsumieren, schafft zwar ein Produkt, aber keine Ware. Als selbstwirtschaftender Produzent hat er nichts mit der Gesellschaft zu tun. Aber um eine Ware zu produzieren, muß der von ihm produzierte Artikel nicht nur irgendein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen, sondern seine Arbeit selbst muß Bestandteil und Bruchteil der von der Gesellschaft verausgabten Gesamtarbeitssumme bilden. […] Wie aber mißt man Arbeitsquanta? Nach der Dauer der Arbeitszeit, indem man die Arbeit nach Stunde, Tag etc. mißt. Um dieses Maß anzuwenden, reduziert man natürlich alle Arbeitsarten auf durchschnittliche oder einfache Arbeit als ihre Einheit26«.
Das Quantum an Arbeit, welches zur Herstellung einer Ware aufgewendet werden muss, heißt gesellschaftliche oder abstrakte Arbeit. Es ist die gesellschaftliche Formbestimmung der Arbeit. Sowohl der kapitalistische ›Reichtum der Nationen‹, als auch der sozialistische, ›vergesellschaftete Reichtum‹ führen eine in erster Linie abstrahierte Existenz. Es gilt hier das gleiche wie für Engels’ Obst, welches gleichermaßen existiert und nicht existiert: dilemmatische Ontologie. Auch ›vergesellschaftete Arbeit‹, ausschließlich zur Produktion von Gebrauchsgütern bestimmt, ist abstrakte Arbeit, sofern sie gemein ist und vom Besonderen sich distanziert. Mag sie inhaltlich konvertiert, gar revolutioniert sein, ist sie doch nur im Begriffe wirklich, da sie vom Ganzen her und auf es hin gedacht wird.
Hier schließt sich der Kreis und führt uns zurück zur Moral. Um den ersehnten Zustand gelingender Planwirtschaft und kommunistischer Gesellschaft zu erreichen, kam es zu ›Problemen des Übergangs‹. Unerreichtes wurde als Nichtidentisches in Kauf genommen, der Einzelne dem Ganzen subordiniert. Das Totum versprach ihn bald zu erlösen, wofern er nur den Glauben an es, dessen Sinn ja er selbst sei, nicht verliere. Von Beginn an drohte der realexistierende Sozialismus zugrunde zu gehen, weil jene Abstraktionsleistung, die jedes Ideal für sich beansprucht, vom Subjekt der Arbeit nicht genügend erbracht wurde. Dessen gewahr, suchte man in den jungen Volksrepubliken das nötige Bewusstsein mit Hilfe von Erziehung wie Bildung der Massen herbeizuführen. Ungebrochen blieb der Glaube an ein »richtiges Leben im falschen« (Adorno), an die Kongruenz von privatem und gesellschaftlichem Interesse. Schaff:
»Das, was also in dieser Hinsicht postuliert wird, ist auf den ersten Blick bescheiden und einfach, wenn auch weittragend in den Folgen: aus der Psyche der Menschen die Folgen der Warenwirtschaft zu beseitigen, insbesondere die Folgen der kapitalistischen Warenwirtschaft. Anders gesagt: Die Sache beruht darauf, daß der Mensch in der Überzeugung handle, daß sein richtig verstandenes Interesse ihm immer gebietet, das Interesse anderer Menschen zu respektieren, also das gesellschaftliche Interesse, und daß die so geformte Mentalität entsprechende Gebote und Verbote des Verhaltens im Rahmen der Normen enthalte, die für einen anständigen Menschen im alltäglichen Sinne des Wortes bezeichnend sind«27.
Das Einwirken auf das Bewusstsein des neu zu kreierenden sozialistischen Menschen bedürfe Zeit, ja ›Ausdauer‹. Was immer am Ende dabei herauskommt, ist mit Glück nicht gleichzusetzen. Marxistische Ethik ist kein Pendant aristotelischer Tugendlehre, welche durch das bürgerliche Gelöbnis auf die am Nicht-Bürger sich schuldig macht.
