Kitabı oku: «Das Monster im 5. Stock», sayfa 3

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5. Freundliche Übernahme

Wie verdammt peinlich war das denn gewesen? Wastl stöhnte leise. Der Aufzug surrte. Um diesen grauenvollen Moment zu verkraften, gönnte er sich den Luxus, nach unten zu fahren statt zu laufen. Außerdem fühlten seine Beine sich wie Weißwürste an.

Mal sehen, dachte er. War das jetzt peinlicher als damals, als ich auf Luzias sechstem Geburtstag so lachen musste, dass ich mich eingepullert habe oder nicht?

Er sortierte den Kuss schließlich auf Rang drei der peinlichsten Momente seines Lebens ein, knapp unter dem ersten und schlechtesten Blowjob, den er je gegeben hatte. Der Pfarrer hatte vor Schmerzen geschrien.

Aber es hatte wirklich so ausgesehen, als ob Adrian sich vorgebeugt hätte, um … Na gut, warum hätte er ihn küssen sollen? Nichts an der Situation hatte darauf hingedeutet. Es war nun echt kein romantisches Frühstück gewesen. Wieso hatte er gedacht, dass …

Weil du untervögelt bist. Darum, Wastl. Und weil dieser blöde Adrian aussieht wie ein düsterer Graf oder so.

Wie der aus dem Schlafzimmer gestürmt war. In seinem schwarzglänzenden Schlafanzug, den die Muskeln fast gesprengt hatten. Was der Adrian wohl trainierte? Seine dunklen Haare waren noch zerzaust vom Schlaf gewesen und der Pyjamastoff war zwar edel, aber nicht besonders dick, und … Nun, Wastl glaubte ganz sicher, unter einer der glänzenden Falten Adrians … Johannes gesehen zu haben.

Du bist kein Kind mehr, Wastl. Du hast seinen Schwanz gesehen. Na, den Abdruck von Adrians Schwanz und der sah ganz schön, also schön aus. Nicht ungroß …

»Servus, Wastl!«, brüllte Vroni ihm in die Fresse und er sprang rückwärts.

»I hab nichts gedacht!«, rief er und hob die Hände. »Ich meine, Servus, Vroni. G-gut siehst du aus.«

»Tja, du nicht so, Blondchen.« Sie schaute mitleidig. Heute trug sie einen lilafarbenen Umhang, in den Perlen und Spiegel eingearbeitet waren. Er wirkte, als hätte sie darunter einen Zauberstab, einen Zylinder und mehrere weiße Tauben versteckt. »Also gut siehst du immer aus, aber du schaust, als hättest du kaum geschlafen.«

»Hab ich auch nicht.« Er sah sich um. Blitzschnell erfasste er, dass der Aufzug unten hielt, wo Vroni und zwei seiner Kollegen einstiegen. Er musste vergessen haben, den Knopf für den 3. Stock zu drücken. »Äh, ich war in der Tiefgarage, eine rauchen.«

»Du rauchst? Das hätt ich ja nicht von dir gedacht, Blondchen.«

»Ich hör vielleicht wieder auf«, sagte er. Würde Rauchen ihn männlicher wirken lassen? Oder wäre das nur ein weiterer Grund für seine Kolleginnen, sich um ihn zu sorgen und ihn wie ein Kleinkind zu behandeln?

»Gut so.« Sie holte aus, um ihm über die Haare zu streichen, und er wich zurück. »Mensch, Kleiner, du bist ja schreckhaft heute.«

»Ich bin kein Bübel«, sagte er und schaute männlich und würdevoll. »Hör auf, mir über die Haare zu streichen und mich Kleiner zu nennen.«

»Ach, Kleiner, du bist witzig heute.« Sie lachte meckernd. »Gut, dass du hier angefangen hast. Die anderen Mädels sind solche Schnarchnasen.«

Er schluckte den erneuten Misserfolg hinunter und trottete ihr hinterher ins Büro. »Servus, Blondchen«, schallte es ihm entgegen.

Die Arbeit war nicht einfach. Wastl hatte sich weder in der Schule noch in der Ausbildung durch besondere Brillanz hervorgetan und die Einarbeitung dauerte nun schon vier Wochen. Aber so langsam hatte er das Gefühl, Vronis System zu durchschauen. Bald zumindest. Weit weniger leicht zu verkraften waren die Mails, die stetig hereintröpfelten.

Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen …

Leider haben wir uns für einen anderen Mieter entschieden …

Wir können Ihnen die Bewerbungsmappe leider nicht zurücksenden …

Er war obdachlos. Immer noch. In der Mittagspause war wie üblich eine Besichtigung, aber selbst wenn er die Wohnung bekam, würde er irgendwie ein paar Wochen überbrücken müssen. Wie? Einen Kredit aufnehmen und zurück ins Hostel? Wieder versuchen, im Büro zu pennen? Irgendwo putzten sie vielleicht nicht. Vroni beschwerte sich doch immer über deren Schlampigkeit, andererseits beschwerte die sich über alles.

Da kann ich ja gleich bei Adrian klingeln und ihn bitten, mich zu nehmen … mich aufzunehmen. Aufzunehmen. Obwohl, gegen das andere hätte ich auch nichts. Also, recht wenig. Ich meine, er ist nicht gerade nett gewesen, aber … geil, irgendwie.

Wie der seinen Pyjama aufgeknöpft hatte, warum auch immer. Wie er Stück für Stück seiner vernarbten Haut enthüllt hatte … Der Mann sah aus wie ein wildes Tier. Ein Tiger mit Narben statt Streifen. Ein … Wastl räusperte sich und hoffte, dass man ihm seine Gedanken nicht ansah. In seiner Hose wurde es eng. Unauffällig rückte er seinen Schwanz in eine bequemere Position. Verdammt, er war so notgeil. Wenn er endlich ein Dach über dem Kopf hatte, würde er losziehen. Jeden Abend würde er einen anderen Mann haben. Richtige Männer, die dazu standen, was sie waren. Männer mit harten Muskeln oder weichen Bäuchen, ganz egal. Aber echte Kerle. So wie der Dachdecker-Klaus, der eine aktive Rolle in Wastls Phantasien spielte, seit er dreizehn gewesen war. Oder wie dieser Adrian … Wie war sein Nachname eigentlich?

Ich sollte ihn fragen … Ach nein, ich sehe ihn ja nie wieder. Obwohl er nur zwei Stockwerke über meinem Kopf wohnt. Was er wohl gerade macht? Bei all den Muskeln trainiert er bestimmt. Ob er einen eigenen Trainingsraum hat? Ob er da grad auf der Bank liegt und Hanteln stemmt, so fest, dass ihm der Schweiß die Arme hinunterläuft?

Jeder Tropfen würde durch eine der langen Vertiefungen zwischen den prallen Muskeln rinnen wie Gebirgsbäche durch harte … sehr harte Felsspalten.

Wastl schreckte hoch. Er hatte bestimmt eine Minute Arbeitszeit mit Erotikfantasien verplempert! Wenn das die Vroni merkte, hätte er bald keinen Job mehr … Andererseits redete die immer noch mit der Sybille. Und zwar nicht über die Arbeit, das bekam die ganze Abteilung mit.

»Ich sag dir, es ist unmöglich, einen ordentlichen Handwerker zu finden. Was der mit der Dusche gemacht hat …« Vroni schnaubte.

Richtig, duschen musste Adrian auch, nach dem ganzen Sport. Sein Haar würde glänzen wie nasse Federn, wenn das Wasser darauf prasselte. Und es würde ihm aus den Strähnen laufen, über den V-förmigen Rücken bis zwischen die Arschbacken …

Wastl seufzte leise.

Wie duschte man überhaupt, mit nur einem Bein? Es hatte ausgesehen, als wäre das Bein bis zum Knie noch da, aber stehen konnte Adrian darauf nicht. Ließ er die Prothese an? Hatte er sogar eine spezielle Dusch-Prothese? Oder hielt er sich einfach so aufrecht? Es wäre bestimmt viel leichter, wenn er Hilfe dabei hätte. Jemanden, der ihn stützte. Wastl zum Beispiel.

Das sollte ich ihm vorschlagen, überlegte er. Dann lässt er mich bestimmt ein paar Tage bei sich wohnen.

Wahrscheinlich nicht. Dieser Adrian war ein ganz Schicker. Einer aus solchen Kreisen, einer, der Geld zum Arsch abwischen hatte, würde sich ja nicht mit einem wie Wastl einlassen, oder? Also, wenn er überhaupt schwul war.

