Kitabı oku: «2 Jahre später», sayfa 3
Paps sah ihn an, lange. Bleierne Müdigkeit lag in den hellen Augen.
»Das wird schon wieder«, sagte er leise. »Mach dir keinen Kopf, Junge. Irgendwann haben sie keine Lust mehr und geben auf.«
Kai nickte. Dabei wusste er genau, dass sie das nicht würden. Seit der dummen Läusegeschichte hatte Markus einen Hass auf ihn. Na, kein Wunder. Nach der Infoveranstaltung damals hatten alle Kinder Markus Läusequelle genannt. Weil Kai ihn so genannt hatte und das blöde Wort war irgendwie hängengeblieben.
Sie hatten ihm das nachgerufen, bis Markus auf dem Schulhof angefangen hatte zu heulen. Kai hatte ihn danach nie wieder weinen gesehen und davor nur einmal, im Kindergarten. Es hatte ihm entsetzlich leidgetan. Aber davon war Markus’ Blamage auch nicht besser geworden.
Um allen zu zeigen, was passierte, wenn man ihn lächerlich machte, hatte Markus begonnen, ihn zu piesacken. Sieben Jahre lang büßte Kai nun schon für die Läusegeschichte, für die eigentlich niemand etwas gekonnt hatte. Na ja. Was sollte er machen? Seit er ins Gymnasium ging und Markus auf die Realschule, hatte er meistens seine Ruhe. Nur abends im Dorf war er nie ganz sicher, ob Markus nicht aus irgendeiner Ecke springen würde, um ihn weiter zu nerven. Richtig verprügelt hatte er ihn nie. Nur verhöhnt und mit Kleinigkeiten beworfen. Steine. Erdnüsse. Parkchips.
»Können wir heimfahren?«, fragte er müde. »Ich muss duschen.«
Paps nickte. Er schien erleichtert, dass Kai nicht darüber reden wollte.
6. Arthur
Die Uhr in der Eingangshalle tickte. Arthur saß auf den Treppenstufen, hielt ein Buch in den Händen und wartete. Manchmal schaffte er es, sich darin zu verlieren. Dann wieder war er unruhig, sprang auf, tigerte die Stufen hoch und runter, durchstreifte das ganze Haus und umrundete den Innenhof. Viel weiter wagte er sich nicht.
Vor der Villa verlief die Straße. Sonst gab es nur den Wald. Und in den traute er sich immer noch nicht. Sobald er ein paar Schritte gegangen war, fühlte er sich verloren in der Düsternis, der Stille, die böse zu flimmern schien. Die Bäume, die dunkel über ihm aufragten, und der bewölkte Himmel kamen ihm vor wie ein schlechtes Omen. Verdammt, warum war er so ein Feigling?
Als er zum dritten Mal in die kühle Luft der Eingangshalle zurückkehrte, brummte sein Handy. Erleichtert über die Ablenkung fummelte er es aus der Hosentasche. Vielleicht Kai, obwohl, der hatte die Nummer gar nicht …
Es war seine Mutter.
»Arthur, Schätzchen! Wie geht es dir? Nein, Moment, ich muss kurz … Arti, bleib kurz dran, ja? Da ruft mich wer an.«
»Mach ich«, sagte er, aber sie war schon weg. Er seufzte. Unschlüssig sah er sich in der Eingangshalle um. Schaute auf seine Schuhspitzen. Braunschwarzer Dreck und Blattfetzen klebten daran. Andenken an den ergebnislosen Ausflug an den Waldrand. Man konnte den Matsch sogar riechen, erdig und schwer.
Er wartete auf das helle Tuten. Wartete lange. Das Handy am Ohr wurde schwitzig-feucht, bis seine Mutter endlich zurückkehrte.
»Tut mir echt leid, Schätzchen. Das war wichtig. Also, wie geht es dir? Ich hoffe, du isst nicht so viel.«
»Nein, nein.« Beschämt dachte er an die vier Butterbrote, die er gefrühstückt hatte. »Mir geht’s super. Wie ist es bei euch?«
»Oh, gut. Die Chevaliers haben uns eingeladen, ein paar Tage auf ihrer Jacht zu verbringen und wir sind gerade dahin unterwegs. Du kommst so lange allein zurecht, oder? Bist ja ein großer Junge.«
»Ja, klar.« Er versuchte, besonders männlich zu klingen. Klappte so halbwegs. »Aber ihr kommt noch, oder?«
»Natürlich kommen wir! Wir wollen doch unseren Lieblingssohn … Oh, Moment. Bin gleich wieder da.«
Tuten. Arthur wartete eine Viertelstunde lang, dann beendete er den Anruf. Sie rief nicht zurück.
Er seufzte schwer. So waren sie, seine Eltern. Vor zwei Jahren waren sie in Nepal gewandert und plötzlich hatten sie kein Netz mehr gehabt. Es waren die glücklichsten Stunden gewesen, die Arthur je mit seinen Eltern verbracht hatte. Sie hatten sich Wanderlieder ausgedacht und, obwohl sie ihn beide getadelt hatten, weil er so schnell aus der Puste kam, war es einfach wunderbar gewesen. Es erstaunte ihn immer wieder, dass ein trantütiger Moppel wie er von diesem lebhaften Paar abstammte.
Ein Geräusch ließ ihn hochfahren. Das Geräusch, auf das er die ganze Zeit gewartet hatte! Der Transporter quälte sich hörbar über die Einfahrt und Arthur kam ein furchtbarer Gedanke. Wie musste er wirken, hier, alleine auf den Treppenstufen? Als hätte er die ganze Zeit auf Kai gewartet. Als hätte er nichts Besseres zu tun, als wäre er ein total verzweifelter Versager!
Er sprang so schnell auf, dass er fast kopfüber die Treppe hinuntergekugelt wäre und hechtete in die Bibliothek. Das Ledersofa ächzte, als er sich darauf warf und hastig das Buch aufschlug. Ruhig, dachte er. Ich darf nicht schnaufen, wenn er reinkommt. Ganz locker sein.
Als Kai in die Bibliothek kam, eine schäbige Reisetasche über der Schulter, hing Arthur vollkommen gelassen in den Polstern. Er wandte erst den Kopf, als Kai die Tasche polternd zu Boden fallen ließ.
»Oh, hey«, sagte Arthur entspannt. »Schon zurück?«
Kai nickte. Irgendetwas stimmte nicht. Da war eine winzige Wunde auf seiner Wange, ein kleiner roter Fleck, aber das war es nicht. Er hielt sich anders. Seine Schultern hingen und selbst seine Haare standen nicht so ab wie sonst.
»Ist was passiert?« Arthur richtete sich auf.
Kai schüttelte den Kopf.
»Kann ich mich zu dir legen?«, fragte er mit matter Stimme.
Arthur explodierte innerlich fast, schaffte es aber, »Okay« zu sagen.
Blitzschnell war Kai neben ihm. Arthur versteinerte, als er über ihn krabbelte, sich an ihn kuschelte und einen Arm über Arthurs Brust legte. So wie er heute Morgen.
Sein Herz verwandelte sich in einen Presslufthammer. Nein. Nein! Das musste Kai doch merken! Der blonde Kopf lag genau auf seiner Brust. Verdammt schwer. Verdammt schön.
Kais Wärme durchdrang Arthurs Körper und er roch ihn. Sauber und frisch geduscht, nach Kernseife und gottseidank immer noch nach Feuerwerk. Haarspitzen kitzelten Arthurs Kinn.
Vielleicht sollte er etwas sagen? Etwas Cooles? Etwas … Verdammt, was konnte er sagen?
Geh nie wieder weg?
Nein. Auf gar keinen Fall.
Arthur grübelte und grübelte, bis er an den regelmäßigen Atemzügen erkannte, dass Kai eingeschlafen war. Dann kam er sich ein wenig blöd vor. Doch vor allem war er glücklich. Überglücklich. Er ließ das Buch vorsichtig sinken, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Freude kribbelte durch seine Blutbahnen. Er beobachtete Staubwirbel, die glitzernd in der Luft tanzten. Wie spielende Fische kreisten sie in den goldenen Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster schienen. Draußen erklang, ganz leise, das Geräusch der Heckenschere.
Vorsichtig, Millimeter um Millimeter, bewegte er seine linke Hand, bis sie auf Kais Haaren ruhte. Strohig und fest. Er widerstand dem Drang, hindurchzufahren, und genoss ihr Kitzeln auf seiner Handfläche. Genoss das Gefühl, das Kais Nähe in ihm auslöste. Die tiefe Ruhe, die unter all der Aufregung entstand.