»Die Marxisten versprechen nur die Beseitigung – aber nicht einmal eine dauernde Beseitigung – der Ursachen des Massenunglücks, das heißt sie versprechen, die gesellschaftlichen Möglichkeiten eines glücklichen Lebens für den Einzelmenschen zu schaffen. Nicht mehr versprechen sie, aber damit versprechen sie sehr viel.«28
Die Moral des Marxismus definiert sich in ihrem Kern als Selbstvergesellschaftung, nicht als Unterpfand von Glückseligkeit: Einsichten der Chruschtschow-Ära.
Sowenig wie mit stoischer Askese und Illusion, ist marxistische Ethik mit deontologischen Modellen zu verwechseln. Dies sei gesagt, weil gerade der Neukantianismus innerhalb der moralphilosophischen Theoriebildung der Sowjetunion eine nicht unerhebliche Rolle spielte (Berdjajew, Tugan-Baranowsky etc.). Statt durch Bewusstseinsbildung Willen zu erzeugen, wurde hilflos an die blinde Pflicht dem Ganzen gegenüber appelliert. Abgeschnitten vom inneren Gefühl ihrer Adressaten, brachte sie das Zwanghafte kantischer Ethik ungeschmälert zur Geltung. Es wundert nicht weiter, wenn in der Praxis man auf gutes Gelingen vergeblich wartete.
Eine Untersuchung des »Moralbewusstseins« in sowjetischen Betrieben um 1970 ergab, dass »Gleichgültigkeit« und »Trunksucht«, gefolgt von »Bummelei« und »Verletzung der Arbeitsdisziplin« als »typische Abweichungen von den Normen der kommunistischen Moral«29 betrachtet wurden. Die »Normabweichungen« in jener sowjetischen Brigade könnten auch einen westlichen Industriebetrieb beschäftigen. Allein die Absicht des ›moralischen Überbaus‹ unterscheidet sich: Erhöhung der kollektiven Produktivität hier und des Kapitalprofits dort. Dem Arbeiter ist es am Ende einerlei. Das Trinken ist ihm nicht zu verübeln. Tugendappelle werden ausgegeben, um Subalterne am Denken zu hindern. Dies gilt auch für die nötigenden Versuche kapitalistischer Wirtschaftsethik, welche durch Verhaltenscodices das Heer der Angestellten auf die anonyme Totalität des Systems verpflichten. Dem einmal zugestimmt, sieht das Individuum, lustlos und leer geworden, sich so absorbiert, dass für Änderungen am Ganzen es zu spät scheint.
Die stille Allianz von bürgerlicher Wirtschaftsethik und sowjetischer Arbeitsmoral zu beschreiben, gelang bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Herbert Marcuse:
»Arbeiten im Dienste des Sowjetstaats ist per se sittlich – die wahre Berufung des Sowjetmenschen. Die individuellen Wünsche werden diszipliniert; Versagung und harte Arbeit sind der Weg zum Heil. Die Theorie und Praxis, die zu einem neuen Leben in Freiheit führen sollten, werden in Instrumente verwandelt, die Menschen für eine produktivere, intensivere und rationellere Arbeitsweise zu trainieren. Was die kalvinistische Arbeitsmoral durch die Verstärkung irrationaler Angst vor den auf ewig verborgenen göttlichen Ratschlüssen erreichte, wird hier durch rationalere Mittel geleistet: ein befriedigenderes menschlicheres Dasein soll die Belohnung für die wachsende Arbeitsproduktivität sein. Und in beiden Fällen garantiert die weit nachhaltigere ökonomische und physische Gewalt ihre Wirksamkeit. Die Ähnlichkeit ist mehr als zufällig: die beiden Ethiken begegnen sich auf dem gemeinsamen Boden geschichtlicher ›Gleichzeitigkeit‹– sie reflektieren die Notwendigkeit, eine gut ausgebildete, disziplinierte Arbeitskraft zu schaffen, die es vermag, der ewigen Routine des Arbeitstages ethische Gesetzeskraft zu verleihen und auf immer rationellere Weise stets ansteigende Gütermengen zu erzeugen, wobei die vernünftige Anwendung dieser Güter für individuelle Bedürfnisse durch die ›Umstände‹ stets mehr hinausgezögert wird. In diesem Sinne bezeugt die sowjetische Ethik die Ähnlichkeit zwischen der Sowjetgesellschaft und der kapitalistischen Gesellschaft.«30
Gemein ist beiden Systemen weiter, dass sie, obgleich auf Produktion bezogen, ebenso alles Private sich einverleiben. So hat auch das menschliche Triebleben seine Autonomie verloren.