Nicht, dass ich das wollte, dachte Wastl. Der war ein Arschkopf. So arschköpfig, dass er mit mir geflirtet hat und dann ganz geschockt war, als ich ihn geküsst habe. Eigentlich müsste das nicht mir peinlich sein, sondern ihm. Jawohl. So benimmt man sich einfach nicht. Erst langsam Hemd aufknöpfen und rüberbeugen und dann geschockt tun.

Seine Wangen brannten und er lenkte sich schnell mit Arbeit ab. Wie es schien, war er der Einzige in der Abteilung.

***

Nur drei andere waren bei der Mittagsbesichtigung. Endlich mal Glück. Wastl lächelte die mageren Bartträger an, die hier wohnten. Der, der bleiben würde, lächelte sogar zurück. Der andere nicht.

»Joa, schaut euch mal das Zimmer an«, murrte er und schlurfte voraus. Es war eine gute Wohnung. Nicht hübsch, aber sauber. Alle Zimmer hatten eine Heizung und eine frische Raufasertapete. Auch das, das der Bärtige öffnete. Es war komplett mit alten Ikea-Möbeln eingerichtet und ging auf die Straße raus. Wastl hörte Hupen von draußen. Die ganze Bude roch nach Katzenstreu. Die dazugehörige Katze war Wastl schon ein paarmal um die Beine gestrichen und hatte ihr halbes Fell auf dem Stoff verteilt. Er sah aus, als wäre er durch Schnee gewatet.

»Schönes Zimmer«, sagte Wastl und die Frau neben ihm stimmte zu.

»Ja, super.« Ein Rothaariger musterte das weiße Bücherregal und den Schreibtisch, von dem der Lack abblätterte. »Was kostet es nochmal?«

»800 kalt«, schnarrte der Bärtige. »Eigentlich 720, aber weil Karl sich um den ganzen Mietkram kümmert, wird aufgerundet. Kaution also 2400. Nebenkosten müsst ich nachgucken.«

»Ist ja auch egal«, sagte der Rothaarige hastig. Der Bärtige klopfte auf den Schreibtisch. »Das Ding bleibt drin. Na, eigentlich bleibt alles drin, nur die Lampe nicht. Ich zieh zu meiner Freundin, die hat schon ’ne komplett eingerichtete Bude. Wer will, kann was davon abkaufen.«

Er schaute auffordernd, und der Rothaarige reagierte sofort.

»Ja, klar, äh … Ich würd auf jeden Fall das Regal übernehmen. Was willst du dafür?«

»120.« Der Bärtige zuckte mit den Achseln. »Das hat’s mich auch gekostet. Der Schreibtisch kostet 200, der Teppich 470, das Bett 320 und die Matratze noch mal 270, das ist Kaltschaum, wisst ihr, und der Nachttisch …«

Kopfrechnen konnte Wastl immerhin. Als der Bärtige fertig war, kam er auf 3100 Euro für alles. Viel zu viel. Selbst der Rothaarige, der anfangs noch tapfer genickt hatte, war erbleicht.

»Ich sag mal so«, der Bärtige verschränkte die Arme vor der Brust, »wenn mir einer von euch zusichert, dass er das alles übernimmt, kann er das Zimmer haben.«

Wastl wollte ihm eine reinhauen. Noch mehr, als die Frau neben ihm das Handy zückte und ihren Vater anrief. Er hörte ihre Stimme hinter sich, als sie versicherte, dass sie das Geld ganz bestimmt brauchte und dass Wohnraum in München nun mal teuer war.

Etwas schnurrte an seinem Fuß. Ein weißes Gesicht sah zu ihm auf.

»Und die Katze?«, fragte er den Bärtigen. »Verkaufst die auch?«

»Das Miststück kannst geschenkt haben. Die ist von meiner Ex. Hat meiner Neuen in die Schuhe gepisst, als sie das erste Mal hier war, das Drecksvieh.« Er trat nach der Katze, aber sie wich elegant aus.

»Dann bleibt sie hier?«

»Hier? Ne, der Karl würd mir was husten. Die setz ich aus.«

»Was?!« War das ein Witz?

»Na, die kommt schon klar. Gibt ja genug Ratten da draußen.« Er verrenkte sich den Hals, um nach der Frau zu sehen, die immer noch telefonierte. Die Katze schaute zu Wastl hoch, als wollte sie ihn verspeisen.

