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Schwache Basis für den Völkerbund

Aussenpolitisch erlebte die Schweiz ebenfalls eine Phase des Aufbruchs. Die von der Völkerbundsidee ausgehenden Hoffnungen auf eine neue Zeit hatten weite Kreise erfasst. Der Bundesrat strebte nach einer Beteiligung an dieser Friedensordnung und handelte Sonderbedingungen aus, wonach sich der neutrale Staat nur an wirtschaftlichen, nicht aber an militärischen Sanktionen zu beteiligen hatte. Noch vor der Volksabstimmung allerdings wurden hohe Erwartungen enttäuscht, indem die Mitgliedschaft der USA im Senat nicht die nötige Mehrheit fand. In der Schweiz stiess der Beitritt auf eine gegensätzliche Opposition: Auf der Linken weckte der Völkerbund Argwohn, weil Sowjetrussland fernbleiben musste, in deutschfreundlichen Kreisen analog, weil das besiegte Reich ausgeschlossen war. Die bürgerlichen Parteien sagten Ja, auch die Zürcher Bauern, da es (bezogen auf die Schweiz und die Friedensordnung) unwürdig wäre, «wenn wir dort ernten wollten, wo wir nicht gesät haben».28 Nach einem heftigen Abstimmungskampf29 ergaben sich ein deutliches Volks- und ein knappes Ständemehr. In Kanton und Stadt Zürich überwog die Ablehnung.

Nach ihrer Abstimmungsniederlage blieben germanophile Kräfte aktiv.30 Ihr publizistisches Instrument waren die Schweizerischen Monatshefte (1921), als politische Organisation wurde im gleichen Jahr der Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz gegründet, und dem kulturellen Anliegen widmete sich der (ältere) Deutschschweizerische Sprachverein, der sich nicht nur um die Dialekte kümmerte, sondern durch den Versailler Vertrag das ganze Deutschtum in seiner Existenz bedroht sah. Zu den oft mehrfach Beteiligten gehörten der Obergerichtspräsident Theodor Bertheau, der spätere Frontist Hans Oehler, Oberst Fritz Rieter, der frühere Generalstabschef Theophil Sprecher und Pfarrer Eduard Blocher. Offenbar aus solchen reichsfreundlichen Kreisen um Blocher und den «Kriegstheologen» Adolf Bolliger wurde gegen den westlich orientierten Historiker und Redaktor der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) Eduard Fueter eine Diffamierungskampagne geführt, die 1921/22 den Abbruch von dessen vielversprechender Laufbahn erzwang.31 Ulrich Wille, Sohn des Generals, pflegte Beziehungen zu deutschnationalen und zu nationalsozialistischen Politikern; in seinem Haus hielt Adolf Hitler im August 1923 eine Rede, um finanzielle Gönner zu gewinnen.32

Von der Austerität zum Aufschwung der Stadt

Viele soziale und auch weltanschauliche Gegensätze, die sich damals in der Schweiz und im Kanton manifestierten, hatten ihren Brennpunkt in der Stadt Zürich. Zugleich bildete diese als Zentrum der – immer wieder kontroversen – Modernisierung einen Gegenpol zum Land.

Durch den Zusammenschluss mit elf Nachbargemeinden war Zürich 1893 von 28 000 auf 120 000 Einwohner gewachsen. 1912 erreichte die Zahl vor allem durch weiteren Zuzug in die neuen Stadtquartiere 200 000 Personen; und nach einem Auf und Ab nahm sie von 1922 bis 1930 nochmals um einen Viertel zu.33 1920 lebten in Zürich 38,5 Prozent der Kantonsbevölkerung; die Hauptstadt und Winterthur hatten damals also demografisch ein grösseres relatives Gewicht als nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Agglomerationen expandierten. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht verstärkte sich die Konzentration, indem die in verschiedenen Regionen angesiedelte Textilindustrie längerfristig im Niedergang war, während die zukunftsträchtigeren Zweige wie die Maschinenindustrie eher an städtischen Standorten waren – ganz zu schweigen von den grossen Banken und Versicherungen, die sich im Aufstieg befanden.