»Das [sowjetische] Lob der monogamen Familie und der Freude und Pflicht ehelicher Liebe erinnert an die klassische ›kleinbürgerliche Ideologie‹, während die Auflösung der Privatsphäre die Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts widerspiegelt. Der Kampf gegen Prostitution, Ehebruch und Scheidung beschwört dieselben sittlichen Normen wie im Westen, während die Erfordernisse der Geburtenziffer und des verstärkten Energieaufwands für wettbewerbliche Arbeit als Manifestationen des Eros gepriesen werden.«31
Die kapitalistische Wirtschaftsethik ist keine Erfindung unserer Tage. Da schon im 19. Jahrhundert mit ihr unglücklich experimentiert wurde, ist ihren aktuellen Repräsentanten (Sen, Ulrich, Wieland etc.) neben Klasseninteresse auch Regression vorzuwerfen. Es ist der idealistische Versuch, die Gesamtstruktur nicht zu gefährden, indem ›rechtzeitig‹ karitative Maßnahmen ergriffen werden. Engels erkannte dieses Phänomen als
»die alten Redensarten von der Harmonie der Interessen von Kapital und Arbeit. Wenn die Kapitalisten ihr wahres Interesse kennten, würden sie den Arbeitern gute Wohnungen liefern und sie überhaupt besserstellen; und wenn die Arbeiter ihr wahres Interesse verständen, würden sie nicht streiken, nicht Sozialdemokratie treiben, nicht politisieren, sondern hübsch ihren Vorgesetzten, den Kapitalisten folgen. Leider finden beide Teile ihre Interessen ganz woanders […]. Das Evangelium der Harmonie zwischen Kapital und Arbeit ist nun schon an die fünfzig Jahre gepredigt worden […]. Und wie wir später sehen werden, sind wir heute grade so weit wie vor fünfzig Jahren.«32
Theoretischen Vertretern ökonomischer Harmonie- und Kompromissgläubigkeit wie Proudhon, wirft Marx politischen Indifferentismus und Mutualismus vor. Es ist die Angst vor der Tatsache der Differenz, welche jene »Apostel« sich nicht eingestehen, und der Glaube, dass das »Gute« und die »ewigen Prinzipien« am Ende siegen werden, wenn das Proletariat nur mehr Geduld und Verständnis aufbrächte. »Wir müssen nichtsdestoweniger anerkennen, daß sie die 14 oder 16 Arbeitsstunden, die auf den Fabrikarbeitern lasten, mit einem Stoizismus ertragen, der der christlichen Märtyrer würdig ist.«33 Dieser Argumentation treu, wandte Lenin sich in Was tun? gegen die Methoden der russischen Sozialdemokraten, welchen er »Trade-Unionismus« vorhielt, da sie sich auf den Gang durch öffentliche Institutionen (Parlament, Gewerkschaften etc.) einließen, um auf ›legalem‹ Wege den begehrten Umsturz zu erwirken. Ausschließlich die Revolution könnte jedoch die Harmonie totaliter leisten, so der Verfasser.
