Kitabı oku: «Zwischen Expertise und Führung (E-Book)», sayfa 2
6. Führung in den Berufsfeldern Bildung und Gesundheit
6.1 Führung im Bildungsbereich
Die Führungsforschung im Bereich von Bildungsorganisationen – insbesondere im Bereich der obligatorischen Schule – hat sich in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren insbesondere mit dem Zusammenhang von Lernen und Führung auseinandergesetzt (Hallinger & Kovacevic, 2019). Unter dem Begriff «leadership for learning» (Townsend & MacBeath, 2011) ging es um die Frage nach dem Zusammenhang von Führungshandeln und dem Lernen von Schüler*innen. Lange Zeit galt «instructional leadership» als der effektivste Führungsstil. Dabei nehmen Schulleiter*innen – meist datenbasiert – direkten Einfluss auf das Handeln der Lehrer*innen und damit auf den Unterricht. Verschiedene Untersuchungen zeigten jedoch, dass nicht nur die Schulleitungen, sondern auch viele andere Funktionsträger*innen Einfluss auf den Unterricht nehmen und «instructional leadership» deshalb mit Modellen pluraler Führung kombiniert werden muss. Verschiedene Untersuchungen zu erfolgreichen Schulleitungen konnten nachweisen, dass die Schulleitung zwar eine zentrale Rolle einnimmt, dass jedoch auch andere Personen in die Führung eingebunden sind. Insbesondere der Führung durch das lehrende Personal wurde immer mehr Gewicht beigemessen, häufig wird dann von «teacher leadership» (Strauss & Anderegg, 2020) oder «Lateraler Führung» (Thomann & Zellweger, 2016) gesprochen.
Eine weitere Stömung der Schulführungsforschung der letzten dreissig Jahre misst ausserdem der werteorientierten Führung mehr Gewicht bei.
Mittels «transformational leadership» wurde sowohl einer gemeinsamen Wertehaltung und Ausrichtung als auch der intellektuellen Stimulation eine stärkere Bedeutung zugeschrieben. Diese Form der Führung bewirkt kurzfristig zwar keine höheren, messbaren Leistungen bei den Schüler*innen, jedoch ein höheres Wohlbefinden und grössere Zufriedenheit bei allen beteiligten Personen. Die Kritik an der Ausrichtung der Schulführungsforschung an messbaren Leistungen (Biesta, 2010) und der Erkenntnis, dass Instructional Leadership zu einer Deprofessionalisierung der Lehrpersonen führen kann (Fullan, 2014), führt dazu, dass die Schulführungsforschung heute von einer hohen Komplexität (Schratz et al., 2019) und dem Einbezug verschiedener Ebenen (Spillane, 2020) ausgeht. Galt um die Jahrtausendwende weltweit die Vorstellung, dass eine grössere Autonomie der Einzelschule und somit eine Stärkung der Schulführung zu einer höheren Schulqualität führt (Riveros, Verret, & Wei, 2016), so steht heute eher die Vorstellung von Führung als Netzwerk verschiedenster Akteur*innen im Vordergrund. Führung als ein relationales Agieren in Netzwerken (Anderegg, 2021) löst sich von einer hierarchisch-bürokratischen Vorstellung hin zu einer Agilität, die sowohl unterschiedliche Funktionen als auch Kompetenzen miteinbezieht und sich damit zwischen Stabilität und Flexibilität bewegt.
Hochschulen (insbesondere Fachhochschulen) und weitere Bildungsorganisationen im tertiären Bereich (z.B. höhere Fachschulen) hingegen haben sich in den letzten Jahren im Rahmen von (Hochschul-)Reformen gerade im deutschsprachigen Raum in ihren Führungsstrukturen staatlichen Unternehmen angenähert. Damit haben sie einerseits ihren (Hochschul-)Leitungen mehr Entscheidungsmacht und Verantwortung übertragen und andererseits mittlere Managements von wachsender Bedeutung geschaffen, mit Herausforderungen (Paradoxien), wie sie zu Beginn der Einleitung beschrieben werden (Zellweger, 2016, S. 30). Hierarchisierung steht hier vor Agilität.
Dadurch ergaben sich weitere Dilemmata: An traditionellen Hochschulen beispielsweise ist eine persönliche Profilierung ausserhalb der Kernprozesse (z.B. Forschung) nur temporär möglich und auf die Dauer unter Umständen sogar laufbahnschädigend (vgl. ebd., S. 29ff.).