Stundenlang lagen sie so. Zumindest kam es ihm vor wie Stunden. Ab und zu las er ein paar Seiten in dem Buch, dann sah er wieder an die Decke und seufzte leise.
7. Kai
Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Vielleicht hatte Arthur gezuckt oder …
Arthur?
Kai blinzelte. Vor sich sah er weißen Stoff und einen schillernden Knopf, direkt vor der Nasenspitze. Er fühlte einen weichen Leib an seinem. Das war ungewöhnlich, um es milde auszudrücken.
»Hey«, murmelte Arthurs Samtstimme. »Wieder wach?«
Kai spürte, wie er am ganzen Körper rot anlief. Die Hitze kroch ihm bis in den Nacken. Mist. Mist, was hatte er sich dabei gedacht? Er hatte schon wieder nicht überlegt, was angemessen und zivilisiert war und …
Mist.
Man legte sich nicht einfach zu einem anderen Jungen! Obwohl, Arthur hatte das auch getan, aber der war besoffen gewesen und außerdem konnte Kai sich nicht erinnern, dass der, na ja, erregt gewesen wäre und ihn in die Hüfte gepiekst hätte, so, wie er es gerade bei Arthur machte …
Er räusperte sich kläglich.
»Ich … Äh, mir war kalt«, erklärte er, logisch und rational. »So wie gestern Nacht.«
»Ach so.« Er konnte Arthur nicht ansehen. Traute sich nicht. »Na, ich schätze, dass ich sehr gemütlich und einladend aussehe.«
»Ja, du … Also nein, äh.« Vorsichtig rückte er von Arthur ab. »Doch, schon. Aber das ist gut.«
Er wagte es erst, ihn anzusehen, als er das leise Schnauben hörte. Arthur lächelte. Ein etwas wackeliges Lächeln, doch er schien ihm nicht böse zu sein. Der dunkle Schopf war verstrubbelt und die Ohren gerötet. Sollte Kai irgendwie erklären, dass …
»Ich hab von einem Mädchen geträumt«, behauptete er. »Von Nora aus meiner Parallelklasse.«
»Oh. Klar.« Arthur räusperte sich. Kai räusperte sich. »Was ist mit deiner Wange passiert?«
»Ach, das.« Kais Hand ging zu seinem Gesicht, ohne, dass er es wollte. Er rutschte von Arthur weg, bis sie nebeneinander auf dem Sofa saßen. »Das ist beim Arbeiten passiert. Ein Dornenbusch.«
»Als du weggefahren bist, hattest du das noch nicht.«
»Echt? Seltsam.« Auf keinen Fall würde er Arthur erzählen, dass er nicht gegen zwei Idioten wie Markus und Horst ankam. »Dann habe ich keine Ahnung. Was hast du gemacht, als ich weg war?«
»Oh, eine Menge.« Arthur sah an ihm vorbei. »Hab mit ein paar Leuten telefoniert. Meine Mutter hat angerufen.«
»Aha. Was sagen Mütter denn so?« Kai hatte keine Ahnung.
»So dies und das. Wie ihr Urlaub läuft, wie …« Arthur biss sich auf die Lippen. »Eigentlich nichts. Sie wurde immer unterbrochen. Sie kommen erst in ein paar Tagen.«
»Oh, gut.«
»Was?« Arthurs Augenbrauen hoben sich.
»Äh, ich darf nur hierbleiben, bis sie ankommen. Deine Mutter mag mich nicht, hab ich doch erzählt.«
»Schon.« Interesse blitzte in Arthurs Gesicht auf. »Aber du hast nicht erzählt, wieso. Hatte sie etwa auch Läuse und du hast sie darauf hingewiesen?«
»Ne.« Kai sah auf den Teppich. »Aber das war genauso blöd. Ich hab mal wieder nicht kapiert, was man sagen darf und was nicht.«
»Erzähl.« Bildete er sich das ein, oder erschien ein gieriges Lächeln in Arthurs Zügen?
»Freust du dich etwa, weil deine Mutter mich nicht mag?«
»Nein, nein. Interessiert mich nur.«
»Hm.« Kai warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Arthurs hübsches Gesicht war ausdruckslos. »Na, sie waren doch hier, um den Kasten zu kaufen, und da haben sie Paps gleich erklärt, was er alles machen muss, bevor sie anreisen, und ich war dabei und ich meinte halt, dass sie dieser Sängerin ähnlich sieht. Aus so einem alten Video, sowas, was manchmal noch im Radio kommt. Paps meint, das lief früher hier in der Dorfdisco … Was ist?«
Arthur wirkte wie elektrisiert.