Die Behandlung der Symptome im kapitalistischen Wirtschaftssystem dient der Ablenkung vom Wesentlichen. Die Ursachen bleiben unberührt, die Diagnose ungenannt. Es ist die Trägheit der Struktur als ganzer, als gegebener, welche die Kräfte des Subjekts bindet. Innerhalb dieses Schicksals eine Variation zu leben, mag sie größer oder kleiner ausfallen, bedeutet in Wahrheit, sich in es zu fügen, gar es zu bestätigen, »confirmer«, wie Sartre sagt:
»Tel ouvrier quitte une usine où les conditions de travail sont particulièrement mauvaises pour aller travailler dans une autre, où elles sont un peu meilleures. Il ne fait que définir les limites entre lesquelles son statut comporte quelques variations […] mais il confirme par là même son destin général d’exploité.«34
Die Pluralität der Moral des Kapitalismus entspricht der Trennung seiner gesellschaftlichen ›Sphären‹ und deren Interessen: Wirtschaft, Staat, Religion etc. Ein je eigener Ethos bildet dort sich heraus. ›Bereichsspezifische‹, ›angewandte‹ Ethik findet als Alibi Verwendung, um ungeniert in dem fortzufahren, was zur Scham Anlass bietet. Diese Polytomie des Ethischen will der Marxismus mittels der Verbrüderung von Individuum und Gesellschaft sowie der Aufhebung der Klassen beseitigt wissen. Die moralische Konkordanz kann ihm nur durch die Veränderung des Ganzen gelingen. Konkrete Probleme treten in der sozialistischen Gesellschaft dann auf, wenn Reste aus überkommenen feudalen oder bürgerlichen Moralsystemen mit der neuen, marxistischen Ethik kollidieren. Gemeint seien religiöse und rassistische Vorurteile sowie allgemein die Diskriminierung von Minderheiten. Unter diesen, durch lokale Traditionen erschwerten Umständen die ›Schöpfung des neuen Menschen‹ zu inszenieren, können wir uns mit Recht als besondere Schwierigkeit denken. Die sowjetische Sozialphilosophie ließ sich nicht davon abbringen, für solcherlei Konflikte, mochten sie noch so spezifisch sein, praktische Lösungen zu finden. So entstanden in der UdSSR paradigmatisch
»viele moralische Konflikte in den Städten auf Grund der Enge in Gemeinschaftswohnungen. Der intensive Wohnungsbau beseitigt viele Standardkollisionen moralischer Art aus dem Leben der Städte. Die wesentlichen Unterschiede [der] Lebensbedingungen in der Stadt und auf dem Land führen immer noch dazu, daß der energischste Teil der Jugend aus den Dörfern fort in die Städte geht.«35
Mit der Aufhebung der kulturellen Differenz zwischen Stadt und Land würden, so die optimistische Vorstellung, auch jene ›Kollisionen‹ rasch beseitigt. Übersetzt: Handgreiflichkeiten unter rivalisierenden Jugendgruppen russischer Metropolen wollen sich nicht zum Bild des ›guten Sowjetmenschen‹ fügen. Dass urbane Aggression, welche an rustikaler Minorität sich entlädt, nicht nur strukturell, sondern auch psychologisch zu verorten ist,36 bleibt ein Defizit der Moralforschung überhaupt. Unnötigerweise – Sartre beklagt dies ausführlich in Questions de méthode – mied der sowjetische Marxismus die Erkenntnisse der Psychoanalyse Freuds.
Den hier dargestellten Versuch einer Vereinigung der Moral auf das Ziel der Veränderung des Ganzen hin, zum Wohle aller partizipierenden Individuen, bezeichnet Marcuse als »Politisierung der Ethik«. Zugleich macht er darauf aufmerksam, dass die »Politisierung der Ethik« sowohl am Anfang wie am Ende der abendländischen Philosophie stünde. Was ist gemeint? Von Platon bis Hegel existiere eine Tradition, nach welcher die Individual-Ethik sich jener der res publica unterwerfe. Wenn nämlich die »Idee des Guten« zu ihrer Verwirklichung oder zur Annäherung an diese der Polis bedürfe, dann sei das Gute nur im bios politikos erreichbar, und die Polis verkörpere die »absoluten sittlichen Maßstäbe«, so Marcuse:
»Ethische Wahrheit ist somit politische Wahrheit, und politische Wahrheit ist absolute Wahrheit. Wesentlich dieselbe Auffassung lebt in der Marxschen Theorie weiter, insbesondere in der Behandlung der Ideologie. Wir haben bemerkt, daß sowjetische Darlegungen über die geistige Kultur bis in ihre Formulierungen hinein an Platons Staat und die Gesetze erinnern«37.
Die Macht, welche das ›Verschwinden‹ der unabhängigen Moralphilosophie und die Auflösung der privaten sittlichen Werte bewirke, sei die Geschichte. Der Fortschritt der westlichen Zivilisation selbst habe die Überführung der inneren Werte in äußere Verhältnisse, der subjektiven Ideen in objektive Realität und der Ethik in Politik auf die Tagesordnung gesetzt. Wenn Hegel die Vernunft als Geschichte interpretierte, habe er in einer idealistischen Formulierung den Marx’schen Übergang von der Theorie zur Praxis vorweggenommen. Der historische Prozess habe die materiellen wie geistigen Vorbedingungen für die Verwirklichung der Vernunft (Hegel) in der Organisation der Gesellschaft (Marx) geschaffen, für das Konvergieren von Freiheit und Notwendigkeit.