Ein teilweise breit diskutiertes Phänomen war der «third space» (Whitchurch, 2008): Mitarbeitende im Third Space profilieren sich dauerhaft ausserhalb des Kernprozesses und leisten häufig zentrale Arbeit an Schnittstellen. Sie repräsentieren sozusagen «in between» die Querstabilisierung einer vertikalen (hierarchischen) Struktur zwischen akademischem und administrativ-organisatorischem Feld. Hier sind zum Beispiel Qualitätsverantwortliche, E-Learning-Fachpersonen oder Studiengangsleitende gemeint.
Laut Zellweger (2016, S. 33) wachsen Organisationstätigkeiten gerade an Hochschulen stetig. «Academic managers» würden die Zunahme als Belastung wahrnehmen, die sie von der Tätigkeit in Forschung und Lehre abhalte, «new professionals» ihre Schnittstellenfunktionen als Chance in der Verwaltung wahrnehmen. Hier besteht laut Zellweger ein Potenzial für eine «Fehlentwicklung in Richtung Überbürokratisierung» (ebd.).
6.2 Führung im Gesundheitsbereich
Von der Hausarztpraxis über die Spitex sowie die Alters- und Pflegeheime bis hin zu einem Universitätsspital: Organisationen der Gesundheitsversorgung umfassen eine grosse Bandbreite. Im Folgenden wird auf Merkmale der Führung in einem Spital (stationärer Bereich) fokussiert.
Mit der rasanten Zunahme an Spezialisierung und Technologisierung im Gesundheitswesen hat sich das diagnostische und therapeutische Spektrum kontinuierlich erweitert. Zusammen mit der Ökonomisierung und einem neuen Rollenverständnis der Patient*innen, aber auch mit den veränderten Ansprüchen der Politik und der Medien hat die Komplexität der Gesundheitsversorgung zugenommen (Schmitz, Egger, & Berchtold, 2017).
Es haben sich innerhalb der medizinischen Arbeitskontexte (Ärzt*innenschaft, Pflege und Betriebswirtschaft) in den letzten Jahren zusehends neue Führungsprofile entwickelt. Hier könnte zwischen Fach- und Systemführung oder zwischen Interaktions- und Systemkontext (Rügg-Sturm, 2008) differenziert werden. Die Spezialisierung betrifft jedoch dabei nicht nur diese Bereiche, sondern auch eine eminente Zunahme von professionsinternen fachlichen Teildisziplinen.
Der Interaktionskontext bezieht sich dabei nach Rüegg-Sturm (2008) auf die unmittelbare Beziehung zu Patient*innen, der Systemkontext auf organisationale Prozesse und Strukturen.
Die Systemführung im medizinischen und pflegerischen Kontext kann nicht ohne Risiken an erfahrene Führungskräfte aus Wirtschaft und Verwaltung delegiert werden. Eine gewisse «Feldkompetenz» oder Anschlussfähigkeit an den medizinischen Kontext ist dabei unerlässlich – wenn man nicht Spannungen zwischen Fach- und Führungspersonal erhöhen will (ebd.).
Es lassen sich auch – gerade in Krankenhäusern – Entwicklungen von funktionaler zu divisionaler Organisationsstruktur feststellen (Schrappe, 2009). Sparten- respektive Abteilungsinteressen verstärken Subkulturen und Spannungen, der Integrationsaufwand ist riesig. Zudem orientieren sich Mediziner*innen wie oben beschrieben an Fachlichkeit und an Patient*innen-Kontakten, Geschäftsführungen isolieren sich auf der Systemebene. Mit den Spitalmanager*innen und den Chefärzt*innen treffen somit zwei Berufsgruppen aufeinander, die in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Kultur sehr verschieden sind.
Interessant sind neuere patientenorientierte Führungsmodelle im Rahmen des Konzeptes «clinical governance» (vgl. Schrappe, 2009). Diese enthalten Evidenz- und Leitlinienorientierung, konsequente kontinuierliche Verbesserung und eine Betonung der Sicherheitskultur; es handelt sich dabei eigentlich um einen systematischen Ansatz zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der Qualität der Patient*innenversorgung. Die gegenwärtige Problematik besteht darin, dieses Konzept zu einer «clinical corporate governance» (unternehmensorientierte Führung) auszubauen.
Zu konstatieren ist, dass die heutige Realität in Spitälern «von der Ungleichzeitigkeit der Führungsverständnisse gekennzeichnet» ist (Schmitz et al., 2017, S. 1100). War klassische Medizin (auf ärztliche Führung bezogen) von einer «Kultur des heroic leadership gekennzeichnet» (ebd., S. 1099), das heisst Führung durch macht- und statusbewusste Chefärzt*innen, verlangt die heutige Zeit mehr und mehr ein «Sich-Einbringen in […] netzwerkartige Strukturen und Prozesse, die von Kollaboration und wechselseitigen Abhängigkeiten geprägt sind» (ebd.).
So werden aktuell viele Anstrengungen unternommen, um die Zusammenarbeit der beiden grössten Berufsgruppen im Spital, der Medizin und der Pflege, zu fördern. Dies wird mit der übergreifenden Bezeichnung «Interprofessionalität» thematisiert. Haddara und Lingard (2013, zit. nach Atzeni, Schmitz, & Berchtold 2017) beschreiben mithilfe einer Diskursanalyse zwei verschiedene Bedeutungen von Interprofessionalität. Zum einen konstruiert der «emanzipatorische Diskurs» die Interprofessionelle Zusammenarbeit «als ein Korrektiv zur Dominanz der Ärzt[*innen] über die Pflege» (ebd., S. 18). Dies spiegelt sich auch in (alten) hierarchischen Führungsstrukturen wider. Fraglich ist, in welchem Verhältnis sich dabei die akademische Medizin zu der sich weiterhin akademisierenden Pflege sieht und umgekehrt. Auf der anderen Seite konstruiert der «utilitaristische Diskurs […] den Prozess der Zusammenarbeit im klinischen Setting als ein Mittel zur Gewinnung besserer Outcomes in der Gesundheitsversorgung» (ebd.). Letzteres charakterisiert die heute intendierte Ausrichtung von Interprofessionalität. Publikationen zur Führung im Gesundheitswesen befassen sich auch separat mit Führungsphänomenen der einen oder der andere Berufsgruppe (z.B. von Arx, Endrissat & Jacobs, 2019 [medizinisches Personal], Shaw, 2007 [Nursing Leadership]). So beschäftigt sich die Organisation «Swiss Nurse Leaders» mit der Sichtweise der Profession Pflege. Sie empfiehlt in ihrem 2019 entwickelten Leadership-Modell gleichzeitig, eine «gemeinsame interprofessionelle Führung auf allen Hierarchiestufen» zu fördern (Swiss Nurse Leaders, 2019). Als gelungenes Beispiel soll abschliessend das Spital Schwyz genannt werden, dessen Konzept der Führungsentwicklung im Papier «Führen im Spital Schwyz» festgehalten ist. Das Führungsverständnis gilt in diesem Schweizer Spital gleichermassen für «Medizin/Ärzte, Pflege und Ökonomie», wobei konkrete Bedürfnisse berücksichtigt werden (Spital Schwyz, o.J.).
7. Themenaufbau und Struktur
Die vorliegende Publikation legt den Fokus auf drei unterschiedliche Handlungfelder der Führung: Entscheidungen treffen, Laufbahn gestalten und Unerwartetes bewältigen. Diese drei Themen sind in den oben erwähnten Kaminfeuergesprächen auf grossen Anklang gestossen und haben zu intensiven Diskussionen geführt.
Zu jedem dieser Themenstränge findet sich neben zwei Porträts von Führungspersonen mit entsprechenden Erfahrungsberichten eine theoretische Reflexion, in der kontextspezifisch (Bildung und Gesundheit) versucht wird, auf die zentralen Fragen des jeweiligen Themenstranges Antworten zu geben. Die theoretischen Texte zu den drei Themensträngen nehmen jeweils Aussagen aus den Porträts auf.
Eine Schlussreflexion versucht, die Aussagen der vorhergehenden Texte zu bündeln, um gleichzeitig daraus neue Perspektiven zu entwickeln.
Im Folgenden findet sich eine kurze Einführung zu den drei Themensträngen, ergänzt durch spezifische Fragen, die den Autor*innen der Theorietexte vorgelegt wurden.
Themenstrang 1: Entscheidungen treffen
Entscheiden heisst, zwischen Möglichkeiten zu wählen – ohne Garantie dafür, dass die Entscheidung sich im Nachhinein als richtig herausstellt. Führungskräfte entscheiden manchmal schnell oder intuitiv, manchmal wägen sie lange ab; manchmal entscheiden sie allein, manchmal binden sie andere in Entscheidungsprozesse ein oder entscheiden gemeinsam. Nicht selten entscheiden sie nicht, was auch eine Entscheidung ist.
In diesem Thementeil soll das Entscheidungsverhalten von Führungspersonen in Expert*innenorganisationen beleuchtet werden. Wie bereits erwähnt, zeichnen sich diese durch die Berücksichtigung von breit abgestütztem fachlichem Wissen sowie durch eine Tendenz zu partizipativer Kultur aus. Beide dieser Merkmale können Entscheidungsprozesse erleichtern oder erschweren.
Wir denken an schwierige einsame Entscheidungen, an notwendige gemeinsame Entscheidungen, an Grenzen in Bezug auf Entscheidungshandeln (strategische Neuausrichtungen, Schliessung von Organisationseinheiten, Entscheide über Leben und Tod, bedeutsame berufsbiografische Entscheidungen etc.) oder an im Nachhinein relevante Nichtentscheidungen.
Relevante Fragen zu diesem Themenstrang sind unter anderem:
Welche Auswirkungen haben Entscheidungen oder Nichtentscheidungen im Nachhinein bei den Entscheidungsträger*innen und im betroffenen System? Lassen sich solche Wirkungen im Vorfeld einschätzen?
Wie wird bei Unvorhersehbarkeit oder Unerwartetem entschieden?
Müssen gerade komplexe Entscheidungen im Zuge einer «bounded rationality» (Simon, 1982) durch Sequenzierung «entdramatisiert» werden (Wiesenthal, 2009, S. 41) und gewinnt die Exploration alternativer Handlungswege und Problemlösungen an Bedeutung?
Welchen Preis bezahlen Entscheider*innen für ihre (Nicht-)Entscheidungen? Welches Risiko gehen sie ein?
Wer trägt die Verantwortung bei Entscheidungen? Werden Entscheidungshoheit und die Verantwortung für Entscheidungen in Kontexten agiler Führung gemeinsam getragen?
Porträt Katrin Huber: Niels Anderegg
Porträt Felix Beuschlein: Niels Anderegg
Theoretischer Bezug: Rolf Kuhn
Themenstrang 2: Laufbahn gestalten
Führungslaufbahnen verlaufen häufig nicht so linear wie geplant: Statt vertikal die Karriereleiter Schritt für Schritt hochzusteigen oder aber von derselben unvermittelt hinunterzustürzen, sind – speziell auch in Expert*innenorganisationen – zunehmend horizontale Bewegungen wahrnehmbar: temporäre Übernahme von Führungsaufgaben, das Pendeln zwischen Management und Fachführung, laterale Führungsarbeit ohne Personalführung, phasenhafte Wechsel zwischen Beratung und Führung oder Forschung und Führung. Gerade hybride Professionals sind «hochqualifizierte Grenzüberwinder[*innen], die Nutzen nicht aus ihren einzelnen Aktivitätsfeldern ziehen, sondern aus dem Akt der Grenzüberwindung selbst» (Meissner, 2016, S. 271). Die «Fugen zwischen Systemen werden zu Spielräumen unternehmerischer Initiative» (ebd., S. 280).
Hybride Professionals verfolgen einen «grenzreichen» Karrierepfad und bieten dadurch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Steigerung der «Dynamikrobustheit» (Wohland & Wiemeyer, 2007) von Organisationen. Das bedingt andere Formen von Führung und von spezifischen Contractings.
«New Work» als Denkansatz und Bewegung (Hackl et al., 2017; Bergmann, 2004) lanciert im Zuge der Digitalisierung einerseits zeitlich und räumlich «entgrenzte» agile und projektbasierte Organisationsformen, andererseits Formen der Selbstorganisation im Zuge von Enthierarchisierung (siehe auch Schlussreflexion von Wehner und Jäger Fontana in diesem Buch, S. 124ff.). Verändert diese Tendenz Karriere- und Laufbahnplanungen?
Aus dem exemplarischen Blickwinkel der Expert*innenorganisation Hochschule sollen Daten und Modelle zu «multidirektionalen» Laufbahnen von Führungskräften aufzeigen und spannende Geschichten von unüblichen Bewegungen in Führungslaufbahnen mit Konzepten und theoretischen Bezügen verglichen werden. Zugleich stellt sich die Frage, ob solche unüblichen individuellen Bewegungen auch für andere Organisationen (z.B. aus dem Gesundheitswesen) und deren Weiterentwicklung funktional, fruchtbar und nutzbar sein können.
Relevante Fragen zu diesem Themenstrang sind unter anderem:
Geht die fachliche Expertise bei der Übernahme einer Führungsaufgabe verloren? Falls ja, woran zeigt sich das?
Wie sehen Pendelbewegungen, zum Beispiel zwischen Führen und Beraten, Führen und Lehren, Lehren und Forschen aus?
