Kitabı oku: «Der Niedergang der Kirchen», sayfa 2

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Fakten, Fakten, Fakten. Und sie nützen gar nichts 11

Die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland sinkt bis zum Jahre 2060 um 49 Prozent auf 22,7 Millionen. So heißt es in einer Studie der Universität Freiburg. Kirchenaustritte, weniger Taufen sowie eine alternde Bevölkerung sind die Hauptgründe. Schon 2035 werden 10 Millionen Kirchenmitglieder verschwunden sein: Zu rechnen ist mit 34,8 Millionen Menschen, die dann offiziell Mitglieder der Kirchen sind. Im Osten Deutschlands werden nur noch 1,5 Millionen Menschen zu einer der beiden Kirchen gehören. Heute sind es immerhin noch rund 2,8 Millionen Christen, die jeden Sonntag Gottesdienste besuchen – das sind mehr als jedes Wochenende in die Stadien der ersten und zweiten Bundesliga gehen.12 Aber es ist eben ein Bruchteil der über 80 Millionen Menschen, die in Deutschland leben. Zuwanderungen aus dem katholischen Osten Europas mildern in der katholischen Kirche die Krise etwas ab. Die Austritte indessen stehen eindeutig auch im Zusammenhang mit aktuellen Ereignissen – wie etwa den Enthüllungen über den Missbrauch von Kindern durch Geistliche.

„Für mich ist die Studie auch ein Aufruf zur Mission“, kommentiert Kardinal Marx in einer Stellungnahme der deutschen Bischofskonferenz.13 „Überall in Deutschland haben sich Christinnen und Christen auf den Weg gemacht, die Ausstrahlungskraft unserer Kirche für die Zukunft so nachhaltig wie möglich zu stärken. Und das ist keine Frage der Mitgliedschaftszahlen. Die vielen Millionen Menschen, die sich in unseren Gemeinden und diakonischen Einrichtungen aus Freiheit und nicht aus gesellschaftlicher Konvention engagieren, sind schon heute die besten Botschafter der Kirchen von morgen“, sagt Landesbischof Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der EKD, im Angesicht der desaströsen Zahlen.

Der Kardinal nimmt immerhin die heute schon fast peinliche Vokabel ‚Mission‘ in den Mund. Der Landesbischof dagegen greift zur beliebten Plastikvokabel ‚nachhaltig‘. Das ist inzwischen ein nichtssagendes, geschmacksfreies Füllwort, das vielleicht das theologische Sodbrennen mildert, aber es bleibt ein leeres Wort.

Klingt es nicht wie eine Beschwörung? Die Mitgliedschaftszahlen sind nicht relevant, sagt der Landesbischof, um im nächsten Satz die „vielen Millionen Menschen“ in die Waagschale zu werfen, die „Botschafter der Kirche“ von morgen sein sollen. Also irgendwie denn doch auch Missionare? Gemeint ist da wohl die ehrenamtliche Arbeit, das vielfältige Engagement in den Gemeinden. Man darf zweifeln, ob die so Bezeichneten sich selbst als „Botschafter der Kirche“ verstehen. Und ob sie von anderen so – als Botschafter der Kirche – wahrgenommen werden, das dürfte auch fraglich sein. Worte, die wie ein Wundspray auf den Schwären einer schwer geschlagenen Kirche wirken. Ich denke an Jonathan H., um die 50, Ingenieur in einer ländlichen Gegend Hessens. Er hat sich vom Pfarrer, mit dem er befreundet ist, dazu überreden lassen, im Kirchenvorstand mitzuarbeiten. Er macht es, und er macht es engagiert. Aber mit schlechtem Gewissen, weil er das Gefühl hat, mit dem fromm-theologischen Überbau eigentlich nichts zu tun zu haben. Die Praxis: ja. Nächstenliebe: ja. Aber als ‚gläubig‘ würde er sich vermutlich nicht bezeichnen. Muss er sich als agnostischer Agent im Schoß der Kirche sehen, der verbirgt, was er wirklich denkt und glaubt? Eher ist er vermutlich der Vertreter eines postreligiösen Christentums, dem die ganze theologische Dogmatik schnurzegal ist. Dietrich Bonhoeffer würde das vielleicht als das ansehen, was die alte Kirche ablöst. Er hat vom nichtreligiösen Christsein gesprochen. Und ich denke, die ehrenamtliche Arbeit unter dem Dach der offiziellen Kirche hat heute in den meisten Fällen diese Färbung. Die Bindung an das, was der ‚Glaube der Kirche‘ war, ist eher locker, eher ein Moment der Unbehaglichkeit. Mit etwas schlechtem Gewissen und peinlich berührt schaut man angestrengt an diesen Glaubenstatsachen vorbei. Ob sich diese Menschen als Botschafter der Kirche verstehen? Man darf zweifeln. Der Versuch des Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm, sie kurzerhand zu Gläubigen zu machen, mag ihn beruhigen, weil dann wieder mehr Menschen da sind, als der sonntägliche Leergottesdienst vermuten lässt. „Überall in Deutschland haben sich Christinnen und Christen auf den Weg gemacht, die Ausstrahlungskraft unserer Kirche für die Zukunft so nachhaltig wie möglich zu stärken“ – das ist doch eher Wunschdenken. Und es ist wohl auch die falsche Richtung.

Sichtbar wird diese machtlose Kirche, wenn sie zum Spiegel wird, in dem das Leid und die Freude anderer erkennbar werden. Dann werden auch die alten brüchigen, verblassten Formen kirchlichen Lebens wieder lebendig. 2018 in Den Haag, in den Niederlanden: Die Gemeinde feiert Gottesdienst, und zwar 29 Tage ohne Unterbrechung. Es wird gesungen, gebetet, gelesen, aus der Bibel zitiert, ohne Unterbrechung, Tag und Nacht. In der Gemeinde, in der ‚Bethel-Kapelle‘, wird versucht, die Abschiebung der armenischen Familie Tamrazyan zu verhindern, die neun Jahre zuvor in den Niederlanden angekommen war. Der Familienvater war als Angehöriger einer Oppositionspartei mit dem Tode bedroht. Der Grund für diesen Dauergottesdienst: In den Niederlanden ist es Polizisten verboten, einen Gottesdienst zu stören. Solange die Familie den Gottesdienst nicht verlässt, kann sie nicht abgeschoben werden.14 Mit einem Mal belebt sich der totgeglaubte Gottesdienst. Nicht sehr wahrscheinlich, dass sich die Menschen, die diesen Dauergottesdienst veranstaltet haben, als Botschafter der Kirche verstehen: Sie wollen die Abschiebung der Familie verhindern. Hier. Jetzt. Das ist Gottesdienst ohne kirchliche Selbsterhaltungsabsichten. Im Übrigen mündete dieser Gottesdienst darin, dass der armenischen Familie das Bleiberecht gewährt wurde. Und das Beispiel macht Schule.

Ich muss an das Labyrinth denken, von dem Charles Eisenstein, der amerikanische Klimaaktivist (er hat die Occupy-Bewegung angestoßen) erzählt. Er spricht von den hektischen fundamentalistischen Umweltengagierten – und seine Labyrinthgeschichte passt auch genau auf das Kirchenszenario: Es war einmal ein Mann, so Eisenstein, der sich in einem Labyrinth verloren hatte.15 Er versucht, den Weg hinaus zu finden. Und das gelingt ihm nicht. Er gerät in Panik. Er läuft nach rechts, er läuft nach links, nach rechts, nach links. Immer wieder rennt er in eine Sackgasse. Er ist kurz vor dem Verzweifeln. Aus dem aufregenden Abenteuer ist eine Falle geworden, in der er verloren zu gehen droht. Die Stimmen in seinem Kopf setzen ihm zu: „Lauf schneller, denk nach, sonst bist du verloren.“ Und daneben meldet sich manchmal eine leise Stimme, die ihm rät: „Halt ein! So kommst du nirgendwo hin. Bleib endlich stehen, renne nicht wie verrückt weiter.“ Die lauten Stimmen übertönen die leise Stimme. „Mach weiter!“ „Nur wenn du weiterrennst, hast du eine Chance. Bald werden deine Kräfte verzehrt sein. Ausruhen kannst du dich, wenn du es geschafft hast!“ Er bricht zusammen. Und nun hört er die leisen Stimmen. Und so kann er den Ausgang finden.