Es gilt also die Freiheit des Einzelnen als Notwendigkeit des Ganzen sowie die Notwendigkeit des Einzelnen als Freiheit des Ganzen zu erhalten und stets neu ins Werden zu setzen. In der Konsistenz demokratisch institutionalisierter Diskurse hat die dialektische Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft fruchtbar ausgetragen zu werden. So allein wird es möglich, die Teile und das Totum, aus der Sklerose ihrer Beziehung, vom Nihil zum Novum, von bloßer Differenz zu wahrer Identität zu führen.
Resümee
Gerade die Zergliederung des Ethos unter Beibehaltung der Entfremdungsbedingungen gereicht der Profitwirtschaft zum Vorteil. Aus diesem Grunde erkennt sie es als ihre tückische Pflicht, einer Änderung des Ganzen entgegenzuwirken. Erst die Vereinigung moralischer Prinzipien auf die Emanzipation des entfremdeten Subjekts und seiner Selbstvergesellschaftung hin könnte neue Möglichkeiten einer in toto stimmigen Ethik eröffnen. Grundlage und Leitidee vermag ihr jener (allein gültige) »kategorische Imperativ« zu sein, den Marx selbst formuliert: »[…] alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«38
Die nicht abgegoltene Wirkmacht marxistischer Moral besteht in ihrer anspruchsvollen, aus der geschichtlichen Materie und materiellen Geschichte deduzierten Reflexion. Sie ist als »Umschlagsmoment« mit Potenz zur »konkreten Utopie« (Bloch) zu begreifen und für einen verbesserten Fortgang gesellschaftlicher Praxis zu nutzen. Nicht nur demaskiert sie die Tartüfferien des Kapitals, sondern auch die seiner ›moralischen‹ Regulierungsversuche. Unbeschadet ihrer guten Absichten, permaniert als Fauxpas ihre Angst vor psychoanalytischer Vertiefung. Allein die Furcht vor einem Zuviel an subjektiven (Trieb-)Kräften und emanzipiertem Ich bietet als Deutung sich an. Marx’ Aktualität wie Rezeption entscheidet die Frage, ob Individuum und Gesellschaft sich bestimmen lassen oder sich selbst wollen.
José M. Romero
Ontologie und Geschichtlichkeit beim jungen Marcuse *
I. Mit Heidegger gegen Heidegger?
Nachdem Heideggers Sein und Zeit 1927 einen nachhaltigen Eindruck bei Herbert Marcuse hinterlassen hatte, entschied sich der Berliner Denker für einen Aufenthalt in Freiburg, um sich bei Heidegger zu habilitieren.1 Aber schon im Jahr 1928, vor seiner Zeit in Freiburg, veröffentlichte er den stark von Sein und Zeit beeinflussten philosophischen Aufsatz Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus. In diesem Text lässt sich eine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Ontologie der Geschichtlichkeit ausmachen, die für uns noch wichtig werden wird. Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung ist Marcuses Anerkennung der zentralen Bedeutung der in Sein und Zeit dargestellten Phänomenologie des Daseins. Das Buch scheint Marcuse deshalb »einen Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie zu bezeichnen […], einen Punkt, wo die bürgerliche Philosophie sich von innen her selbst auflöst und den Weg frei macht zu einer neuen ›konkreten‹ Wissenschaft.«2