Demografischer und sozialer Wandel

Der Anteil von Industrie und Gewerbe an der Beschäftigung34 lag 1920 in Zürich mit 44 Prozent im schweizerischen Durchschnitt; allerdings standen mehrere Fabriken im damaligen Vorort Oerlikon. Typisch war demgegenüber die starke Stellung des Handels und der übrigen Dienstleistungen, womit auch der wachsende Anteil der Angestellten zusammenhing. In den Banken arbeiteten wenige tausend Personen. Im Lauf des Jahrzehnts entwickelte sich indessen das internationale Geschäft neu, darunter die Platzierung von Anleihen wie auch die Vermögensverwaltung. Nicht zu vergessen ist die Versicherungsbranche, die sich weitgehend auf Zürich konzentrierte.

Die Stadt war ein Anziehungspunkt, die Bewegung ging aber in beide Richtungen. Zu- und Wegzüge machten mindestens in einzelnen Jahren je rund ein Fünftel der Bevölkerung aus.35 Im ganzen Kanton lebten 1920 nur noch dreissig Prozent der Einwohner in ihrer Heimatgemeinde.36 Besonders über das Lehrerseminar und die Universität gelangten Nichtstadtzürcher auch in höhere Positionen, wie nicht zuletzt die Zusammensetzung des Stadtrats illustriert.37 Geringer als die geografische war die soziale Mobilität; die Gesellschaft war fragmentiert. Die Angestellten brachten allerdings eine gewisse Dynamik ins Gefüge.38 Der demografische Wandel war in der Stadt rascher als auf dem Land. Im deutlichen Sinken der Geburtenrate sah der damals in den Stadtrat gewählte Arzt Hermann Häberlin 1920 eine Gefahr für die «Rassenhygiene».39 Als Faktoren nannte er die Verhütung, ein höheres Heiratsalter und die häufigere Ehelosigkeit von Frauen; als Gegenmittel postulierte er mehr «wirtschaftlichen Schutz der Familie in jeder Beziehung». In Veränderung waren letztlich Werthaltungen, indem etwa der Konsum mehr Gewicht erhielt (Häberlin sprach von «Ansprüchen eines übertriebenen Lebensgenusses»). Demgegenüber propagierte wenig später das sozialistisch engagierte Ärztepaar Fritz und Paulette Brupbacher-Raygrodski die Sexualaufklärung und die bedingte Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.

Die Berufsarbeit von Frauen war von gegenläufigen Tendenzen beeinflusst: vom Rückgang der Beschäftigung in der Textilindustrie und vom Wachstum des Dienstleistungssektors, vom Ideal der häuslichen Mutter und vom Streben nach Selbstständigkeit. 1920 waren nur 19 Prozent der verheirateten, verwitweten und geschiedenen Frauen erwerbstätig, nach einer anderen Quelle machten weibliche Beschäftigte fast vierzig Prozent aus.40 Von beruflicher Aufwertung zeugen etwa die 1920 gegründete Soziale Frauenschule (für freiwillige und besoldete «Hilfskräfte»), die Schaffung der Schweizerischen Zentralstelle für Frauenberufe (1923) und der Wohnkomplex «Lettenhof» für erwerbstätige, alleinstehende Frauen.41 1920 wurden die ersten zwei reformierten Theologinnen ordiniert. Doch der Beschluss der Synode, Frauen zum vollen Pfarramt zuzulassen, wurde von der Regierung nicht genehmigt; denn er falle nicht in den Autonomiebereich der Kirche, sei vielmehr vom Gesetzgeber zu treffen. Das Bundesgericht schützte den Regierungsentscheid.42

Erstes öffentliches Konzert des Kammerorchesters Zürich zusammen mit dem Kinderstreichorchester Zürich, am 24. März 1920 im Kaufleuten.

Das 1917 von Alexander Schaichet gegründete Kinderstreichorchester Zürich.

Mitglieder des Kammerorchesters Zürich, 1922, von links nach rechts: vorne (am Boden) Jacob Fegel, Israel Felizian, Ruth Bircher, Else Stüssi, Hela Jamm. Sitzend: Lucie Bernhard, Mascha v. Monakow, Martha Fortner, Alexander Schaichet, Oskar Mertens, Martha (May) Füchslin. Stehend: Fritz Stüssi, Regina Schein, Fredy Hotz, Gertrud Goos, Anton v. Schulthess, Bettina Zweifel (später Geigerin und Ehefrau von Meinrad Inglin), Walter Mertens, Edith Vogt, Joachim Ernst, Hans Dreifuss, Ernst Züblin, Willy Bircher, Hans Ebner, Marga Donati, Hans Pruppacher, Annie van der Meulen.