»Die ist ganz schön mager«, sagte er. »Sicher, dass die es schafft, eine Ratte zu fangen? Und nicht unter die Räder zu kommen?«

»Interessiert mich nicht«, raunzte der Bärtige und winkte der Frau. »Na, entschieden?«

»Moment noch«, flüsterte sie.

»Hör mal, es ist fast Winter«, sagte Wastl. »Die Katze erfriert da draußen.«

»Was bist du, der Tierschutzbund?« Der Bärtige verdrehte die Augen. »Wenn du das Zimmer nicht willst, kann ich dir den Ausgang zeigen.«

»Du kannst mich am Arsch lecken, du Tierquäler.« Wastl verschränkte die Arme.

6. Ruhe und Frieden und Langeweile

Es juckte ihn in den Fingern, Frederik anzurufen. Sich zu erkundigen, wer dieser Sebastian war, der seit neuestem im Verlag arbeitete. Aber Adrian wäre sich albern vorgekommen. Kaum war die Tür hinter dem Störenfried zugeklappt, hatte er seine übliche Tagesroutine begonnen. Zwei Stunden Training, nach dem ihm jeder einzelne Muskel brannte, Sauna, Dusche, anziehen, Büro, die Aktien checken, Nachrichten schauen, Überweisungen tätigen und sich langweilen.

Spätestens am Nachmittag wünschte er sich, wieder einer geregelten Arbeit nachzugehen. Aber natürlich ging das nicht. Er hatte keine Lust, angestarrt zu werden, und außerdem verdiente er es einfach nicht. Also pflanzte er sich vor die Leinwand, schaltete den Beamer ein und sah acht Folgen einer Dokumentation über Amundsens Fram-Expedition. Wie immer notierte er sich Dinge, die er nie brauchen würde. Sein Ideen-Dokument war inzwischen 283 Seiten lang. Früher war es selten über zehn hinausgekommen. Jeden Tag hatte er Neues ausprobiert, Ideen angewandt und wieder verworfen, in der Datenbank nach passenden Manuskripten gesucht … Aber nun steckte er fest. In den immer gleichen Tagen, die sich bis in die Unendlichkeit wiederholten. Nur manchmal wurde die Routine unterbrochen, wenn etwas repariert werden musste. Wenn es ein Gewitter gab. Oder wenn ein wahnsinniges Landei hier einbrach und ihn küsste. Das Landei war also schwul. Wahrscheinlich. Hatte er das nur getan, weil er hoffte, dass er dann hier wohnen könnte? Beides, vermutlich. Adrian würde es nie herausfinden, also dachte er nicht weiter darüber nach.

Gegen vier rief seine Mutter an.

»Liebling, kannst du uns ein paar tausend überweisen? Zehntausend, am besten. Papa war wieder im Casino.«

»Nein«, sagte Adrian und wartete das übliche Gewitter ab. Es enttäuschte nicht. Er wurde als undankbar, geizig und stur beschimpft.

»Wenn das dein Großvater sehen könnte! Schämen solltest du dich, deine Eltern so kurzzuhalten. Jetzt, wo du das ganze Geld hast, kommt dein wahres Gesicht zum Vorschein!«

»Ihr hattet genug Geld«, sagte er, schon wieder. »Wir haben jeder unseren Anteil bekommen, als Opa gestorben ist. Ihr habt es halt verprasst und ich nicht.«

»Du Lügner! Du hast deinen Großvater überredet, deinen armen Opa, als er auf dem Sterbebett lag und überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig war, dass er …« Ihre Stimme schrillte in seiner Ohrmuschel und prallte durch den Schädel.

»Mama, er war verdammt zurechnungsfähig. Das zeigt sich schon daran, dass er den Verlag mir überschrieben hat und nicht euch.«

»Geizkragen!«

»Mach’s gut, Mama.« Er legte auf und schaltete das Handy aus. Mit der Frau war nicht zu reden, wenn sie wütend war. Ohne es zu wollen, war er in sein Büro hinübergewandert, wo das silbern gerahmte Familienporträt auf dem Schreibtisch stand. Oma, Opa, seine Eltern und er als Kind, na, Jugendlicher. Er musste ungefähr zwölf gewesen sein.

»Du eingebildeter Idiot«, knurrte er, als er sein eigenes, überhebliches Lächeln sah. Er hatte sich für den König der Welt gehalten. Reich, groß und gutaussehend. Und komplett frei von der Ungeschicktheit und Verschämtheit, die seine Klassenkameraden mit der Pubertät überfallen hatten. Nur Max war genauso selbstbewusst gewesen wie er. Kein Wunder, dass sie Freunde geworden waren. Sie hätten sonst Feinde sein müssen und das wäre ein Jammer gewesen.

Max’ Bilder bedeckten die Wände und bedeuteten so viel mehr. Er betrachtete das nächste. Lachend standen sie beide da, locker an den schwarzen Jaguar gelehnt, den er kurz nach der Wohnung gekauft hatte. Max’ blonde Haare leuchteten wie Blattgold. Fast ein bisschen wie die von diesem Sebastian. Wobei der eher nach Weizenfeld aussah. Und nach Stroh und Kuhscheiße. Ein ganz anderer Typ, obwohl sie sich ein wenig ähnlich sahen, wenn man die Augen zukniff. Doch ein adliger Goldjunge wie Max und ein naives Landei wie (Adrian schauderte) »Wastl« hatten nichts gemeinsam.

»Es tut mir leid«, sagte er, aber Max hörte ihn natürlich nicht. Adrians Mund schmeckte nach Eisen, als er die Bürotür hinter sich zuzog. Er hatte noch ein paar Stunden totzuschlagen, bevor er endlich schlafen gehen konnte. Was tun? Die Dokumentation war beendet. Heute Mittag war eine Lieferung Bücher gekommen, also sah es ganz nach Lesen aus. Er durchwühlte das Paket und hoffte auf etwas Deprimierendes, fand aber nichts. Frederik hatte sich komplett auf fluffige Romanzen verlegt. An sich keine schlechte Idee, doch sie waren so sehr nach Muster A gestrickt, dass Adrian jeden Satz erriet, bevor er ihn las.

Was interessiere ich mich überhaupt dafür?, dachte er. Das ist vorbei.

Er ließ die Bücher zurück ins Paket fallen und holte sich einen schön schweren, traurigen Wälzer aus dem Bücherregal. Die Seitenränder waren dunkel, weil er ihn so oft gelesen hatte. Er legte sich auf das Sofa und schlug die erste Seite auf.

»Es waren fünf Brüder«, las er. »Wladislav, Morislav, Mischka, Ludwig und Grigori. Drei von ihnen starben schon im frühesten Kindesalter. Kurz darauf starb ihre Mutter.«

Oh ja, das ist das Richtige, dachte er und sehnte die Stelle herbei, in der Grigoris Verlobte an Schwindsucht starb, während er sich in einem Hinterhof prostituierte, um ihr ein Stück Brot zu schenken.

Es klopfte an der Tür. Laut und hart.

»Polizei!«, donnerte eine dunkle Stimme. »Aufmachen, sofort!«

Adrian wandte den Kopf. »Was ist denn?«, rief er.

»Aufmachen! Sofort!«

Seufzend erhob er sich und hinkte zur Tür. Das Klopfen wurde noch lauter. Er wunderte sich, dass die Tür sich nicht durchbog.

»Das ist Ihre letzte Warnung!«

»Ja, ja, aber kriegen Sie keinen Schreck, wenn Sie mich sehen«, knurrte er und drückte die Türklinke hinunter.

Sebastian schoss so schnell an ihm vorbei, dass Adrian sich beinahe hinlegte. Auf Sebastians Rücken hüpfte sein alter Rucksack und in seinen Armen miaute ein weißes Fellbündel.

»Hör mir zu!«, rief das Landei. Seine Augen waren panisch aufgerissen. »Bitte hör mir zu! Ich habe einen Vorschlag! Bitte!«

»Interessiert mich nicht!«, brüllte Adrian. »Raus hier, sofort!«

Was zur Hölle machte der kleine Scheißer hier?

»Aber ich habe wirklich einen Vorschlag … Hey!« Das weiße Bündel sprang aus Sebastians Armen und entpuppte sich als schäbige Katze. Wie ein bleicher Blitz preschte sie durch die Wohnung und verschwand in der Küche. »Prinzessin Butterfliege!«

»Was ist das denn für ein bescheuerter Name … Was willst du hier, Sebastian?« Adrian packte ihn am Kragen, damit der Trottel ihn ansah. »Warum dringst du schon zum zweiten Mal unbefugt in meine Wohnung ein? Und was soll der Scheiß mit der Polizei?«

»Ich dacht, dann machst du eher auf, als wenn ich sag, dass ich es bin.« Panisch sah Sebastian der Katze nach. Nun, immerhin war er kein völliger Trottel.