In dieser Bewertung spielt die Einsicht eine große Rolle, dass »die Analysen Heideggers […] das Phänomen der Geschichtlichkeit am ursprünglichsten aufgedeckt haben.«3 Das Besondere an Heideggers Buch ist die Auffassung der Geschichtlichkeit des Daseins als ontologisches: »Die Frage nach der Geschichtlichkeit ist eine ontologische Frage nach der Seinsverfassung des geschichtlich Seienden«.4 Die Geschichtlichkeit verweist dabei nicht etwa auf die Tatsache, dass jedes Individuum in einer konkreten geschichtlichen Situation lebt und durch die Umstände dieser Situation bestimmt ist. Die Geschichtlichkeit ist bei Heidegger vielmehr die ontologische Bedingungsmöglichkeit der Geschichte und ihrer Erkenntnis:
»Der Satz: das Dasein ist geschichtlich, bewährt sich als existenzial-ontologische Fundamentalaussage. Sie ist weit entfernt von einer bloß ontischen Feststellung der Tatsache, daß das Dasein in einer ›Weltgeschichte‹ vorkommt. Die Geschichtlichkeit des Daseins aber ist der Grund eines möglichen historischen Verstehens, das seinerseits wiederum die Möglichkeit zu einer eigens ergriffenen Ausbildung der Historie als Wissenschaft bei sich trägt.«5
Die so verstandene Geschichtlichkeit sei nun die ontologische Grundlage des Daseins überhaupt als die Seinsweise seines Geschehens:
»Die Bestimmung der Geschichtlichkeit liegt vor dem, was man Geschichte (weltgeschichtliches Geschehen) nennt. Geschichtlichkeit meint die Seinsverfassung des ›Geschehens‹ des Daseins als solchen, auf dessen Grunde allererst so etwas möglich ist wie ›Weltgeschichte‹ und geschichtlich zur Weltgeschichte gehören.«6
Das »eigentliche Sein zum Tode«, die »vorlaufende Entschlossenheit«, das »Wiederholen des Erbes« von durch die Tradition überlieferten Möglichkeiten, das »Schicksal« und das »Geschick« bestimmen demnach die »eigentliche Geschichtlichkeit« und umschreiben die Grundbestimmungen der Geschichtlichkeit des Daseins überhaupt.7
Heideggers Analysen ebnen nun zwar einerseits den Weg für einen konkreten Zugang zum Dasein, sie sind andererseits aber dennoch für Marcuse nicht konkret genug. Das hat für ihn erstens seinen Grund darin, dass solche Analysen das Dasein als Dasein überhaupt betrachteten, und das bedeutet die Abstrahierung des Daseins von seiner konkreten historisch-sozialen Welt. Das Dasein überhaupt sei eine Abstraktion und die Herausstellung seiner Geschichtlichkeit verweile auf eben derselben Ebene der Abstraktion. Zweitens ergreife Heideggers Phänomenologie der Geschichtlichkeit das Dasein nach dem Muster des Individuums.8 Diese Analyse der Geschichtlichkeit in Bezug auf das Individuum zeigt Marcuse zufolge Heideggers Mangel an Konkretion, denn er verliert sowohl kollektive Grundphänomene und -strukturen aus dem Blick als auch die materielle Konstitution der Geschichtlichkeit. Marcuse spricht Heideggers Begriffen der Umwelt und Mitwelt ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit ab, d. h. den Anspruch für alles Dasein dasselbe zu sein: Diese Allgemeingültigkeit habe
»ihre Grenzen zunächst in der geschichtlichen Lage. […] Wo liegen nun aber die Grenzen der jeweiligen geschichtlichen Lage selbst? Und ist die Welt auch für alles in einer konkreten geschichtlichen Lage gegenwärtige Dasein ›dieselbe‹? Offenbar nicht. Nicht nur die Bedeutungswelt der einzelnen gleichzeitigen Kulturkreise ist verschieden, auch innerhalb eines solchen Kreises klaffen noch Abgründe des Sinnes zwischen den Welten. Gerade in dem existenzial wesentlichen Verhalten gibt es z. B. kein Verstehen zwischen der Welt des modernen Bürgers des Hochkapitalismus und der des Kleinbauern oder Proletariers. – Hier stößt die Untersuchung notwendig auf die Fragen der materialen Konstitution der Geschichtlichkeit, einen Durchbruch, den Heidegger nirgends vollzieht oder auch nur andeutet.«9