Etablierte Sozialdemokraten

Politisch unterschied sich die Lage in der Stadt von der gesamtkantonalen erheblich. Die Bauernpartei war konsequenterweise nicht präsent, es fehlte auch eine andere betont konservative Gruppierung. Schon 1910 waren vier von neun Mitgliedern des Stadtrats Sozialdemokraten, drei waren Freisinnige und zwei Vertreter der Demokratischen Partei. Diese stellte von 1917 bis 1928 auch den Stadtpräsidenten, Hans Nägeli. Der ausgebildete Theologe war ein erfahrener Mann der Verwaltung und seit 1907 Stadtrat; als guter Repräsentant und Interessenvertreter der Stadt gelobt, scheint er sich politisch sonst nicht besonders profiliert zu haben.43 In der Zusammensetzung der Exekutive nach Parteien kam es in dieser Zeit nur zu kleineren Veränderungen.

Seitens der Sozialdemokraten kamen trotz aller kämpferischen Rhetorik vor allem solche Personen zum Zug, die bereit waren, die begrenzten kommunalen Handlungsmöglichkeiten für unmittelbare Verbesserungen zugunsten der breiten Bevölkerungsschichten zu nutzen und sich auch für andere städtische Aufgaben zu engagieren. Die SP-Mitglieder des Stadtrats in der Zwischenkriegszeit waren vor ihrer Wahl alle im öffentlichen Dienst tätig gewesen (als Beamte, Lehrer, Richter usw.).44 Es gab zwar programmatische Überlegungen, die «Kommune zu einer der Urzelle der sozialistischen Gesellschaft zu machen»;45 der «Gemeindesozialismus» konnte aber den «kapitalistischen» Rahmen nicht sprengen und war eher eine Art Versorgungsetatismus. Dem vormaligen Pfarrer Paul Pflüger (Stadtrat von 1910 bis 1923) schwebte eine «alma mater» vor, die für alle und speziell auch für die Bedürftigen sorgt.46 Im Vordergrund standen indes Infrastrukturen, Wohnungen und Sozialversicherungen.

Prägend war als gestaltungswillige und integrationsfähige Person Emil Klöti, Lehrersohn aus Töss (Winterthur), Jurist, nach einigen Jahren in der kantonalen Verwaltung 1907 im Alter von dreissig Jahren in den Stadtrat gewählt, lange Zeit Bauvorstand, von 1928 bis 1942 Stadtpräsident, zudem 36 Jahre im eidgenössischen Parlament.47 Ein Sonderfall war Alfred Traber, Vertreter des linken Flügels. Gegen seinen Willen Polizeivorstand geworden, sah er sich dem Vorwurf der Passivität ausgesetzt, als im Juni 1919 Demonstranten das Bezirksgefängnis zu stürmen versuchten, wobei mehrere Personen ihr Leben verloren. Wegen Amtspflichtverletzung wurde er zu sechs Tagen Haft unbedingt verurteilt. Laut seiner Lebenserinnerungen48 kam es im Kollegium immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Bürgerlichen; er selbst vertrat seine Minderheitsposition allenfalls auch im Parlament und bekannte sich durchaus zu «mangelnder Amtsbruderschaft». 1921 zur KP übergetreten, wurde er 1922 nicht mehr gewählt.

Auch die bürgerlichen Mandatsträger entsprachen nicht durchwegs dem polaren Schema. Der Freisinnige Gustav Kruck zum Beispiel trug die kommunalwirtschaftliche Politik aktiv mit.49 Eine interessante Figur war im Weiteren sein Parteikollege Hermann Häberlin, der 1920, im vierten Anlauf von seiner Partei nominiert, in den Stadtrat gelangte.50 Wegen seiner «thurgauischen» Sparsamkeit wurde er gelobt und gehasst. Er verfocht in einer Haushaltskrise die Privatisierung städtischer Betriebe, war allerdings in gewisser Hinsicht – als Arzt mit Berufserfahrung in den USA – ein sozialer Modernisierer (so fragwürdig heute seine schon erwähnten Theorien zum Geburtenrückgang sind). Häberlin war auch Mitglied des Internationalen Friedensbüros und engagierte sich stark für den Beitritt zum Völkerbund. Im gleichen Jahr wurde übrigens Ulrich Ribi in den Stadtrat gewählt, der letzte Grütlianer und später der erste Vertreter der EVP.