»Gut, das hat funktioniert. Und jetzt hol dein Fellbündel und hau ab.«

»Aber …«

»Dein Vorschlag interessiert mich nicht. Pack die Katze und verschwinde.«

»Aber …« Sebastian seufzte. »Prinzessin Butterfliege! Komm her!«

Die Mieze kam nicht. Natürlich nicht. Wäre Adrian eine Katze gewesen, hätte er auch nicht auf diesen Vollpfosten gehört. Der rief nach ihr, bis er heiser war. Schließlich streifte er mit einem dämlichen Gesichtsausdruck die Schuhe ab und tapste in die Küche.

»Ich kann sie nicht finden«, sagte er nach einigen Minuten.

»Was?« Adrian verließ seinen Posten an der Tür, um sich zu dem Landei zu gesellen. »Wieso kannst du sie nicht finden? Wie soll eine Katze denn in dieser Küche verschwinden?«

»Ich weiß nicht.« Sebastian schaute auf. Sämtliche Töpfe und Teller lagen auf dem Boden, die Türen waren aufgeklappt und die Hälfte der Regalbretter leer.

»Und wie hast du es geschafft, die Küche in drei Minuten in so einen Saustall zu verwandeln? Schon wieder. Weißt du, wie lange ich heute gebraucht habe, bis es wieder ordentlich aussah?«

»Ach, stimmt, ich habe das Frühstück gar nicht weggeräumt.«

»Das Frühstück, das beinahe die halbe Wohnung abgeflämmt hätte.« Adrian atmete tief ein. »Gut, verschwinde halt ohne Katze. Ich werde sie schon alleine finden.«

»Und dann?« Eine Furche erschien zwischen Sebastians Augenbrauen. »Was tust du dann?«

»Dann schmeiße ich sie raus. Was hast du denn gedacht?«

»Das darfst du nicht. Bitte.« Flehende Kuhaugen sahen zu ihm auf. »Ich hab sie eben erst vor ihrem letzten Besitzer gerettet, der wollte sie auch aussetzen.«

»Und dann hast du sie zu mir geschleppt? Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum.«

»Na, erst hatte ich sie im Büro. Aber die Vroni hat eine Katzenhaarallergie und meinte, ich soll das Vieh bloß bis morgen woanders untergebracht haben.«

»Hier?!« Adrian betrachtete den kleinen Psycho. »Ich habe wohl den Moment verpasst, in dem wir so unglaublich dicke Freunde geworden sind, dass du deinen Flohsack hier lassen kannst. War das bevor oder nachdem du hier eingebrochen bist?«

»Mann, Adrian.« Sebastian ließ den Kopf hängen. »Es tut mir echt leid. So war das nicht geplant, nur … Ich wollt nur mit dir reden. Ich hatte doch eine Idee.«

»Mir graust vor deinen Ideen.«

»Aber die ist echt gut.« Ein schüchternes Lächeln. »Ich koch für dich und du lässt mich ein paar Tage hier wohnen. Was sagst du? Mein Frühstück hat dir doch geschmeckt.«

»Nein.«

»Aber ich hab schon eingekauft. Die Tüten stehen vor der Tür.«

Adrian wusste, dass es ein Fehler war, doch er fragte trotzdem. »Und was ist in diesen Tüten?«

»Alles für Schweinshaxe mit Dunkelbiersoße und Knödeln«, sagte Sebastian. »Nach dem Rezept von meiner Mutter. Ist echt lecker, ich versprech’s.«

Ohne es zu wissen, hatte er Adrians einzigen Schwachpunkt getroffen. Bilder stiegen in ihm auf, Bilder von früher. Wie er mit Oma und Opa im Brauhaus gesessen hatte, eine saftige Haxe auf dem Teller und ein Lächeln im Gesicht. Der würzige Duft der Soße und die Art, wie die zarten Knödel sich auf der Zunge verformten, krochen seine Gehirnwindungen hoch.

Adrian atmete tief ein. »Du kannst bis morgen früh bleiben. Und nur, wenn die Schweinshaxe ausgezeichnet ist.«

»Ja!« Sebastian reckte die Faust in die Luft. »Das wirst du nicht bereuen!«

Adrian bereute es schon in dem Moment, in dem er ein leises Miauen hinter der Spülmaschine vernahm.

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