Kitabı oku: «Richard R. Ernst»

Yazı tipi:


Richard R. Ernst

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Umschlagbild:

Richard Ernst in seinem NMR-Labor bei der Firma Varian

Associates in Palo Alto, Kalifornien, 1965.

Lektorat:

Kathrin Berger, Zürich

Gestaltung und Satz:

Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich

Bildbearbeitung:

Benjamin Roffler, Hier und Jetzt

Druck und Bindung:

Kösel GmbH, Altusried-Krugzell

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-501-5

ISBN E-Book 978-3-03919-960-0

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz

www.hierundjetzt.ch

Stockholm an Pan Am 31!

Es ist der 16. Oktober 1991. Ich sitze im Flugzeug von Moskau nach New York. In Moskau habe ich einen Vortrag gehalten, in New York soll mir ein Wissenschaftspreis, der Louisa-Gross-Horwitz-Preis, überreicht werden, ruhmreich, international, ein grosser Erfolg. Der Preis macht mich stolz, auch wenn ihn ausserhalb der Forschergemeinde kaum jemand kennt. Wir sind schon drei Stunden geflogen und befinden uns irgendwo zwischen Schottland und Irland. Die Triebwerke der Pan-Am-Maschine surren. Ohne Anfang und ohne Ende, im ewigen Blau. Ich sitze in der Businessclass, bereite mich, wie immer im Flugzeug, auf einen Vortrag vor. Doch plötzlich gibt es Bewegung, der Pilot tritt in die Passagierkabine. Was ist los? Ein Notfall oder nur ein Kontrollgang? Nein, der Captain kommt direkt auf mich zu, beugt sich zu mir. «Sie sind Herr Ernst», sagt er. Ich nicke. «Kommen Sie doch mit ins Cockpit, wir haben einen Anruf für Sie, aus Stockholm.» Stockholm? Das kann nur eines heissen: der Nobelpreis!

Kürzlich erzählte mir meine Schwester, dass sie mich schon in meiner Jugend mit dem Ausspruch gefoppt habe, ich würde diese Krone der Auszeichnungen einmal gewinnen. Anders gesagt, ich galt als Streber. Ein unter Heranwachsenden eher zweifelhafter Ruf. Doch für einen Wissenschaftler ist der Nobelpreis die höchste Ehrung. Sie erfüllt einen mit Stolz und Befriedigung. Und neben der Ehre ist er auch mit einem stattlichen Preisgeld verbunden. Man hofft auf ihn – und erwartet ihn doch nicht. Und wenn es dann so weit ist und man den Anruf erhält, ertappt er einen wie ein Dieb in der Nacht. Natürlich bin ich erfreut, gleichzeitig aber packt mich sofort das schlechte Gewissen. Habe ich ihn verdient, wo Wissenschaft doch Teamarbeit ist? Wer hat ihn noch erhalten, wer hat ihn nicht erhalten? Was denken die anderen? Alle diese Gedanken schwirren mir durch den Kopf in den Sekunden auf dem Weg ins Cockpit.

Der Flugfunk holt mich in die Realität zurück. Der Generalsekretär der Schwedischen Akademie der Wissenschaften teilt mir die freudige Nachricht mit und gratuliert. Dann wird eine Verbindung nach Zürich aufgebaut, wo eine spontane Pressekonferenz zu meinen Ehren auf die Beine gestellt wurde. Die Stimmen sind etwas verzerrt. Jakob Nüesch, Präsident der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH), ist am Apparat und gratuliert mir. Dann erreichen mich einige Journalisten, sie stellen Fragen. Wie fühlen Sie sich? Was machen Sie mit dem Geld? Schweizer Journalisten haben Vorrang. Plötzlich höre ich gebrochenes Schweizerdeutsch mit italienischem Akzent. Das muss ein Journalist aus dem Tessin sein, denke ich. «Herr Ernst, hier Cotti am Apparat, Flavio Cotti. Gratulazione. Sie sind eine Ehre für unser Land.» Wie ich mich getäuscht habe! Es ist der Schweizer Bundespräsident. In diesem Moment fühle ich mich wirklich geschmeichelt. Langsam steigt Freude auf. Ich denke an meine Mutter Irma, an meine Frau Magdalena, an meine Kinder, Anna, Katharina, Hans-Martin. Sie sind alle zu Hause in Winterthur.