Kirchenkrisen sind ja nicht neu

Kirchenkrisen, die bis an den Rand des Zusammenbruchs führten, hat es in der langen Geschichte der Kirche schon gegeben. Prognosen lassen die Befürchtung aufkommen, dass es 2060 endgültig passiert sein könnte: dass ‚Kirche‘ aus dem öffentlichen Leben nahezu verschwunden ist. Noch einmal ein Blick in das Jahr 2060: Wenn die Mitgliederzahlen der Kirchen um die Hälfte geschrumpft sind, dann hat das verschiedene Gründe. Die meisten Babyboomer, also die 1950er und 60er-Jahrgänge vor dem Pillenknick, liegen zwar im Grab oder haben sich sonstwie bestatten lassen (Luft, Feuer, Wasser, Diamant). Viele von ihnen waren aus der Kirche ausgetreten, und ihre Kinder waren gar nicht erst drin. Nicht getauft. Und ohne Taufe keine Mitgliedschaft. Das jahrhundertealte kirchlich-theologische Dogma: „Außerhalb der Kirche kein Heil“, hatte endgültig seine furchterregende und einschüchternde Wirkung verloren. „Außerhalb der Kirche kein Heil“ (extra ecclesiam salus non est), das hatte Cyprian von Karthago im 3. Jahrhundert formuliert und die Kirche hatte es im 15. Jahrhundert zum Dogma erhoben: Dass niemand „außerhalb der katholischen Kirche – weder Heide noch Jude, noch Ungläubiger – des ewigen Lebens teilhaftig wird, vielmehr dem ewigen Feuer verfällt, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist.“ Wer das sagt, ist im Jahre 2060 nicht mehr nur ein Außenseiter, sondern dürfte womöglich als verrückt angesehen werden. Wer das früher, in den christlichen Jahrhunderten verkündete, musste missionieren, um die armen Seelen in der ganzen Welt zu retten – notfalls auch mit Gewalt. Aber schon lange gelingt es nicht mehr, die Menschen mit dieser Höllendrohung in Angst und Schrecken zu versetzen und sie so in die Kirche zu zwingen. Compelle intrare, ‚zwingt sie einzutreten‘, der Satz aus dem Lukasevangelium (14,21), war einmal benutzt worden, um Juden, Afrikaner, Chinesen und Indios – alle, alle zu taufen, auch mit Zwang, denn der Zwang würde sie ja vor dem ewigen Feuer retten. Das Dogma war die Manifestation des globalen Machtanspruchs der Kirche, die kein Außen duldete. Das Dogma und die Gewalt, die daraus entsprang, waren logische Folge des Anspruchs, allein und ausschließlich den Zugang zum Heil, zum Licht, zum Himmel zu garantieren. Solange die Kirche die Schlüssel zu den Pforten der Hölle und des Himmels in der Hand hielt, war ihre Macht über die Politik und ihr Einfluss auf die Seelen praktisch unbegrenzt. Aber dass die Kirche diese Schlüssel in der Hand hält, glauben heute nicht mehr viele Menschen. Dieser Anspruch auf die Weltherrschaft – und nichts anderes ist darin verborgen – wirkt im Kontext einer globalisierten Welt geradezu skurril, wenn nicht sogar größenwahnsinnig. Aber vielleicht hat das auch noch eine andere Seite: Heute kann in Europa eine Politik gemacht werden, die die Armen, die Flüchtlinge, die Hungernden einfach ausblendet. Und das hat damit zu tun, dass der christliche Grundkonsens, der immerhin als Forderung über uns schwebte, zerbrochen ist: Der Arme ist nicht mehr die Aufgabe dessen, dem es besser geht. Man schläft auch gut, vielleicht sogar besser ohne den christlichen Imperativ: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.

Im Jahr 2060 ist von dem gewohnten kirchlichen Einfluss auf Politik, Wissenschaft und Gesellschaft fast nichts mehr übrig. Stattdessen hat die Stunde der Ohnmacht für die Kirche geschlagen. Und dies bedeutet wiederum ein Doppeltes: Sie kann von nun an im Malstrom der Zeit spurlos verschwinden. Oder die neue Ohnmacht der Kirche wird zu der Chance, zurückzufinden zur ursprünglichen und eigentlichen Botschaft der Christen. Eine bescheidene und dennoch umstürzlerische Botschaft, die von einer Liebe spricht, die weder ‚Mann noch Weib, weder reich noch arm‘ kennt, wie es der spätberufene Apostel Paulus gesagt hat. Der himmelstürzende Satz des Paulus über seinen Gott, den er an die korinthische Gemeinde schreibt, lautet „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Darin liegt ein fundamentaler Widerspruch gegen die neue Apartheid, die die Gesellschaft heute formt und die sich bis zum Jahr 2060 noch vollständiger durchgesetzt haben dürfte: die Apartheid zwischen den Reichen und Armen, an der die untergehende Kirche nicht unschuldig ist. Die Kirche, die immer wieder mit Reichtum und Macht paktiert hat, sieht sich jetzt am Scheideweg: Entweder sie versucht, weiter mitzumischen. Das wird misslingen, denn Reichtum und Macht sind auf die Kirche nicht mehr angewiesen. Oder sie begreift, dass die Stunde der Marginalisierung geschlagen hat, in der sie auf Einfluss und auf die Macht, Gutes zu tun, verzichtet, um ihre Botschaft zu vertreten: Die Kirche ist konsequent auf der Seite der Schwachen. Getragen und durchtränkt von dem Mysterium, von dem zentralen Geheimnis: Gott ist Mensch geworden. Diese radikale und rebellische Botschaft ist die Grundlage kirchlicher Existenz und diese Skandalbotschaft ist in der Welt immer noch nicht angekommen: Diese Skandalbotschaft, die da lautet: Gott begegnet mir in jedem Obdachlosen, er begegnet mir in dem Hartz-IV-Empfänger, der zur ‚Tafel‘ kommt, und in dem Verzweifelten, der nicht mehr weiterweiß. Die Kirche befände sich, wenn sie sich so verstünde, in Opposition zum Planbarkeitswahn der digitalen Gesellschaft, im Widerspruch gegen die Algorithmisierung, die an die Stelle ethischer Reflexion getreten ist. Sie stünde verloren und doch gerettet auf der anderen Seite. Über diese neue, alte, ersehnte Kirche hat Ivan Illich schon 1967 geschrieben. „Wir werden dazu fähig, die Autonomie des Lächerlichen gegenüber dem Nützlichen zu betonen, des Unbegründeten gegenüber dem Zielbewussten, des Spontanen gegenüber dem Durchdachten und Geplanten, des schöpferischen Ausdrucks, den erfinderische Lösungen ermöglichen.“16 Die Kirche wird 2060 so überflüssig sein wie nie zuvor oder sie wird so wichtig wie nie, weil sie den Einsamen, den Verlassenen, den Ohnmächtigen und denen, die im Meer der Sinnlosigkeit versinken, eine Hand reicht. Die Kirche, die ihre Macht verloren hat, gesellschaftliche Entwicklungen zu dirigieren und hervorzubringen, wird sich schwach fühlen und sie wird schwach sein. Und könnte darin ihre Befreiung finden. Je weniger Macht sie hat, desto mehr kann sie mit ihrer explosiven Botschaft, die von der Schwäche redet, bewirken.

Die Verachtung des Klerus

Die Stunde des Zusammenbruchs war schon einmal da. Und es ist hilfreich, sich an diesen Zusammenbruch zu erinnern. Egon Friedell, der österreichische Schriftsteller, schreibt über die Zeit um 1300, in der der Mystiker Meister Eckart gelebt hat: Es habe damals noch schlechter um die Kirche gestanden als heute. Eine wilde Verachtung des Klerus sei die Signatur des Zeitalters um 1300 gewesen. Die Geistlichen werden als roh und unwissend gerügt, sie schwelgen, sie treiben Unzucht, sie sind habsüchtig und träge. „Sie spielen, trinken, jagen, denken nur an ihren Bauch, laufen jedem Weiberrock nach: besonders in Italien ist Pfaffe und Cicisbeo fast gleichbedeutend.“17 Die Sprache wimmelt in dieser Zeit von Redensarten und Sprichwörtern, in denen die Verachtung für Priester und Bischöfe erkennbar wird. Es galt als ausgemacht, dass ein Bischof nicht in den Himmel kommen könne. Eine besonders reichliche und üppige Mahlzeit nannte man Prälatenessen. Das Zölibat, so hieß es, unterscheide sich von der Ehe dadurch, „dass der Laie ein Weib habe, der Geistliche aber zehn.“ Abfällige Sprüche machten die Runde: „Solange der Bauer Weiber hat, braucht der Pfaffe nicht zu heiraten.“ Oder: „Ich kreuzige mein Fleisch, sagte der Mönch, da legte er Schinken und Wildbret kreuzweise übers Butterbrot.“ Selbst im Vatikan erheiterte man sich gerne an Vorlesungen pornographischer Geschichten; zum Konzil von Konstanz kamen Kurtisanen, Gaukler und Kuppler aus allen Weltgegenden herbei. Avignon galt, seit die Päpste dort residierten, als Bordellstadt. „Ja, man kann sogar noch weiter gehen und sagen, daß ein Teil des Klerus von einer atheistischen Strömung erfaßt war, die wiederum im Volke Resonanz fand.“18

Es gab auch in dieser Zeit suchende Menschen, Menschen, die die Frage umtrieb: „Warum gibt es mich?“ „Wer bin ich und was soll ich sein?“ „Wie kann ich ein gutes und glückliches Leben führen? „Wie kann ich in Frieden und in Liebe mit anderen leben?“ Aber die Kirche hatte in den Augen der Leute mit diesen Fragen nichts mehr zu tun. Auch darin ist diese Zeit um 1300 ein Vorschein dessen, was heute Sache ist: Wer erwartet schon noch von der Kirche und ihren Theologen eine Antwort auf die Fragen, die die Menschen auch heute nicht verlassen haben: „Wer bin ich und was soll ich sein?“ Und diese Fragen werden wohl auch im Jahre 2060 ihre Kraft nicht verloren haben.

Damals diente die Kirche zu nichts mehr – sie hatte einfach ausgedient. Das ist der Eindruck, den die Menschen mitten in Europa auch heute haben. Die Skandale um massenhaften Missbrauch in den Kirchen, der Reichtum der Kirchen, der ins Leere laufende Anspruch der Kirchen, ethische Entscheidungen mit zu prägen: Die Kirchen sind Institutionen am Rande des Zusammenbruchs.

Ein Bericht der Berliner Morgenpost vom 28. Januar 2010 über die sexuelle Gewalt am Canisius-Kolleg der Jesuiten hat die Lawine ins Rollen gebracht, die schließlich das kirchliche Schweigekartell brach. Es waren ehemalige Elite-Schüler, sprachfähig und tatkräftig, die nun als Betroffene in die Öffentlichkeit traten. Solange es Heimkinder waren, denen man erfolgreich eingeschärft (bisweilen auch eingeprügelt hatte), dass sie nichts wert seien und den Mund zu halten hätten, blieb der Skandal gedeckelt.19

Systematisch vertuscht

Im November 2019 legt das Bistum Limburg einen Bericht über den Umgang mit dem Missbrauchsopfer Kai Moritz vor, der erkennbar macht, dass und wie im Bistum Missbrauch systematisch vertuscht wurde. Der Bericht von Ralph Galetzka (ehemaliger Präsident des Landgerichts Limburg) ist bemerkenswert, weil ihn radikale Offenheit kennzeichnet: Das Fehlverhalten einer ganzen Generation von Führungskräften wird benannt und nichts wird unter den Teppich gekehrt.20 Der Limburger Bischof Georg Bätzing hat diese Offenlegung in Gang gesetzt und damit ein neues Kapitel im Umgang mit dem Thema Missbrauch in der katholischen Kirche eröffnet. Der damalige Personaldezernent Helmut Wanka, der für die Vertuschung verantwortlich war, hat – das ist in dem Bericht zu lesen – seine Schuld eingestanden und um Verzeihung gebeten. Er hatte den mit ihm befreundeten Täter-Priester geschützt und auf Kai Moritz Druck ausgeübt, damit der seine Strafanzeige zurückzieht. Sinngemäß sagte er zu Kai Moritz: „Mensch, wir haben doch auch nicht so viele Priester, und den jetzt noch aus dem Verkehr ziehen … Es tut ihm ja auch leid …“21

Es ist wohl die Aura solcher Männerbünde, die ein Klima klebriger Repression hervorbringen, in denen mit begütigender Stimme erfolgreich Einschüchterung produziert wird.

„Wer nach hoffnungsvollen Zeichen aus der katholischen Kirchenführung sucht, ist seit Jahren auf Spurenelemente angewiesen. Deshalb ist der jetzt vorgelegte Abschlussbericht des Bistums Limburg zu einem besonders krassen Fall sexuellen Missbrauchs bemerkenswert.

Der Bericht aus dem Bistum zeigt aber noch eins: Wenn es einen Bischof gibt wie den Limburger Georg Bätzing, dann sind solche Fälle auch gut 20 Jahre nach dem letzten Übergriff sauber aufzuarbeiten. Das führt zwar nicht mehr zu Haftstrafen für den Täter, weil die Taten strafrechtlich längst verjährt sind. Und das macht die Taten auch nicht ungeschehen. Für Menschen wie Kai Moritz sind solche Untersuchungen trotzdem immens wichtig.“ Denn auf einmal ist er nicht mehr ein isolierter Einzelner, sondern es steht in einem „offiziellen Dokument, was bisher nur in seinen Kopf und sein Herz gebrannt war“. Das dürfte eine wichtige Erleichterung sein und vielleicht ein Beitrag zur Heilung der Beschädigung.22

Es ist merkwürdig wie das Bistum Limburg zum Brennpunkt der Exzesse einerseits und der Umkehr andererseits geworden ist. An diesem Dom zu Limburg sind die Exzesse und die Buße vorbeigezogen und sie haben seiner überwältigenden Schönheit keinen Abbruch getan. Dahin gehört ja auch der unvergessliche Bischof Tebartz-van Elst.