Drastische Haushaltssanierung

Die ersten Jahre nach Kriegsende waren recht bewegt. Auf den regionalen Streik im August 1919 reagierte der Stadtrat dem Personal gegenüber mit Massregelungen und Entlassungen.51 Arbeitsniederlegungen waren weiterhin nichts Aussergewöhnliches, blieben jedoch, wie etwa der dreimonatige Ausstand im Baugewerbe 1920, auf materielle Fragen und einzelne Branchen beschränkt. Der folgende Konjunktureinbruch traf die Stadt hart – von der Stimmung mag etwa die Erinnerung zeugen, dass Stadtrat Hermann Häberlin, der Versammlungen von Arbeitslosen besuchte, nachts zeitweise nur bewaffnet und in Begleitung eines Detektivs ausging.52

Die Stadt selbst war 1920 in eine akute Finanzkrise geraten. Die Massnahmen der letzten Kriegsjahre zur Versorgung der zahlreichen Bedürftigen und andere Faktoren hatten zu einem Defizit von vierzig Prozent der Einnahmen geführt, und die Grossbanken waren, möglicherweise auch aus politischen Gründen, ohne Garantie des Kantons zu keinen weiteren Krediten bereit. Die Stadt musste sich in den USA Geld zu einem Wucherzins leihen und sich unter kantonale Vormundschaft stellen, also namentlich die parlamentarischen Ausgabenbeschlüsse genehmigen lassen. Harte Sparmassnahmen, die Entlassung von mehreren hundert Arbeitern, Angestellten und Beamten sowie eine drastische Steuererhöhung führten zu einer baldigen Verbesserung, Mitte 1922 endete der «Garantievertrag» mit dem Kanton. Der wirtschaftliche Aufschwung verschaffte dann der Stadt wieder einigen Handlungsspielraum.

Wohnungsbau für die «Gartenstadt»

Ein dringliches Problem war die Wohnsituation der weniger bemittelten Menschen. Die Bevölkerungszahl war vor dem Krieg rasch gewachsen und hatte sich nur vorübergehend infolge des Wegzugs kriegsdienstpflichtiger Ausländer reduziert.53 Während des Kriegs liess die Verteuerung der Materialien die Bautätigkeit stark zurückgehen. Besonders auch die hygienischen Zustände waren in manchen Häusern erbärmlich. Insgesamt verfügten 1920 in Zürich 88 Prozent der Wohnungen über einen Abtritt, 26 Prozent über ein eigenes Bad und 10 Prozent über eine Etagen- oder Zentralheizung.54 In der Situation grosser Knappheit griffen die Behörden auch zu rein protektionistischen Massnahmen. So ermöglichte es gegen Kriegsende ein Bundesratsbeschluss, Personen ohne Ortsbürgerrecht (auch Schweizer) aus einer Gemeinde wegzuweisen. Der Zürcher Stadtrat machte, durch einen SP-Vorstoss dazu aufgefordert, von diesem Recht häufigen Gebrauch.

Der Bau kommunaler Wohnungen, vorerst nur für das eigene Personal, hatte schon vor dem Krieg begonnen, wurde 1918/19 mit einigen zum Teil noch kasernenartigen Projekten forciert, musste dann aber aus finanziellen Gründen vier Jahre unterbrochen werden. Ab Mitte des Jahrzehnts wurden weitere «Kolonien» angelegt, auch über eine städtische Stiftung. Eine Hebelwirkung hatte die Förderung des genossenschaftlichen und anderen gemeinnützigen Wohnungsbaus durch günstige Abtretung von Land, mit Beiträgen und Darlehen. Von 1924, als die Bedingungen dafür gelockert wurden, bis 1928 erstellte oder subventionierte die Stadt etwa 4800 neue Wohnungen, während rund 5500 private entstanden.55 In Volksabstimmungen fand diese Politik breiten Rückhalt.