Sie begleiten mich längst nicht mehr auf meinen vielen Reisen für meine wissenschaftliche Karriere. Ich würde nie viel Zeit für die Familie haben, hatte ich Magdalena schon früh, noch am Tag unserer Hochzeit, geradeheraus gesagt – und sie hatte es grosszügig akzeptiert. Jetzt, im Moment meines grössten Erfolgs, bereue ich es. Bizarr, wie nötig ein Mensch seine Liebsten in leidvollen Stunden hat! Aber noch viel grösser ist die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit in Momenten überbordenden Glücks. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wie wahr! Leider erreiche ich meine Familie nicht mehr, die Funkverbindung ist wieder unterbrochen.

Etwas benommen gehe ich zurück an meinen Platz. Dort wartet das Kabinenpersonal und möchte ein Erinnerungsfoto. Ich fühle mich wie ein Radfahrer bei der Siegerehrung, inmitten hübscher Stewardessen. Ist es wirklich wahr? Noch einmal lasse ich mir den Anruf aus Stockholm durch den Kopf gehen, suche angestrengt nach einem Fehler. Ich seziere jedes einzelne Wort der Begründung, die das Nobelkomitee für die Vergabe des Chemiepreises an mich aufgeführt hat: «für meine bahnbrechenden Beiträge zur Entwicklung der Methoden hochauflösender kernmagnetischer Resonanzspektroskopie». Ursprünglich als Analyseverfahren für die Chemie entwickelt, reicht ihre Bedeutung inzwischen weit darüber hinaus. Heute steht im Untergeschoss eines jeden Spitals ein Magnetresonanzapparat. Zu Tausenden werden weltweit täglich Patienten und Probanden in die Röhre geschickt. Die MRI-Bilder, die dabei entstehen, decken gefährliche Krankheiten auf, entlarven frühzeitig Hirntumore, zeigen, wo Blutgefässe verstopft sind, retten Leben.

Die kurze Begründung wird den vielen brillanten Wissenschaftlern nicht gerecht, die ebenfalls zu dieser hoch potenten Methode beigetragen und meinen Beitrag überhaupt erst ermöglicht haben. Manche erhielten vor mir den Nobelpreis, weil sie die theoretischen Grundlagen erarbeitet hatten, auf denen ich dann aufbaute. Aber viele Forscher, die nach mir entscheidend dazu beitrugen, dass die Methode vom Chemielabor in die Spitäler gebracht werden konnte, bleiben aussen vor. Oder die Kollegen, mit denen ich zusammengearbeitet habe und die nicht oder noch nicht gewürdigt worden sind. Wes Anderson zum Beispiel, mein Freund und früherer Boss bei der kalifornischen Firma Varian Associates in Palo Alto. Tag und Nacht diskutierten und tüftelten Wes und ich in den 1960er-Jahren, bis wir den magischen Trick fanden, der die Kernmagnetresonanz erst zu einer brauchbaren Methode machte. Und meine Kollegen an der ETH Zürich: «Was ist mit Kurt Wüthrich?», werde ich später in der Zeitung zitiert. Hat das Komitee in Stockholm Kurt Wüthrich, der mit der Methode grosse und wichtige Lebensmoleküle erforscht und verstanden hat, einfach übersehen? Als ich wenig später realisiere, dass ich der alleinige Gewinner bin, ist mir der Preis vor allem peinlich.

Kaum in New York gelandet, wird noch in der Flughalle am John-F.-Kennedy-Flughafen eine Pressekonferenz organisiert – mir zu Ehren? Oder weil ich ausgerechnet auf dem letzten Pan-Am-Flug war, der jemals abhob? Genau in diesem Herbst geht auch die traditionsreiche amerikanische Airline in Konkurs. Später im Hotel begegne ich Kurt Wüthrich, der wie ich mit dem eingangs erwähnten Louisa-Gross-Horwitz-Preis ausgezeichnet wird. Zusammen haben wir es geschafft, die ETH Zürich zu einem internationalen Mekka der Forschung mit Kernmagnetresonanz zu machen. Er, der ehrgeizige Sportlehrer, der Leistungsmensch. Ich, der stille Schaffer, der oft an sich selbst zweifelte. Doch hier in New York ist mir die Begegnung unangenehm. Denn seit einigen Jahren ist unsere Zusammenarbeit, gelinde gesagt, getrübt. Ich bin froh, als ich aus New York wieder abreisen kann. Zum Glück erhält Kurt Wüthrich elf Jahre später ebenfalls den Nobelpreis für Chemie, für seine Kernspinresonanzforschungen im Bereich der Biomoleküle. Auch das ist ein Erfolg für die ETH, vor allem aber beendet es eine lange Eiszeit zwischen uns beiden, die nach meiner alleinigen Ehrung im Jahr 1991 herrschte.