»Du hast sie erkannt?«, fragte er atemlos.
»Erk… Ist sie das echt?« Kai sah ihn ungläubig an. »Deine Mutter? In diesem Lied, das mit, äh, Na Na Na und …«
»My heart says Na Na Na. Moment.« Arthur zückte sein Handy und begann, wild darauf einzutippen. Es dauerte einen Moment, weil die Verbindung hier nur mittelmäßig war, aber dann hielt er es Kai hin.
Der sah auf den Bildschirm und im gleichen Moment ging die Musik los. Wummernder Eurodance, unterlegt mit einer weiblichen Stimme, schallte durch die Bibliothek.
»Baby, when I see you my heart says Na Na Na Na Na Na …«
Mehrere Na Na Nas lang tanzte eine schlanke Frau in einem Rock aus Alufolie vor einem künstlichen Sonnenuntergang. Bunte Blitze zuckten durch das Bild. Dann sah man einen schlecht gelaunten Keyboarder mit einem zehn Meter hohen Hut und einer kreisrunden goldenen Sonnenbrille. Er trug einen Strahlenschutzanzug, ebenfalls aus Alufolie.
»Na Na Na! Every Day! Na Na Na! Every Night! Na Na Na …«
Die Frau schüttelte ihren Körper, an dem sie außer dem Alurock nur einen grünen BH und ein schwarzes Netzshirt trug. Ihre Haare waren zu einer Art blondem Füllhorn aufgetürmt. Trotz der bizarren Kleidung war sie hübsch.
»DAS ist deine Mutter?!«, fragte Kai. »Das?«
»Und das ist mein Vater.« Arthur grinste glücklich und deutete auf den schlecht gelaunten Keyboarder-Dude, der plötzlich zu rappen begann. Kais Mund ließ sich nicht mehr schließen. Arthurs rundes Gesicht strahlte vor Glück.
»Das … Wow.« Kai starrte auf das Display. »Sie müssen echt stolz darauf sein. Ich meine, das Lied wird immer noch gespielt, und …«
»Sie hassen es!«, rief Arthur über die hektischen Rhythmen hinweg. »Es ist ihnen total peinlich. Und du bist der Erste, der sie seit zehn Jahren erkannt hat. Kein Wunder, dass sie dich nicht leiden kann.«
»Oh. Aber warum? Ist das schlecht für euer Ansehen, so als alte Adelsfamilie, oder …«
Arthur schüttelte den Kopf.
»Nein. Oder ja, schon. Auf dem Lied haben sie ihre Karriere begründet. Sie haben die Einkünfte gut angelegt und ein anständiges Unternehmen gegründet. Und sich einen Adelstitel gekauft.«
»Was?«
»Girl, you’ve got to follow your dreams into the night, that’s right, follow your dreams and you’ll be alright. Open you eyes wide and ride by my side …«
»Unser Adelstitel ist gekauft«, sagte Arthur.
»Die Dinger kann man kaufen? Wie teuer ist sowas?«
»Es war ein sechsstelliger Betrag.«
»Was?! Warum … Kann man mit dem Geld nichts Besseres anfangen?«
»Es war ihnen wichtig. Ich meine, du hast sie gesehen. Sie wollen respektabel erscheinen, um jeden Preis.« Kai dachte an das schlicht, aber elegant gekleidete Paar, das die Villa mit kritischen Augen begutachtet und seinem Vater eine kilometerlange Liste mit Anweisungen dagelassen hatte. »Kein Wunder, dass sie dich nicht mag. Ihr Image ist ihr Leben, weißt du?«
»Äh.« Kai kam nicht darüber hinweg. »Ihr seid gar nicht adlig?«
»Jetzt schon.« Arthur wiegte den Kopf. »Mehr oder weniger. Offiziell ja, aber Adlige, die ihren Titel geerbt haben, schauen natürlich auf uns herab. Und Reiche, die ihr Geld geerbt haben, auch.«
Etwas in seiner Stimme ließ Kai aufhorchen.
»Auf euch? Auf dich etwa?«
»Ja, schon … ein wenig.« Arthur zupfte an der Kante des Sofas. Er betrachtete den hellgrünen Fussel, den er herausgerupft hatte, mit düsterem Blick. »Ich …« Er verstummte.