Die Wohnbauprojekte waren einerseits Teil der Sozialpolitik, folgten andererseits einer städtebaulichen Konzeption. Zürich war Ende des 19. Jahrhunderts ohne eigentliche Planung gewachsen. Zunehmende Nutzungskonflikte, Versorgungs- und Verkehrsbedürfnisse legten es nahe, nach einer Ordnung für die Zukunft zu suchen. Nach dem Vorbild von «Gross-Berlin» wurde daher in Absprache mit dem Kanton und den Nachbargemeinden von 1915 bis 1918 ein Wettbewerb für einen Bebauungsplan durchgeführt, der in «Gross-Zürich» auch die Vororte einbeziehen sollte.56 Diese Lancierung zur Kriegszeit, nach längerer Vorbereitung, ist bemerkenswert, ebenso die Tatsache, dass ein Teilnehmer mit recht kühnen Visionen, Hermann Herter, in der Folge zum Stadtbaumeister ernannt wurde. Zu seinen Vorschlägen gehörten etwa ein neuer Hauptbahnhof links der Sihl mit zwanzig Gleisen, die massive Erweiterung beider Hochschulen auf der Hangkante, kreuzungsfreie Strassen, aber auch ein System grosszügiger Grünflächen im Sinn der «Gartenstadt» – einer Leitidee, die noch lange wirksam bleiben sollte. War damit in England um die Jahrhundertwende eine neue Stadt auf der grünen Wiese gemeint, so ging es in Zürich um grüne Korridore, eine freigehaltene Zone als Gürtel rund um die Stadt sowie um eine lockere Bebauungsart. Die «Gartenstadt», die sich natürlich nicht ganz konsequent realisieren liess, hob den Stadt-Land-Gegensatz gewissermassen auf und gab der Kapitale des Kantons neuartige Perspektiven. Und in den wohlgeordneten Siedlungen, am deutlichsten in den Kleinhaus-Kolonien, schienen sich soziale und (klein)bürgerliche Vorstellungen zusammenzufinden.

Um die Entwicklung zu steuern, erwarb die Stadt systematisch Grund und Boden. Zum einen wurden so Wiesen und Wälder geschützt, zum anderen wurde Land allenfalls mit Gewinn zur Erstellung von Einfamilienhäusern oder aber günstig für grössere Wohnungsprojekte veräussert. Bei der Gestaltung unterstützter Vorhaben sprach der Stadtbaumeister ein gewichtiges Wort mit. Unter anderem achtete er auf eine Anordnung, bei der ein öffentliches Gebäude dominant zur Geltung kam, zum Beispiel das Schulhaus Letten, um das sich geschwungene Wohnbauten (ab 1921) gruppieren. Eine radikale «Sanierung» der Altstadt – geplant war etwa ein Strassendurchbruch vom Zähringerplatz zum Pfauen – kam nicht zustande. Tiefgreifende Veränderungen zog hingegen etwa die Verlegung der zum linken Seeufer führenden Bahnlinie nach sich; über dem neuen Tunnel wurde eine repräsentative Achse, ausgerichtet auf den Bahnhof Wiedikon, angelegt. An privilegierten Lagen wie am oberen Zürichberg schritt die Erstellung von Villen und anderen Privathäusern voran. Monumental präsentiert sich etwa die 1920 eingeweihte Kirche Fluntern, wie die Universität ein Werk der Architekten Karl Moser und Robert Curjel.

Da es Höhe und Dichte der Bebauung zu vermeiden galt, vergrösserte sich der Flächenbedarf. Planer und Politiker dachten folglich auch an eine zweite Eingemeindung, zumal die Bevölkerungszahl ab Mitte des Jahrzehnts wieder stark zunahm. Eine Initiative, die über die heutige Stadt hinaus auch Kilchberg, Schlieren, Oberengstringen und Zollikon einschloss, wurde 1929 von den kantonalen Stimmberechtigten verworfen, eine zweite, sich auf acht Gemeinden beschränkende und somit Landgemeinden-verträglichere Vorlage erhielt 1931 mehr als eine Zweidrittelmehrheit.