Spitzenforscher sind eigenartige Menschen, mich eingeschlossen. Für den Erfolg ist eine enorme Disziplinierung der eigenen Bedürfnisse notwendig; es gilt, die Ziele vollkommen in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Emotionen, Befindlichkeiten, ja die «Seele» des Wissenschaftlers haben da keinen Platz; es geht einzig und allein darum, die Naturgesetze so «objektiv» wie möglich darzustellen. Deshalb verzichtet ein Wissenschaftler in vielen Dingen auf das Ausleben persönlicher Freiheiten. Trotzdem sind es Menschen, die im Labor stehen, mitsamt ihrem emotionalen Auf und Ab, den irrationalen Zwischentönen, die in der objektiven Wissenschaft auf den ersten Blick nur zu stören scheinen. Ich bin jedoch überzeugt, dass dieses ganzheitliche Menschsein für den Fortschritt unerlässlich ist. Ein Mensch, der nur auf einem Bein steht, kommt selten schnell vorwärts. Mir war zuerst die klassische Musik, dann die tibetische Kunst sehr wichtig. Ich habe mich in die buddhistische Kultur vertieft und eine Sammlung von kostbaren tibetischen Rollbildern, den Thangkas, aufgebaut. Sie wurde mir zu einem Ausgleich und zuletzt auch zu einer erfüllenden Leidenschaft, die mir über viele Krisen hinweggeholfen hat. Emotional war mein Leben eine wilde Reise voller Höhen und Tiefen. Ich hatte nie das Gefühl, ein Glückspilz zu sein; das Schicksal hat mich nie begünstigt, doch allen Hürden zum Trotz bin ich meinen Weg gegangen. Aber auf keinen Fall wollte ich je nur als «der Wissenschaftler» oder «der Spektroskopiker» gelten.

Inhalt

Kindheit und Jugend, 1933–1952

Studium und Dissertation an der ETH Zürich, 1952–1962

Silberstreifen über dem Pazifik, 1963–1968

Rückkehr an die ETH, 1968–1990

Am Ende das Licht – der Nobelpreis 1991

Thangkas – Die andere Dimension

Das Vermächtnis

Nachwort

Anhang

Kindheit und Jugend
1933–1952
Ein schwieriger Start

Als ich jung war, wurde mein Denken von der Suche nach der Wahrheit und nach den Gesetzen der Natur beherrscht. Ich war damals, wie fast immer später, ein einsamer Mensch, der an einem tiefen Abgrund zwischen sich und den anderen litt. Erklären lässt sich das kaum. Schon gar nicht, wenn man meine Herkunft und die ziemlich optimalen Startbedingungen betrachtet, unter denen mein Leben begann.

Als ich am 14. August 1933 in eine traditionelle Winterthurer Familie geboren wurde, war das zunächst Anlass zu grosser Freude. Ich war der Erstgeborene, ein Sohn und Stammhalter. Mein Vater war Architekt und Professor am Technikum Winterthur, meine Mutter Hausfrau. Wir lebten in einer alten Backsteinvilla aus der Gründerzeit, mit einem grossen, baumreichen Garten, direkt an der Bahnlinie in die Ostschweiz gelegen. Die Familie Ernst weist einen Stammbaum auf, der sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. In der eindrücklichen Familienchronik ist alles minutiös notiert. Die Geburt in eine solche Verwandtschaft ist ebenso Privileg wie Verpflichtung.

Winterthur hatte damals bereits eine lange Tradition als Handels- und Industriestadt, deren Wohlstand hauptsächlich im Geschäft mit Baumwolle begründet war – eine Entwicklung, die sich im ganzen industrialisierten Europa beobachten liess. So waren im 19. Jahrhundert die Maschinenfabriken Sulzer und Rieter dank dem Bedarf an Maschinen für die Textilindustrie gross und zu nationalen Ikonen des Industriezeitalters geworden. Aus der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik rollten jahrzehntelang die dunkelgrünen Lokomotiven mit dem Schweizerkreuz, die das Land prägten und verkehrsmässig erschlossen. Die Familien Volkart und Reinhart bauten weltweit tätige Handelsimperien auf, die urbanen Wohlstand schufen, der in der schnell wachsenden Stadt auch Kunst und Kultur aufblühen liessen. Banken und Versicherungen wurden gegründet und bildeten die Bindeglieder zwischen investitionsfreudigen Bürgern und den emporstrebenden Fabriken. An etlichen dieser Unternehmungen waren meine Vorfahren beteiligt: Mein Grossvater, Walter Ernst, handelte mit Eisenwaren, einem Grundbedarf des anbrechenden Industriezeitalters. Sein Bruder, Rudolf Ernst-Reinhart, war Ingenieur und Teilhaber der Maschinenfabrik Sulzer und Verwaltungsrat bei der «Bank in Winterthur», aus der später die heutige Grossbank UBS entstand.