»Hey, ich hab dir meine Läusegeschichte erzählt«, sagte Kai. »Raus damit.«
»Im Internat nennen sie mich Moppel Neureich den Ersten.« Arthur verzog das Gesicht. »Nicht alle natürlich. Vor allem meine Freunde.«
»Aha. Warum ausgerechnet die?«
Arthur zuckte mit den Achseln.
»Sind wohl keine so guten Freunde«, gab er zu. »Aber ich hab keine anderen.«
»Oh.« Kai atmete tief ein. »Ich auch nicht … Ich hab eine beste Freundin, aber ansonsten gibt’s da niemanden.«
Arthur sah ihn verwundert an.
»Echt? Dabei bist du so … äh.«
»So stinkig, arm und sozial inkompetent? Ja, komisch, dass ich nicht beliebter bin.« Kai grinste schief.
»Woher kennst du Wörter wie sozial inkompetent?«
»Bücher.« Er seufzte und betrachtete die Regalreihen mit hungrigen Augen. »Ach, richtig, und dann bin ich noch ein Bücherwurm. Zum Glück ist Manolja auch so.«
»Manolja ist deine beste Freundin?«
Er nickte. Ihr ernstes Gesicht erschien vor seinem inneren Auge.
»Ja. Sie ist grad nicht da. In den Ferien wird sie immer gefördert. Ihre Eltern wollen so ’ne Art Genie aus ihr machen. Na, vielleicht ist sie das schon. Vielleicht …« Er konnte es kaum aussprechen. »Vielleicht zieht sie bald weg. Sie wollen schon ewig, dass sie sich auf ein Stipendium bewirbt. Sobald das klappt, kommt sie auf ein Internat.«
»Oh.« Arthur kratzte sich am Hals. »Das ist blöd. Was für ein Internat?«
Kai zuckte mit den Achseln.
»Rabenstein?«, fragte Arthur. »Schloss Hoheneck? Haus Bärenfang? Falkenberg?«
»Glaub, sie kann sich das aussuchen.« Kai legte den Kopf schief. »Du kennst aber viele Internate.«
»Ich bin doch selbst auf einem.«
»Ach, echt? Welchem?«
»Falkenberg.«
»Und wie ist das?«
»Okay. Ne, ziemlich gut. Na ja.«
»Bis auf die Leute, die dich Moppel Neureich nennen, meinst du?«
»Und die Morgenläufe, für die ich zu langsam bin. Reden wir nicht darüber.« Arthur stand auf. »Musst du noch arbeiten?«
»Ne, für heute hat Paps mir freigegeben.« Kai wich Arthurs Blick aus. Paps hatte gewollt, dass er sich ausruhte, nur wegen dem winzigen Zwischenfall mit Markus und Horst. Aber das würde er Arthur nicht erzählen. Irgendwie schienen sie sich so viel zu verschweigen wie zu verraten und trotzdem hatte er das Gefühl, Arthur mehr anzuvertrauen als irgendjemandem sonst. »Willst du … Kommst du mit in den Wald? Ich will dir was zeigen.«
»In den Wald.« Arthurs heller Hals zuckte. Ein Hauch Panik huschte über seine Züge.
»Hast du etwa Angst vor dem Wald?«, fragte Kai. Ach Quatsch, das konnte nicht sein. Warum sollte man …
»Ich? Überhaupt nicht.« Arthur sah an ihm vorbei. »Gar nicht. Gehen wir.«
Er marschierte an ihm vorüber. Kai wollte noch etwas sagen, folgte ihm dann aber.
8. Arthur
Was für eine Scheißidee war das denn?, dachte er, als die Villa hinter den Bäumen verschwand. Er hatte gedacht, es wäre leichter, wenn jemand mit ihm im Wald war. Aber er fühlte sich fast genau so verloren wie bei seinen Alleingängen.
Ihre Schritte raschelten im trockenen Laub. Die Nachmittagssonne hatte aufgehört, den Boden zu sprenkeln. Nicht, weil sie weg gewesen wäre. Sie war noch da, irgendwo jenseits der dunklen Baumwipfel, die den Blick in den Himmel versperrten. Der Wald war dunkel und gleichzeitig so still, dass jeder sie auf Meilen hören konnte. Etwas konnte sie bestimmt hören. Er wusste nicht was. Aber er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, während er mit Kai zwischen den glatten Baumstämmen hindurchlief. Viel zu glatt und astlos auf den ersten paar Metern. Die würde er nie hochklettern können, falls sie angegriffen wurden.
»Alles okay?« Kai, der bisher zielstrebig vorausmarschiert war, drehte sich um.
Arthur biss die Zähne aufeinander und nickte. Kai würde ihn nicht retten können, falls ein Bär kam. Der war viel zu mager. Jedes Raubtier würde sich erst auf die fette Beute stürzen. Auf ihn. Kai sah ihn zweifelnd an. Ein kühler Hauch kroch über Arthurs verschwitzten Nacken. Es war eisig hier. Oder war das eine böse Vorahnung?
»Bist du sicher?«, fragte Kai. Die hellen Augen schienen jede Lüge zu durchschauen, aber Arthur versuchte es trotzdem.
»Klar«, sagte er. »Ich bin nur … Ich bin nicht daran gewöhnt. Im Wald zu sein und so. Ganz schön dunkel.«
»Stimmt wohl.« Kai wirkte vollkommen entspannt. Entspannter als im Haus, wenn er darüber nachdachte. »Aber in ’ner halben Stunde wird es besser. Und dann wird es richtig sonnig, okay?«
»Okay.« Arthur nickte steif. Kai sah ihn noch einmal an. Dieser magere, hübsche Typ, überragt von monströsen Baumstämmen, genauso vom lauernden Halbdunkel verschluckt wie Arthur. Wie sollte der ihm bitte helfen?
Kai streckte eine Hand aus.
Arthur starrte darauf. Er schluckte hart. Dann nahm er sie.
Kais Handfläche war so rau wie seine Stimme und so warm wie ein Platz am Lagerfeuer. Und mindestens so tröstend. Verwundert merkte Arthur, wie er ruhiger wurde, als Kai ihn mit einem Ruck hinter sich herzog. Er folgte dem schmalen Rücken durch das Unterholz und düster knisternde Kiefernwälder und er hatte keine Angst mehr.
Er schaffte es nicht, Kai anzusehen. Nur einmal, als er ihm einen Geröllhaufen hinauf half, trafen sich ihre Blicke. Luchsaugen. Dieses Geschöpf des Waldes hatte ihn in sein Reich gelassen. Genau, wie er es sich gewünscht hatte.
Sie waren fast eine Stunde lang unterwegs. Der Schweiß lief Arthur in Strömen herunter und er keuchte mal wieder wie ein Mops beim Marathon. Er war glücklich. Prickelige Vorfreude erfüllte seine Brust. Und er wusste nicht einmal, worauf.
»Wo gehen wir hin?«, fragte er zum dritten Mal. »Sind wir bald da?«
»Du klingst wie ein Kleinkind«, sagte Kai.
»Würde ich nicht, wenn du nicht so ein Geheimnis daraus machen würdest.«
Arthur wäre fast über einen Stein gestolpert, aber Kais Hand hielt ihn aufrecht. Der Wald war freundlicher geworden. Immer wieder passierten sie kleine Lichtungen und ließen sich von den goldenen Sonnenstrahlen bescheinen. Das Zwitschern der Vögel klang nicht mehr unheilverkündend, sondern idyllisch. Arthur sog die erdige Luft tief in die Lungen.
»Aaaaaaah!«, schrie er und fragte sich gleich darauf, ob er bekloppt war. Kai sah ihn an. Ein wildes Grinsen zierte sein Gesicht. Und dann schrie er, noch viel lauter. Arthur machte mit. Brüllend rasten sie durch den Wald, immer schneller, Hand in Hand.
Bis sie nicht mehr konnten.
»Jetzt sag endlich, wo es hingeht«, keuchte Arthur und wäre wieder fast gestolpert.
»Was gibst du mir dafür, du reicher Bonze?«
Arthur schnaubte.
»Wie wär’s mit ’ner Tracht Prügel?«
»Als ob du mich erwischen würdest – Ah!«
Arthur hatte ihn gepackt. Lachend gingen sie zu Boden. Als Arthur später daran zurückdachte, erschienen diese Stunden ihm als die einzigen perfekten in seinem Leben. Er wälzte sich mit Kai über den federnden Blätterboden, bis sie gegen einen Baumstamm rollten. Kai packte seine Handgelenke, sprang auf ihn wie ein Kater und drückte ihn zu Boden.
»Hab dich!« Das freche Gesicht leuchtete. So nah. Das Lächeln, der Mund waren so dicht bei Arthurs, dass sein Herz stehenblieb. Einen Moment lang verstummte die Welt. Er spürte nur noch den schlanken Körper, der ihn zu Boden drückte, die kalten Blätter im Nacken, die warmen Hände. Vor allem sah er. Die wunderbar wilden Augen, die auf ihn niederstarrten. Kais Pupillen waren geweitet. Das Lächeln rutschte aus dem Luchsgesicht und machte Verwirrung Platz. Heißer Atem strich über Arthurs Lippen.
Verdammt.
Kai schien zu zögern. Er war so nah, nur Zentimeter entfernt und er zögerte. Warum, verdammt?
Tu es, schrie Arthurs Hirn. Kai blinzelte. Biss sich auf die Lippen.
Und kam näher.
Ein Vogel kreischte. Ohrenbetäubend laut. Kai wich zurück. Sie stoben auseinander, dass die Blätter raschelten.
»Ha, ganz schön schwach«, versuchte Arthur, die Situation zu retten.
»Wollte dir nur ’ne Chance geben, Weichei.« Kais Stimme war rauer denn je.
Verdammt, was war da gerade passiert? Hatte Kai versucht, ihn zu küssen? Hatte Arthur mit angehaltenem Atem darauf gewartet, dass er es tat … Oder war das nur ein Missverständnis gewesen?
Den Rest des Weges gingen sie getrennt. Eigentlich hätte Arthur gern wieder Kais Hand gehalten. Aber er traute sich nicht, danach zu fragen.
Endlich waren sie da.
Kai räusperte sich und kratzte seinen Bauch.
»Wie findest du es?«, fragte er. Arthur war zu überwältigt, um zu antworten.
In der Mitte der Lichtung, überwuchert von Moos, erhob sich eine Steinmauer. Eine einzige Wand, uralt, mit einem gotisch schmalen Fenster in der Mitte. Fünf Meter hoch vielleicht. Die Nachmittagssonne zauberte goldenes Licht auf ihre Spitze. Arthur machte einen Schritt darauf zu und ein Schwarm Vögel stob auf.
»Gefällt’s dir?«, fragte Kai. Seine Stimme klang gepresst, als ob es ihm wirklich wichtig wäre. Arthur wirbelte zu ihm herum.
»Ja.« Er spürte das Lächeln auf seinem Gesicht. Ein ziemlich dümmliches Lächeln wahrscheinlich. Aber es fühlte sich an, als hätte Kai ihm ein Geschenk gemacht und das war das schönste Gefühl von allen. »Ja, total. Was ist das?«
»Keine Ahnung.« Kai schien erleichtert. »Aber ich hab’s gefunden. Als ich noch klein war.«
»Sieht aus wie ein altes Kloster. Oder … hm.« Arthur wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Kai endlich wieder seine Hand nahm.
»Hier lang.« Er stieg durch die verrosteten Gitterstäbe, die das verfallene Gebäude umgaben, bahnte sich einen Weg durch die Farne und benutzte die breiten Ziegelsteine als Treppe, um die Mauer zu erklimmen. Arthur hätte sich fürchten müssen. Sie stiegen immer höher über die bröckeligen Steine, und die waren kaum einen halben Meter breit. Kein vertrauenerweckender Weg. Aber Kais Hand gab ihm Sicherheit.
Als sie oben standen, wurde ihm doch ein wenig schwindlig. Von hier sieht es höher aus, dachte er, als er den braungrauen Blätterboden weit unten betrachtete. Aber sofort wurde er von Kai abgelenkt, der einen Schrei ausstieß. Wie eben, nur noch durchdringender. Arthur wäre fast abgestürzt. Er prustete los, als er kapierte, was Kai tat. Dann fiel er in das Gebrüll mit ein.
Rings um sie stoben Vögel auf. Aus jedem Baum erhob sich ein Schwarm, bis die Luft von ihren Flügelschlägen erfüllt war. Kleine, große, dunkle, helle Federn wirbelten durch den Himmel. Arthur merkte erst, dass er lachte, als er keine Luft mehr bekam. Und immer noch fühlte er den sicheren Griff von Kais Hand. Arthur stand auf der bestimmt einsturzgefährdeten, viel zu hohen Mauer, ohne auch nur einen Funken Angst zu verspüren.