Gerichtet gegen Heideggers pseudo-konkreten Begriff von Geschichtlichkeit spricht sich Marcuse dann für eine konkrete Philosophie aus. Ihre Aufgabe sei es, eine Auffassung von Geschichtlichkeit zu gewinnen, die sich ihre kollektive Bedeutung und ihren materiellen Bestand aktiv aneigne:
»Die konkrete Philosophie kann also an die Existenz nur herankommen, wenn sie das Dasein in der Sphäre aufsucht, aus der heraus es existiert: im Handeln in seiner Welt gemäß seiner geschichtlichen Situation. Im Geschichtlichwerden kommt die konkrete Philosophie, indem sie das wirkliche Schicksal des Daseins auf sich nimmt, zum Öffentlichwerden. […] Daß die Philosophie mit einem konkreten Dasein in der Gleichzeitigkeit steht, heißt, daß die Philosophie sich um die ganz konkreten Kämpfe und Nöte dieses Daseins zu kümmern hat, daß sie ›dieselbe‹ Sorge um sein so und nicht anders existierendes Leben zu tragen hat.«10
II. Begriffe und Geschichtlichkeit
Diese Kritik an Heidegger und das Plädoyer für eine andere historisierte Philosophie impliziert beim jungen Marcuse allerdings nicht den Verzicht auf eine Ontologie der Geschichtlichkeit.11 Das wird in mehreren Stellen seines Frühwerks aus den Jahren 1928-1933 deutlich.12 Für unser Thema ist Marcuses Auseinandersetzung mit Hans Freyers Buch Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft im Jahr 1931 besonders interessant. Hier können wir eine Kritik an Freyers Theorie der Begriffe finden, die meiner Meinung nach auch Reinhart Kosellecks Auffassung der Kategorien der Historik als transzendentale Theorie der Geschichte betrifft.13 Nach Marcuse ist Freyers Absicht »die ›philosophische Grundlegung‹ eines ›Systems der Soziologie‹«14, aber statt eine phänomenologische (das heißt für Marcuse in dieser Zeit: eigentlich philosophische) Analyse der Gegebenheit ihres Gegenstandes zu unternehmen, bleibe Freyer entgegen seiner ausdrücklichen Absichten auf einer erkenntnistheoretischen Ebene. Da es sich bei Freyers Entwurf um ein konkretes System der Soziologie handele, spreche er sich selbst aus »gegen alle abstrakte, formale Soziologie, die die Geschichtlichkeit der sozialen Gebilde und Strukturen verkennt«15. Freyer finde etwa die Versuche, ein System von Begriffen durch eine trans-zendentale Reflexion auszuarbeiten, unfruchtbar, weil ihre Ergebnisse vollkommen abstrakt und formal wären. Deswegen bleibe für Freyer nur ein einziger Weg offen: die Bildung der Begriffe für sein System der Soziologie aus der gewesenen Geschichte heraus. Er bilde seine Begriffe durch das Aufgreifen der »typischen Grundstrukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Geschichte«.16 So mache sich Freyers philosophische Grundlegung der Soziologie »an den bisher vorhandenen geschichtlichen sozialen Gebilden als ›typischen‹«17 fest. Freyer entnimmt nach Marcuse also seine Begriffe durch eine Art von Verallgemeinerung der geschehenen Geschichte. Das habe Auswirkungen auf sein System der Soziologie, wie wir später weiter im Lichte von Marcuses Kritik sehen werden.