Schritte zur Sozialversicherung

In der Sozialpolitik57 musste sich Zürich bis Mitte der 1920er-Jahre weitgehend auf die eigentliche Fürsorge und den Betrieb von Jugend- und Altersheimen beschränken. Die Verzögerung beim Aufbau von Versicherungssystemen auf Bundesebene bewirkte allerdings einen unverminderten Handlungsdruck auf Kantone und Gemeinden. 1926 führte die Stadt Zürich erhebliche kommunale Beiträge an Arbeitslosenversicherungen ein und errichtete selbst eine Kasse für die Bevölkerung. Zwei Jahre später trat, gestützt auf ein kantonales Gesetz, ein limitiertes Obligatorium der Krankenversicherung in Kraft, das 44 Prozent der Einwohner erfasste. Und Ende des Jahrzehnts folgte die Regelung der Altersbeihilfe mit garantierten Ansprüchen und fixierten Leistungen – eine wichtige Neuerung, auch wenn die über 65-Jährigen erst fünf Prozent der Bevölkerung ausmachten. Alle diese Aufwendungen hielten sich bis zur Krise in den 1930er-Jahren in Grenzen.

Expandierender Verkehr

Schon bald nach der ersten Eingemeindung hatten private Unternehmen zur Erschliessung der neuen Stadtquartiere elektrisch betriebene Tramlinien angelegt.58 Das nicht durchwegs zusammenhängende Netz reichte bis in Vororte wie Oerlikon, Seebach, Schlieren und Dietikon. Die 1896 gegründete Städtische Strassenbahn übernahm sukzessive die privaten Gesellschaften und baute das Netz weiter aus. In den frühen 1920er-Jahren kamen etwa die Strecken Rigiplatz – Irchelstrasse, Letzigraben – Albisrieden und Kirche Fluntern – Allmend hinzu, die letztgenannte Verbindung wurde 1924 knapp fünf Monate nach der Volksabstimmung eröffnet.59

Ideen für eine S-Bahn, wie sie im Stadtplanungswettbewerb aufgetaucht waren, verschwanden für Jahrzehnte, während der motorisierte Individualverkehr rasch zunahm. 1920 waren in Zürich 1400 Autos registriert, 1928 bereits 7000.60 Die erschreckend hohen Unfallzahlen – 1929 kamen 28 Menschen ums Leben, 61 2018 hingegen, bei 25-fachem Autobestand, 10 – sind Folge eines noch wenig geregelten Nebeneinanders von Fussgängern, Velos, Fuhrwerken und Autos (bei offiziellem Tempo 18 innerorts). Die Entwicklung stiess zwar auf Widerstand, gerade auch auf dem Land, wo die eigene Motorisierung geringer war. Die Kritik betraf aber eher nur einzelne Auswirkungen. Die Regierung erliess 1920 ein Fahrverbot an Sonntagnachmittagen im Sommer ausserhalb von Zürich und Winterthur62 und ersetzte es 1923 durch eine Reduktion der Höchstgeschwindigkeit. Ein Initiativbegehren «um vermehrten Schutz vor den Motorfahrzeugen», das unter anderem ein fünfstündiges Nachtfahrverbot und härtere Sanktionen verlangte, wurde 1924 klar verworfen.

Der Bahnverkehr verbesserte sich durch die Elektrifizierung des Netzes, namentlich der Verbindungen von Zürich nach Zug (1923), Olten und Winterthur (1925). Die Luftfahrt steckte noch in den Anfängen, entwickelte sich aber rasch, auch wenn 1920 zwei Mal ein Wasserflugzeug in den Zürichsee abstürzte. 1919 wurde ein Luftpostdienst innerhalb der Schweiz eingerichtet, 1923 bot eine britische Gesellschaft erstmals drei Flüge pro Woche von Zürich über Basel und Paris nach London an.63 Die Zahl der Passagiere stieg in sechs Jahren von 1302 auf 8493 (1929).64 Das Volk hiess zwar die staatliche Förderung grundsätzlich gut, sagte aber 1930 klar Nein zu einem grösseren kantonalen Kredit für den Ausbau des Flugplatzes Dübendorf, ohne damit das Vorhaben definitiv zu verhindern.

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9783039199532
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