So wurde ich in eine Familie hineingeboren, die ein gewisses Standesbewusstsein hatte. Doch mein persönlicher Start war alles andere als einfach. Bis zum Alter von drei Jahren weigerte ich mich, auch nur ein verständliches Wort zu sprechen. Die Einzige, die mich verstand, war meine Schwester Verena. Sie kam ein Jahr nach mir zur Welt. Verena wurde in meinen ersten Lebensjahren meine Gefährtin durch dick und dünn. Die kryptische Geheimsprache, die ich erfunden hatte, verstand nur sie. Erstaunlicherweise kann ich mich noch heute an einzelne Wörter erinnern. Ich sagte zum Beispiel «Ma päng gi-ga-gi». Das bedeutete «Soldaten». «Gi-ga-gi» bedeutete «viele». Meine kaum den Stoffwindeln entwachsene Schwester Verena verstand mich genau und übersetzte meine Worte für meine Eltern, für die Grosseltern und für andere Besucher dieses Unikums. Ich galt ihr das mit Grimassen und Spässen ab. Ich brachte sie oft so sehr zum Lachen, dass sie sich in die Hosen machte. Für die Dritte und Jüngste im Bund, Lisabet, war das nicht einfach. Verena und ich hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Wir rannten zusammen durch den Garten, Lisabet lief hinterher und holte uns doch nicht ein. Wir foppten sie, trieben sie auch manchmal zur Weissglut, wie es nur Geschwister können. So lernte sich Lisabet behaupten – und ist bis heute die Rebellischste von uns drei Geschwistern.

Da ich kaum sprechen konnte, befürchteten meine Eltern bereits, mit mir stimme etwas nicht. Sie glaubten, dass ich dringend mit anderen Kindern in Kontakt kommen müsse. So schickten sie mich im Sommer für drei Wochen in ein Ferienheim nach Ägeri, in die Innerschweiz. Das machte die Sache nicht besser. Ich litt furchtbar unter Heimweh und weinte viel. Meine Schwierigkeiten, auf andere Kinder zuzugehen, traten brutal zutage. Ich erfuhr erstmals schmerzhaft, wie alleine ich war, ausgeschlossen von den Kindern im Ferienheim und ihrem Spiel. Ich war überglücklich, als mich meine Eltern wieder nach Hause holten. Doch ich wurde zum Bettnässer. Wegen der Plastikeinlagen in meinem Bett riefen mir andere Kinder den Spottnamen «Gummioberst» nach. Ich schämte mich so sehr dafür, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre.

Ich hatte immer das Gefühl, dass sich mein Vater mehr um seinen Stammbaum sorgte als um mich. Ich glaube, er hielt mich für geistig behindert, weil ich nicht richtig sprechen konnte. Er hatte in München studiert, war nach dem Ersten Weltkrieg am Wiederaufbau von Strassburg beteiligt gewesen und dann wieder nach Winterthur zurückgekehrt, wo er bald in den Staatsdienst eintrat. Er wurde Professor am Technikum und baute nur wenige Häuser, doch war er in verschiedenen Baukommissionen vertreten. Mein Vater war streng, konservativ, aber als Lehrer nicht unbeliebt. Seine Studenten nannten ihn manchmal «Papa». Sein grosses Vorbild war sein fast dreissig Jahre älterer Cousin, Johann Rudolf Ernst, der zugleich sein Patenonkel war. Johann Rudolf war mit Abstand das erfolgreichste Mitglied der Ernst-Familie. Er war der Sohn des Sulzer-Ingenieurs und -Teilhabers Rudolf Ernst-Reinhart und übertrumpfte seinen Vater sogar noch. Er leitete 1912 den Zusammenschluss der «Bank in Winterthur» und der «Toggenburger Bank» zur Schweizerischen Bankgesellschaft ein und war dann bis 1941 deren Verwaltungsratspräsident, danach Ehrenpräsident auf Lebenszeit bis zu seinem Tod im Jahr 1956. Zudem sass er in den Verwaltungsräten unzähliger grosser Konzerne aus Maschinenindustrie, Bankwesen und Versicherungsbranche, unter anderem bei Sulzer, Brown Boveri, Georg Fischer, der Münchner Rückversicherung, der Schweizerischen National-Versicherung und vielen mehr. Johann Rudolf Ernst war eine grosse Figur im Schweizer Wirtschaftsleben – manche verglichen seinen Einfluss sogar mit demjenigen des Zürcher Eisenbahn- und Bankenpioniers Alfred Escher.