Zuvor betrachten wir jedoch die Auffassung der von Marcuse bei Freyer kritisierten Begriffe im Kontext von Reinhart Kosellecks Historik. Hier gibt es meiner Meinung nach Ähnlichkeiten mit Freyers Position. Gewiss wollte Koselleck – anders als Freyer – mit seiner Historik eine transzendentale Theorie der Geschichte entwickeln: eine Theorie der »transzendentalen Bedingungen möglicher Geschichten«18. Er beanspruchte Heideggers ontologische Analyse des Daseins auf der Ebene der wirklichen Geschichte zu verbreiten. Eine zentrale Aufgabe der Historik ist die Bildung der transzendentalen Begriffe, die die Bedingungsmöglichkeiten aller möglichen Geschichte ausmachen sollen. Solche Begriffe sollen die Grenze des Erkennbaren und Machbaren in der Geschichte ziehen. Eigentlich wäre es Aufgabe einer transzendentalen Reflexion, diese Begriffe herzustellen. Aber wenn wir die von Koselleck vorgeschlagene Reihe von Begriffen genauer betrachten, stellen sich Zweifel gegenüber ihrem Entstehungsprozess und ihrem Status ein. Nach Koselleck bestehen diese aus folgenden Kategorienpaaren: »Sterbenmüssen-Tötenkönnen«, »Freund-Feind«, »Innen-Außen«, »Herr-Knecht« und der Kategorie der »Generativität«, die die »zwangsläufige Abfolge von Generationen« bedinge.19 Meiner Meinung nach kann eine solche Begriffsreihe – und das gilt vor allem für die Begriffspaare »Herr-Knecht« und »Freund-Feind« – nicht als eine transzendentale Bedingung möglicher Geschichte wirken. Denn wenn es auch der Fall wäre, dass in der geschehenen Geschichte die Wirklichkeiten, auf die diese Begriffe verweisen, allgegenwärtig wären, dann hätten wir doch keinesfalls die Möglichkeit, dasselbe über die noch vor uns liegende Geschichte zu sagen. Diese Begriffe können daher nicht als formal-transzendental angesehen werden, sie sind vielmehr imprägniert von Faktizität: der Faktizität der gewesenen Geschichte. Im eigentlichen Sinne sind damit also auch Kosellecks Begriffe der Historik nicht transzendental; auch sie sind aus einer Art Verallgemeinerung bestimmter geschichtlicher Phänomen gebildet. So projizieren sie das Gewesene auf das Zukünftige als seinen nur vermeintlichen Möglichkeitshorizont, während sie die wirklichen Möglichkeiten dadurch verstellen.
Kehren wir zurück zu Marcuses Kritik an Freyers Auffassung der Begriffe; wir finden dort auch die Gründe für eine weitere Kritik der koselleckschen Historik. Denn nach Marcuse liegt das Problem von Freyers Vorstellung der Begriffe gerade in der These, dass sich die Bildung der Begriffe aus dem Stoff der bisherigen Geschichte vollziehe. Das hat für Marcuse die Unfähigkeit, mit solchen Begriffe das Neue zu ergreifen, zur Folge. Solange diese Begriffe auf der Basis des Gewesenen gebildet werden, müsse Freyers System der Soziologie gewärtig sein, dass irgendwann ein neues geschichtliches Gebilde entstehe, das durch keine der bisherigen Begriffe verstanden werden könne und »also den immanent-sachlichen Zusammenhang des Systems zerreißt, das System aufhebt.«20 Meiner Ansicht nach kann diese Kritik nun auch wieder Kosellecks Theorie der Historik treffen. Denn ihre aus der Faktizität der geschehenen Geschichte gebildeten Begriffe grenzen auf eine ebenso beschränkende Weise – als vermeintliche Möglichkeitsbedingungen aller möglichen Geschichten – die Erfahrung und die Vorstellung der noch vor uns liegenden Geschichte auf unzulässige Weise ein. Damit werden letzten Endes auch die geschichtlichen Möglichkeiten reduziert, so dass die Vorstellung und das Schaffen von etwas geschichtlich Neuem verunmöglicht werden. Das problematische Fazit auch aus Kosellecks Historik wäre eine Beschränkung unserer Erfahrung möglicher Geschichten nach dem Muster des Gewesenen, d. h. eine Verengung unseres Erwartungshorizontes. Eine solche Fassung der transzendentalen Kategorien der Geschichte macht es schwer, unsere Rolle als erkennende und vor allem als geschichtlich handelnde Menschen zu verstehen.
III. Eine ontologische Phänomenologie des geschichtlichen Lebens?
Worin besteht nun der theoretische Vorschlag von Marcuse gegenüber einer so defizitären Auffassung der Begriffe und der Geschichte bei Freyer – und meines Erachtens auch bei Koselleck? Nach Marcuse scheitert Freyers Anspruch, ein System der Soziologie herauszuarbeiten, aufgrund eines Mangels an philosophischer Reflexion über die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit als ihr Gegenstandsgebiet. Das wäre letztlich die Ursache dieser problematischen Begriffskonstruktion. Marcuse spricht sich für eine erweiterte philosophische Reflexion aus, in welcher er vielmehr die Aufgabe der Philosophie erblickt. In seiner Kritik an der Soziologie als nur scheinbar neutraler und reiner Wissenschaft macht sich Marcuse für die Rolle der Philosophie stark, die das Fundament der Soziologie zu sichern habe: