Kitabı oku: «Freiheit in der Demokratie»
Freiheit in der
Demokratie
Plädoyer für einen
menschenwürdigen
Liberalismus
René Rhinow
Inhalt
Vorwort
Einleitung – Liberalismus neu denken?
Liberalismus heute
Restriktive und positive Auffassungen – Liberal oder radikal – Liberalismus in der Krise? – Unterschiedliche liberale Zugänge in der politischen Praxis – Ruf nach Erneuerung des Liberalismus
Elemente eines menschenwürdigen Liberalismus
Von der liberalen Geisteshaltung – Selbstverantwortung und Mitverantwortung – Mitfühlender, sozialer und nachhaltiger Liberalismus – Freiheit und Konkordanz – Chancengleichheit und Fähigkeitsansatz – Keine Freiheit ohne rechtsstaatliche Demokratie
Krisenerscheinungen in der Demokratie
Zum Wandel der demokratischen Öffentlichkeit – Repräsentationskrise
Zur integrativen Funktion des Verfassungsstaats
Freiheit gehört auch den Anderen
Freiheit und Menschenwürde
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung – Freiheitsinteressen – Willensfreiheit? – Gelebte Freiheit – Menschenwürde als Basis der Freiheit – Die Freiheit jedes Menschen – Von der Identität des Menschen – Das Streben nach dem ganzheitlichen Menschen – Die Anderen sind wir Anderen – Anerkennung der Anderen
Die liberale Geisteshaltung
Gefahren einer Wertediskussion – Liberale Werte im Überblick – Die Werte der Verfassung – Werte ohne Wert-Schätzung – Werte ohne Feindbilder – Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit – Bescheidenheit und Demut – Respekt und Toleranz – Grenzen der Toleranz? – Fairness – Progressive Offenheit – Mass – Liberaler Konservatismus? – Liberalismus ohne Abgrenzung – Brückenbau
Selbstverantwortung und Mitverantwortung
Selbstverantwortung als liberales Gebot – Grenzen der Selbstverantwortung: Verantwortungsverweigerung – Grenzen der Selbstverantwortung: Verantwortungsunmöglichkeit – Doppelnatur der liberalen Verantwortung
Mitfühlender Liberalismus
Sozialer Liberalismus
Positive oder negative Freiheit – Soziale Freiheit – Schutzpflichten zugunsten der Freiheit – Die Freiburger Thesen 1971
Nachhaltiger Liberalismus
Nachhaltigkeit als liberales Desiderat – Von der freiheitsfördernden Funktion des Wettbewerbs – Eigentum und Menschenwürde – Nachhaltiger Liberalismus als Ökoliberalismus – Modelle einer ökologischen Marktwirtschaft – Neoliberalismus
Liberalismus der Konkordanz
Freiheitsoptimierung als Staatsaufgabe: Konkordanz – Vertragstheoretischer Ansatz – Ausgemessene Freiheiten – Qualität von Freiheitsinteressen – Werteabwägung als liberale Kernaufgabe – Abwägungsprozesse und ihre Schranken – Bindestrich-Liberalismus
Freiheit und Chancengleichheit
Gleichheit der Startbedingungen – Fähigkeitsansatz – Chancengleichheit in der Praxis – Besonnener Ausgleich
Freiheit und Staat
Politische Freiheit – Zum Erfordernis der politischen Urteilskraft – Freiheit im Verfassungsstaat – Wie viel und welcher Staat – ein liberales Paradoxon – Liberale und der Sozialstaat – Wider die Staatsverteufelung
Freiheit und Gesellschaft
Staat und Gesellschaft – Freiheit und Bürgerlichkeit – Jenseits von rinks und lechts
Freiheit und Öffentlichkeit – ein Exkurs
Die liberale Sorge um eine faire Debattenkultur – Identitätspolitik – Cancel Culture und politische Korrektheit
Anmerkungen und Literatur
Von den Säulen der Demokratie
Keine Demokratie ohne Volk
Wie wird das Volk zum Volk? – Der Demos ist nicht sakrosankt
Keine Demokratie ohne Verfassungsstaat
Keine Demokratie ohne Staat – Keine Demokratie ausserhalb der Verfassung – Kein Volk über dem (Verfassungs-)Recht – Kein unbegrenztes Mehrheitsprinzip – Brexit und Katalonien als abschreckende Beispiele – Volksinitiativen als rechtsstaatliche Herausforderung
Keine Demokratie ohne Repräsentation
Parlament und Regierung als unverzichtbarer Kern der Demokratie – Die vergessene Output-Dimension – Repräsentation in der Krise? – Schlussbemerkungen
Literatur
Vom Nationalstaat zum integrativen Verfassungsstaat – Zur Unentbehrlichkeit staatlicher Strukturen jenseits des Nationalismus
Der Staat in Anfechtung
Defizitärer Nationalstaat – Die problematische Nation
Elemente des staatlichen Strukturwandels
Ausgehöhlte Nation – Internationale Öffentlichkeit – Vom Rechtsetzungs- zum Gewährleistungsstaat – Doppeltes Legitimationsproblem
Die Grundwerte des Verfassungsstaats bleiben auf den Nationalstaat angewiesen
Demokratie im Wandel – Rechtsstaat auf Bewährung – Unverlierbare Solidarität
Integration im föderalen Staat
Wider den Nationalismus – Identität als Prozess – Heimat für alle – Integration als Staatsaufgabe
Das Ziel: entwicklungsfähige, binnendifferenzierte und integrative Verfassungsstaaten
Anmerkungen und Literatur
Autor
Vorwort
Seit vielen Jahren trage ich mich mit dem Gedanken, meine Vorstellungen eines menschenwürdigen Liberalismus in einem grösseren Rahmen zur Darstellung zu bringen und dabei Erkenntnisse sowie Erfahrungen in der Staatsrechtslehre, der praktischen Politik und in humanitären Organisationen einfliessen zu lassen. Die liberale Ideenwelt hat mich seit den 1970er-Jahren fasziniert und verfolgt. In zahlreichen Artikeln und Vorträgen war es mir ein Anliegen, Aspekte des Liberalismus zu beleuchten. In der Politik musste ich erfahren und erleiden, wie schwer es liberale Ideen haben können, wenn sie eine individuelle Freiheit ins Zentrum stellen, die in der Menschenwürde fundiert ist, allen Menschen heute und morgen zusteht und von Verantwortung wie Mitverantwortung geprägt wird.
Die vier Teile dieses Bands handeln vom Liberalismus, der Demokratie und vom Verfassungsstaat. Im neu verfassten Essay «Freiheit gehört auch den Anderen» versuche ich, Gedanken zu einem Liberalismus zu entwickeln, der die Menschenwürde aller ernst nimmt. Die Studie in Form des Plädoyers soll zur weiteren Diskussion und zur Vertiefung anregen; sie erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch. Die Teile drei und vier sind bereits in Fachzeitschriften publiziert worden; sie werden hier mit geringfügigen redaktionellen Anpassungen wiedergegeben. Im Titel des Gesamtwerks «Freiheit in der Demokratie» kommt die existenzielle Verbundenheit von Freiheit, Demokratie und Verfassungsstaat programmatisch zum Ausdruck.
Mit Freunden, Kolleginnen und Kollegen durfte ich seit meinen Jugendjahren an der Universität, in der Politik und im Freundeskreis intensiv über Liberalismus, Demokratie und Verfassungsstaat diskutieren und habe dabei viele weiterführende Anregungen erfahren. Hervorheben möchte ich vor allem meine Freunde Jörg Paul Müller (Professor an der Universität Bern), Georg Müller (Professor an der Universität Zürich) und den Medienwissenschaftler und Historiker Roger Blum (Professor an der Universität Bern). Ihnen allen bin ich zu grossem Dank verpflichtet.
Besonders hervorheben möchte ich Jörg Paul Müller. Er hat mich bei diesem Vorhaben eng begleitet; von ihm habe ich aufmunternde Anstösse, (notwendige!) kritische Hinweise sowie zahlreiche weiterführende Impulse erhalten. Mit dem Verlag Hier und Jetzt, vor allem mit Denise Schmid und Corinne Hügli, ergab sich eine fruchtbare und kooperative Zusammenarbeit, die ich gerne verdanke. Vor allem aber bin ich – einmal mehr – meiner Frau Vreny Rhinow-Schetty zu Dank verpflichtet. Sie hat mich mit Geduld und Gelassenheit begleitet und musste auf viele Stunden der Gemeinsamkeit verzichten.
Die Teile drei und vier in diesem Band sind bereits erschienen in: Archiv für Juristische Praxis AJP 6/2017, 780ff.; Schweizerische Juristenzeitung SJZ, 116 (2020) Nr. 6, 187ff.
Einleitung – Liberalismus neu denken?
Freiheit lässt viele Deutungen zu. Alle beanspruchen Freiheit für sich, doch nicht alle stellen sich das Gleiche unter Freiheit vor.1 Der Demokratie widerfährt das nämliche Schicksal: In ihr wird die ideale Staatsform erblickt – doch die Auffassungen über das Wesen und die Kernelemente der Demokratie gehen heute weltweit auseinander. Auch autoritäre Staatsführungen berufen sich auf die ansprechende Idee der Demokratie und verkennen dabei bewusst oder unbewusst, dass Freiheit und Demokratie ein unlösbares Junktim bilden, das vom Verfassungsstaat gehalten und gefestigt wird. Der Staat des Liberalismus ist der freiheitliche und demokratische Verfassungsstaat, dessen letzte Legitimation in der Wahrung der Menschenwürde aller liegt und dessen Verfassung sich den Schutz der Freiheit und der Rechte des Volkes zum obersten Ziel setzt – wie es in Artikel 2 der schweizerischen Bundesverfassung (BV) verankert ist. Insofern hängen die drei Publikationen dieses Bands zusammen. Da die einzelnen Teile zu unterschiedlichen Zeitpunkten verfasst wurden, können sich partiell Überschneidungen ergeben. Im zweiten Teil über die Freiheit der Anderen2 erwies es sich als unvermeidbar, einzelne Aspekte mehrfach und in einem je spezifischen Kontext zu behandeln.
In dieser Einleitung wird der Versuch unternommen, die wesentlichen Thesen der drei folgenden Teile im Sinn einer zusammenfassenden Darstellung vorwegzunehmen und mit einigen weiterführenden Überlegungen zu ergänzen. Vorangestellt werden ausgewählte Gedanken zum Liberalismus in unserer Zeit.
Liberalismus heute
Weltweit wird heute unter Liberalismus unterschiedliches, ja auch Gegensätzliches verstanden.3 Bald gelten Liberale als konservativ, bald als links, bald als Anhängerinnen und Anhänger eines rücksichtslosen Casinokapitalismus, bald als volksfremde Eliten – ein vor allem in populistischen Kreisen erhobener Vorwurf –, bald als hoffnungslos weltfremde Träumerinnen und Träumer. Ich kann und will diesen verschiedenen Deutungen nicht nachgehen. Den wahren Liberalismus gibt es nicht.4 Der europäische Liberalismus stellt sich in einer historischen Perspektive nicht als einheitliches Phänomen dar; die Vielzahl von Liberalismen lassen sich kaum auf einen Nenner bringen, der über das Anliegen der individuellen Selbstbestimmung hinausgeht. Das Verständnis des «Liberalen» stand stets in Abhängigkeit von besonderen historischen Erfahrungen und Erwartungen in den verschiedenen europäischen Gesellschaften. In den USA gilt liberal als links; in Frankreich wird der Begriff von Linken wie Konservativen als Schimpfwort verwendet und mit dem Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts assoziiert.5 In der Schweiz deckt der Liberalismus ein Spektrum unterschiedlicher Deutungen ab, die sich von denen in Frankreich, England oder Deutschland unterscheiden.6 Als prägend erwies sich ein politisches Denken, das dem Republikanismus verpflichtet war und nie zu einer absoluten Trennung von Staat und Gesellschaft führte.7 Pate stand Rousseau mit seiner Vaterlandsliebe und mit einer Staatsbürgerschaft, die Freiheit, Gesetz und Tugend eng miteinander verband.8 Der gemeinsame Nenner aller Verständnisse des Liberalismus dürfte darin liegen, dass es diesem darum geht, Wege zu suchen, wie unterschiedliche Menschen in Freiheit gut zusammenleben und ihre Freiheit grösstmöglich verwirklichen können.
Edmund Fawcett basiert seine Ideengeschichte des Liberalismus9 auf vier Säulen, auf denen dieser beruht: die Anerkennung der Konflikthaftigkeit der Gesellschaft, das Misstrauen gegenüber jeglicher Macht, der Glaube an den menschlichen Fortschritt und der Respekt gegenüber anderen Menschen, was auch immer sie denken und wer auch immer sie sein mögen. Mit diesen Wegmarken grenzt er den Liberalismus vom Konservatismus und vom Sozialismus sowie vom Autoritarismus, vom nationalen Populismus und von der islamistischen Theokratie ab.
Restriktive und positive Auffassungen
Ausgangspunkt des Diskurses über den Liberalismus bildet idealtypisch ein – wie ich es nenne – restriktives Verständnis, das sich auf «Klassiker» des Liberalismus wie Adam Smith, John Locke, Ludwig von Mises und Milton Friedman stützt. Voran steht eine negativ verstandene Freiheit, die gegenüber dem Staat abzuschirmen ist. Freiheit heisst in dieser Sicht vor allem Selbstbestimmung gegen Übergriffe der «Obrigkeit». Der Staat wird als Minimalstaat akzeptiert, der die Sicherheit zu garantieren hat – mit Polizei, Armee und Justiz, allenfalls ergänzt durch die Gewährleistung der Existenzgarantie. Spiegelbildlich schützen die in der Verfassung verankerten Freiheitsrechte das Individuum vor staatlichen Eingriffen im Sinn reiner Abwehrrechte. Im Vordergrund stehen oft die wirtschaftliche Freiheit mit Eigentumsgarantie und Marktwirtschaft sowie die pauschale Ablehnung von Regulierungen und Abgaben. Andere Liberale anerkennen auch «positive» Zugänge zum Liberalismus; sie lehnen sich eher an John Stuart Mill oder Ralf Dahrendorf an und befürworten eine begrenzte aktive Rolle des Verfassungsstaats zum Schutz von Freiheitsoptionen. Viele Anhängerinnen und Anhänger eines restriktiven Freiheitsverständnisses pflegen ihre Haltung als die «einzig wahre» zu halten; entsprechend bereitet es ihnen Mühe, andere, positive Zugänge zum Liberalismus als liberal zu akzeptieren. In einer Extremposition befinden sich Anarcholiberale, die jegliche staatliche Regulierung unbesehen als Übergriffe auf bürgerliche Freiheiten taxieren und «Exponenten des real gelebten Liberalismus», die auch staatliche Verantwortungen anerkennen, als «loyale Hofnarren etatistischer Totalität» bezeichnen.10 Dass Liberale oft nicht dasselbe unter Liberalismus verstehen,11 ist insofern nicht weiter verwunderlich, als der Liberalismus keine Ideologie, kein gefestigtes Lehrgebäude und keine Anleitung für die Lösung aller Probleme darstellt, sondern eine politische Philosophie, eine offene Denkrichtung, für mich vergleichbar mit einem Kompass, der das Ziel bestimmt, aber unterschiedliche Wege offenlässt. Ja, man kann sich fragen, ob der Begriff des Liberalismus nicht einen Widerspruch in sich selbst bildet, denn die liberale Ideenwelt lässt sich nicht in eine gefestigte Ideologie einbinden. Die Frage stellt sich erst recht, wenn «der» Liberalismus Ideologien wie dem Sozialismus gegenübergestellt und nach eindeutigen Abgrenzungsmerkmalen gesucht wird.
Liberal oder radikal
Seit der Französischen und der Amerikanischen Revolution lassen sich zudem zwei Hauptströmungen des Liberalismus unterscheiden, welche das Verhältnis zur Demokratie betreffen.12 Der bewahrende Liberalismus trug elitäre Züge; er war bestrebt, die errungenen, dem Adel und der Kirche abgetrotzten Freiheiten zu stabilisieren, Wirtschaft und Technik zu entwickeln sowie Bildung zu fördern. Er wies ein gespaltenes Verhältnis zur Demokratie auf, denn er erblickte in den Rechten des Volkes eine Gefahr für die errungenen Freiheiten. Alexis de Tocqueville beispielsweise warnte vor den Unwägbarkeiten aufgepeitschter Stimmungen im Volk und vor einer Tyrannei der Mehrheit. Der kämpferische Liberalismus hingegen wollte die Revolution weiterführen und Freiheit mit Gleichheit verbinden. Er stand einer direkten Demokratie positiv gegenüber. In der Schweiz entsprach der frühe politische Liberalismus einem pragmatischen Konzept, geprägt von Theoretikern wie Ignaz Paul Vital Troxler, Benjamin Constant und Ludwig Snell, in der Praxis verbunden mit einem progressiven und integrationsfördernden Nation Building, das namentlich im Schulwesen, im Eisenbahnbau, in der Armee und der Post seinen Ausdruck fand.13 Auf der politischen Bühne standen Alfred Escher und Emil Welti eher für den elitären, Jakob Stämpfli14 und Daniel-Henri Druey für den kämpferischen Liberalismus. Diese unterschiedlichen Strömungen schufen die Voraussetzungen für die später von Isaiah Berlin eingeführte Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit. Sie spiegelten sich wider in den beiden liberalen Parteien des jungen Bundesstaats, den Liberaldemokraten und den Radikaldemokraten; sie bilden sich auch heute noch in veränderten Ausgestaltungen in der politischen Landschaft ab.
Liberalismus in der Krise?
Steckt der Liberalismus in der Krise? Über den Stand und die Zukunft des Liberalismus wird gegenwärtig weltweit gestritten.15 Je nach Standort der oder des Beobachtenden kann man diese Frage wohl bejahen oder verneinen. Wenn die Entwicklung liberaler Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg im Blickfeld steht, so fällt es schwer – trotz Rückschlägen in den letzten zehn Jahren – von einer Krise zu sprechen.16 Doch der Begriff des Liberalismus besitzt nicht mehr die Integrationskraft, die ihm zuweilen politisch zugeschrieben wird – eine Erkenntnis, die auch für die Schweiz ihre Geltung beanspruchen dürfte.
Schon früh haben prominente liberale Denker wie John Dewey oder John Stuart Mill moniert, dass Liberale in Gefahr stehen, einmal erkämpfte und erreichte Positionen nicht mehr daraufhin zu untersuchen, ob sich die Bedingungen der Freiheitsausübung gewandelt haben. Sie stünden in Gefahr, zu Apologeten des Status quo zu werden.17
Die liberale Demokratie sieht sich heute angesichts nationalistischer, fremdenfeindlicher und identitärer Strömungen, gespaltener Gesellschaften, bröckelnden Vertrauens in politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Eliten sowie religiösen Fanatismus schwerwiegenden Herausforderungen gegenüber, die aber das Fundament des Liberalismus nicht infrage stellen. Allerdings wird das Erstarken des Populismus und des Nationalismus der Desintegration des liberal-demokratischen Grundkonsenses zugeschrieben.18 Wenn man hingegen von einem restriktiven Verständnis der Freiheit ausgeht, so kann man in der beträchtlichen Zunahme von Staatsverantwortlichkeiten, die auch schon als Semisozialismus abqualifiziert worden ist, eine Krise erblicken.19 Ist der Zeitgeist der beginnenden 2020er-Jahre im Namen von Schutz und Sicherheit freiheitsfeindlich? Einiges spricht dafür, dass die vorherrschende Stimmung der Offenheit, dem Wettbewerb und dem Risiko misstraut und dass vor allem Schutz und Sicherheit angestrebt werden. Sicherheit ist aber heute angesichts des Klimawandels, der Mobilität und der Migration generell infrage gestellt und nicht durch einen Rückgriff auf bisherige Zustände zu gewinnen. Oder sind wir freiheitsverwöhnt und haben vergessen, als wie leidvoll sich der Kampf um die Freiheit erwiesen hat? Eigentlich müsste uns der tägliche Blick auf die schrecklichen Zustände in den kriegsversehrten oder von Not, Armut und Terror gepeinigten Gebieten der Welt den Wert unserer Freiheit vor Augen führen und auf das Nichtselbstverständliche der Freiheit hinweisen. In der Coronapandemie wuchs das Bedürfnis nach Fürsorge und Kontrolle durch das Gemeinwesen, was nach einer einseitigen liberalen Vorstellung der Freiheitsidee widersprechen soll. Doch wird bei dieser Sichtweise ausgeblendet, dass es bei der staatlichen «Fürsorge» auch um Freiheit geht, nämlich um Gesundheit und Leben der zu Schützenden. Ein weiterer Aspekt der Freiheit besteht offenbar im Paradox, dass die digitale Welt zwar den Individuen gleichermassen Zugänge ins Öffentliche verschafft, der Unmut und die Frustration über die fehlende Verwirklichung erhoffter Anliegen aber trotzdem wachsen.
Es kommt offensichtlich darauf an, wie Liberalismus und Freiheit verstanden werden. Von linker Seite wird oft das Feindbild eines Neoliberalismus an die Wand gemalt, während in letzter Zeit die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft eher von rechtsnationalen Bewegungen angefochten werden. Der Begriff der Freiheit wird auch von Agitatoren verwendet, deren Zugehörigkeit zu einer rechtsstaatlich-demokratischen Gesinnung (zumindest) fraglich erscheint. Freiheit wird reklamiert, um gegen legale Anordnungen aufzubegehren oder gegen Fremde Stimmung zu erzeugen, wie das etwa bei identitären Bewegungen oder sogenannten Querdenkerinnen und Querdenkern zu beobachten ist.