Kai starrte ihn an.
»Was?«, fragte Arthur. Hatte er etwas falsch gemacht?
»Nichts.« Kai sah zu Boden. Seine Finger verkrampften sich. Sein Mund öffnete sich, aber nichts drang heraus. Der sanfte Wind, inzwischen Abendwind, spielte mit den chaotischen Haaren. Er war … schön. Doch, das war er. Arthur hätte sich ohrfeigen können für diesen Gedanken, aber es stimmte einfach.
»Meinst du, man kann es lernen?«, fragte Arthur.
»Was?« Kai sah ihn verwirrt an.
»Na … küssen.« Arthurs Herzschlag drohte, seinen Brustkorb zu sprengen. Aber die Worte purzelten ihm aus dem Mund, ob er wollte oder nicht. »Meinst du, man kann das üben?«
»Äh … bestimmt.« Kai runzelte die Stirn. »Kann man nicht alles lernen?«
Verdammt, warum war der so schwer von Begriff?
»Ja, also … magst du?«, fragte Arthur und hielt den Atem an. Betete zu allem, was er kannte, dass das nicht der peinlichste Moment seines Lebens werden würde.
Kai blinzelte. Von einem Moment zum nächsten war sein Gesicht dunkelrot, bis zum Ausschnitt des fadenscheinigen Shirts. Mist, Mist, Mist, das …
»Ja«, krächzte er. »Ja, ich … Wir können das ja mal probieren. So als Übung.«
»Schaden kann es nicht, oder?«, murmelte Arthur, der innerlich schmolz. Kai zuckte lässig mit den Achseln und wäre fast rückwärts von der Mauer gefallen. Gut, dass sie sich immer noch an den Händen hielten.
»Äh.« Kai machte einen Schritt auf ihn zu. Mit einem Mal waren sie sich sehr nah. »Wie …«
Arthur küsste ihn, bevor er weiterreden konnte. Er musste. Wenn das jetzt nicht … Oh, Mann. Kais Lippen waren weich, viel weicher, als sie aussahen. Und sie schmeckten nach … Vanille? Zimt? Irgendetwas Süßes, Gutes. Etwas, das im Mund prickelte.
Er löste sich von Kai. Wackelig sank er auf die moosbedeckten Steine. Oh Mann. So war das also. Er starrte in die dunklen Baumkronen und spürte Kais Anwesenheit neben sich. Sein erster Kuss. Mit Kai.
Der ließ sich neben ihm nieder. Seine langen Beine baumelten über die Mauer. Er saß näher am Abgrund, als Arthur sich das je getraut hätte.
Die Vögel beruhigten sich. Langsam verschwanden sie in den Baumwipfeln, einer nach dem anderen. Die Stille kehrte zurück. Arthurs Herz schrie weiter. Er wollte gerade fragen, als Kai es aussprach.
»Nochmal?«
Arthur nickte.
Sie küssten sich auf den grün überwucherten Steinen, hoch über dem Boden. Lange. Bis die Sonne sank und Arthur zu frösteln begann. Die Schatten übernahmen den Wald und ihm wurde bewusst, dass sie eine Stunde von der Villa entfernt waren.
Doch der Rückweg war nicht so schlimm wie befürchtet. Klar sah der düsterblaue Wald aus wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Klar war es widerlich kühl und feucht. Aber Kais Hand lag in seiner und, na ja, sie lenkten sich ab. Mit Küssen. Immer wieder trafen ihre Lippen sich. Immer wieder hielten sie an, um es nochmal zu probieren. Jedes Mal schmeckte Kai besser.
Als die Lichter der Villa durch die Baumstämme glühten, waren sie schon halbe Profis. Aber das hielt sie nicht davon ab, weiter zu üben, sobald Kais Vater abgefahren war. Am nächsten Morgen waren ihre Lippen fast wund.
Frau Montag brachte das Frühstück und sah Kai dabei an, als wäre er eine eiternde Pestbeule. Er schien es kaum zu bemerken. Sobald sie wussten, dass niemand sie beobachtete, probierten sie aus, wie es sich anfühlte, nachdem sie heißen Kaffee getrunken hatten. Nachdem sie kalten Orangensaft getrunken hatten. Nach Marmelade und nach Honig und nach luftgetrockneter Salami. Ja, es waren die besten Tage, die Arthur je gekannt hatte.
Sie endeten schnell.