Es scheint so, als wenn Tebartz-van Elst, der abberufene Bischof von Limburg, gute Aussichten hat, als eine Schlüsselfigur für den Umbruch von der alten Macht- und Glanzkirche zu einer Kirche, die von Zusammenbruch gezeichnet ist, zu gelten. Er ist so etwas wie eine Kippfigur. Jeder kennt diese Kippfiguren. Man sieht ein bärtiges Männergesicht. Und plötzlich kippt das Bild und ein nackter Frauenkörper wird sichtbar. Oder ein Totenkopf enthüllt plötzlich eine Frau, die vor einem großen Spiegel sitzt. Tebartz-van Elst, der Limburger Bischof, tritt uns gegenüber, in vollem Ornat, violettes Gewand, weiße Halsschärpe, goldenes Kreuz. Und plötzlich sehen wir ein verirrtes Kind, das in einem Phantasiekostüm Theater spielt, während die Bühne schon brennt. Vielleicht wird man 2060 auf ihn als die Figur zurückblicken, in der sich der Zusammenbruch der Gold-und-Glanz-Kirche konzentriert offenbarte. Papst Franziskus soll nach seiner Wahl zum Papst angesichts der bunten Gewänder und der roten Schuhe gesagt haben: „Schluss mit Karneval“. Er behielt seine schwarzen Straßenschuhe an, fuhr mit dem Bus und verweigerte goldene Kreuze. Tebartz-van Elst wirkt dagegen nachträglich wie der letzte Karnevalsprinz einer selbstverliebten Kirche. Ist die Absurdität noch besser auf den Begriff zu bringen als in dieser Reiseanekdote? Der Bischof flog nach Indonesien. Nicht Businessklasse, sondern noch exklusiver: in der ersten Klasse. Die Begründung: Er könne den Armen seiner Partnergemeinde, die er besuchen wollte, nicht unausgeschlafen gegenübertreten. Theater des Absurden. Der Bischof – zur Rede gestellt – leugnete das, es gab einen Prozess. Als ‚menschgewordene Maßlosigkeit‘ ging der Bischof in die Geschichte des Limburger Bistums ein. Seine Luxuswohnung, der als sein neuer Bischofssitz geplant war, dient heute als Museum. Er ließ sich tatsächlich eine Privatkapelle bauen. Er ließ eine freistehende Badewanne für 4000 Euro installieren. 50.000 Euro wurden ausgegeben, um die Voraussetzungen für einen hängenden Adventskranz in der Privatkapelle zu schaffen. 25.000 Menschen traten im Bistum aus, als die Geschichten Stück für Stück ans Licht kamen.

Damals – um 1300 – tauchte inmitten dieser verfaulenden Kirche eine prophetische Figur auf: Einer der größten Köpfe, die Deutschland je hervorgebracht hatte, ein klarer Denker (wie es Egon Friedell beschreibt), ein Virtuose der religiösen Rede und ein Mensch, der um die wichtigsten Fragen des Lebens rang, hatte umstürzende Einsichten formuliert: Man könne von Gott nicht wie von einer Handpuppe reden. Man könne eigentlich nicht sagen, wer Gott sei. Wenn man es tue, habe man es mit einem Abgott, einem Götzen zu tun. Wer sich irgendwas vorstellt, erkennt halt irgendwas, aber nicht Gott. Meister Eckhart stellt alles auf den Kopf: „Nie hat ein Mensch sich irgendwonach so sehr gesehnt, wie Gott sich danach sehnt, den Menschen dazu zu bringen, daß er Gottes inne werde … Gott ist bei uns heimisch, wir sind bei ihm Fremde!“23

Es war die Geburtsstunde einer neuen Religion, eine Umschöpfung des bisherigen christlichen Glaubens, wie ihn die Kirche verstand und verwaltete. Hätte diese Bewegung sich durchgesetzt, so wäre für Europa ein neues Weltalter angebrochen. „Sie ist aber von der Kirche unterdrückt worden, und daß dies so vollständig gelang, spricht weniger gegen die Kirche, die nur in ganz logischer Wahrung ihrer Interesse handelte, als gegen die europäische Menschheit, die offenbar für eine solche grundstürzende Erneuerung nicht reif war.“24 Wir warten heute auf einen Meister Eckhart und zu befürchten ist, dass auch ihm (oder wahrscheinlicher: ihr) nicht gelingen wird, was Meister Eckhart versuchte: eine Neuschöpfung, die in Anknüpfung an die biblische Botschaft einen Neuanfang versucht, jenseits der Macht, aber in leidenschaftlicher und sensibler Aufnahme der Fragen, die die Menschen umtreibt: Das ist Suche nach einem Leben jenseits der Leistungsgesellschaft, außerhalb des Konkurrenz- und Geldwahns. Kann man sich eine neue Kirche vorstellen, in der die Sehnsüchte der Menschen gehört werden? Ein Ort der Nachdenklichkeit angesichts der Krisen, eine Stätte der Askese gegenüber dem konsumistischen Wahn, ein Raum, in dem die Neuerfindung von Gemeinschaftlichkeit möglich wird?

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