Was geschieht mit Personen, die Führungsfunktion abgeben?
Wie reagieren Institutionen auf unübliche Laufbahnbewegungen?
Wo und wie profitieren Institutionen von dynamischen Laufbahnen?
Wie sieht eine adäquate Personalentwicklung aus, die solche Bewegungen fördert?
Porträt Daniel Baumann: Geri Thomann
Porträt Jörg Meyer: Hans-Peter Karrer
Theoretischer Bezug: Christine Böckelmann
Themenstrang 3: Unerwartetes bewältigen
«Ist jemals eine Organisation deshalb am Überleben gescheitert, weil sie etwas Wichtiges vergessen hat? Es ist wahrscheinlicher, dass Organisationen deshalb scheitern, weil sie zu vieles zu lange im Gedächtnis behalten und fortfahren so zu tun, wie sie es schon immer getan haben.» (Weick, 1995, S. 320)
Trotz bisherigem Erfolg kann der Mensch jederzeit scheitern; dies vor allem dann, wenn er neuen Herausforderungen mit altbekannten Reaktionen begegnet und dadurch «falsches» Wissen nicht verlernt. Argyris ist vermutlich der bekannteste Autor, der sich aus dieser Perspektive mit organisationalem Lernen beschäftigt hat und Aspekte individuellen Lernens zu organisationalem Lernen transferierte. Er begründete die Konzepte der «defensiven Routinen» und der «eingeübten Inkompetenz» (Argyris, 1996).
Defensive Routinen sind Handlungen, die Menschen und Organisationen vor negativen Überraschungen, Gesichtsverlust oder Bedrohungen bewahren und sie gleichzeitig daran hindern, die Ursachen dafür zu reduzieren.
Gelernte und fixierte Grundmuster im Umgang mit schwierigen oder neuartigen Situationen funktionieren häufig linear als «single-loop learning», einem steten Kreislauf von Aktion und Reaktion, ohne die Vorgehensweise grundsätzlich und reflexiv auf einer Metaebene infrage zu stellen («double-loop learning»). Dabei entwickeln sich organisationale defensive sich wiederholende Muster, die eigentliches Lernen – als aktive Anpassung an veränderte Verhältnisse – verhindern. Organisationales Lernen findet laut Argyris und Schön (2002, S. 31f. und S. 47) dann statt, wenn frühere Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg analysiert und interpretiert werden, wenn auf Überraschungen – bei Nichtübereinstimmung von erwarteten und erfolgten Ergebnissen – mit Reflexion und veränderter Aktion geantwortet wird.
Für Weick und Sutcliffe (2016, S. 72–76) geht es jedoch – gerade in Krisensituationen (wie der zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Buches virulenten Covid-19-Krise) – nicht darum, das Unerwartete mit Routinen und Plänen einzudämmen, sondern variabel mit dem Unerwarteten umzugehen. Sie beschreiben dabei Konzepte wie «organisationale Resilienz», das «Sense-Making» und «achtsames Organisieren». Mehr dazu im Text von Thomann in diesem Buch.
Relevante Fragen zu diesem Themenstrang sind unter anderem:
Ist die Thematik des Umganges mit Unerwartetem in Bezug auf Organisationen in den beiden Feldern Gesundheit und Bildung wirklich so neu? Kann man jetzt schon von Unterschieden in der organisationalen Dynamik und im Führungshandeln zwischen «vorher», «während» und einem allfälligen «danach» sprechen, von «vor der Krise», «während der Krise» und «nach der Krise»? Waren Organisationen (Spitäler, Kliniken, Schulen, Hochschulen) vor Corona beständig, stabil und planbar?
Wie können Führungskräfte im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich unerwartete Krisen wie Covid-19 produktiv bewältigen? Welches Potenzial liegt in der Krisenbewältigung?
Wie viel Planung, wie viel Antizipation, wie viel Vorsorge ist dabei möglich, wie viel Improvisation notwendig?
Wie lassen sich Begriffe wie «Risiko», «Ungewissheit», «Unvorhersehbares», «Unerwartetes» und «Unsicherheit» unterscheiden?
Welche Kennzeichen von Resilienz lassen sich in Krisenzeiten in Organisationen ausmachen?
Welches Führungsverhalten ist adäquat für den Umgang mit Unerwartetem?
Porträt von Janine Allimann: Hans-Peter Karrer
Porträt von Jacqueline Martin: Sylvia Kaap-Fröhlich
Theoretischer Bezug: Geri Thomann