Der Familiensitz dieses so erfolgreichen Ernst-Zweigs war der «Frohberg», ein herrschaftliches Anwesen mit Villa, Garten- und Personalhäusern und einer geschwungenen Auffahrt, etwas ausserhalb der Altstadt und leicht erhöht im Grünen gelegen. Jeweils zu Jahresbeginn war die nähere und fernere Verwandtschaft eingeladen, um das «Neujahr anzuwünschen». Der Anlass gehörte zum sozialen Leben der «Winterthurer Gesellschaft»; die gut betuchten Gäste fuhren mit ihren Autos die breite Auffahrt hoch, es gab Tee und Kuchen, und die Kinder konnten im weitläufigen Park spielen. Unsere Familie jedoch hatte lange kein Auto, sodass wir den Weg zum «Frohberg» zu Fuss gehen mussten und neidvoll die damals immer noch neuartigen Wagen bewunderten. Uns schien, dass sich mein Vater dem wohlhabenderen «Frohberg»-Zweig der Ernst-Familie immer ein bisschen unterlegen fühlte und stets beweisen wollte, dass seine Familie mit ihrem Kunstverstand ebenso viel wert war.


Mutter Irma Ernst-Brunner und Vater Robert Ernst mit dem einjährigen Richard im Garten ihres Hauses in Winterthur, um 1934.


Am 16. August 1932 feierten Irma Brunner und Robert Ernst auf Schloss Kyburg Hochzeit. Irma Brunner war damals 23 Jahre, ihr Mann bereits 40 Jahre alt.

Meine Mutter, Irma Brunner, stammte aus einfacheren Verhältnissen. Sie war die Tochter des Primarlehrers Heinrich Brunner, ihre Mutter, Bertha Bauer, kam aus einer bodenständigen Bauern- und Gastwirtsfamilie in Ellikon an der Thur, einem kleinen Dorf in der Winterthurer Landschaft. Meine Mutter absolvierte eine Bürolehre und arbeitete vor ihrer Hochzeit als Bürokraft bei der Handelsfirma Volkart in Winterthur.

Sie war sehr stolz darauf, dass sie in die angesehene Familie Ernst einheiraten konnte. Viel später erzählte sie mir, dass sie zuerst in das Haus verliebt gewesen sei, in dem mein Vater wohnte. Mein Grossvater hatte diese stattliche Backsteinvilla an der Gottfried-Keller-Strasse 67 kurz vor der Jahrhundertwende im Jahr 1898 erbauen lassen. Meine Mutter ging jeweils auf dem Weg zur Schule daran vorbei, und die noble städtische Wohnstatt mit dem grossen Garten beeindruckte sie offenbar schon als Mädchen. Aufgefallen sei ihr insbesondere ein Jugendstilfenster zur Strasse hin, das märchenhaft mit Efeu bemalt gewesen sei. «Oh, wenn ich doch auch einmal in einem solchen Haus mit einem gemalten Fenster wohnen könnte», habe sie gedacht. Später lernte sie meinen Vater kennen – und ihr Traum wurde wahr.

Mein Vater und meine Mutter heirateten am 16. August 1932 in der Kirche Kyburg. Die Eltern meines Vaters waren damals schon beide gestorben, doch für die Eltern meiner Mutter, Grossmutter und Grossvater Brunner, war dies ein grosser Moment. Sie waren stolz darauf, dass ihre Tochter eine derart gute Partie machte. Doch für meine Mutter war die Einheirat in die Winterthurer Gesellschaft ein zweischneidiges Schwert. Sie erlebte einen regelrechten Kulturschock und musste sich in eine völlig neue, ungewohnte Lebensart einfügen. Als ihr Traum wahr wurde und sie in die «wunderbare» Villa einziehen durfte, sei sie voller Ehrfurcht und sehr schüchtern gewesen. Sie habe sich kaum getraut, erzählte meine Mutter später, auch nur einen Schrank zu öffnen. Selbst habe sie nur ein Pult und die Bettwäsche mit in die Ehe gebracht, alles andere sei schon vorhanden gewesen. Sie stiess auf unausgesprochene Erwartungen und eine Etikette, die peinlich genau befolgt werden musste. Das ging von der Kunst, sich richtig in einen Sessel zu setzen, über das korrekte Auftischen eines Gedecks bis zur richtigen Konversation. Sie wusste einfach nicht, wie man sich mit diesem «Edelmann», der 17 Jahre älter und aus der Oberschicht war, unterhalten sollte. Ziemlich genau ein Jahr nach der Hochzeit erblickte ich das Licht der Welt. Endlich hatte mein Vater einen Stammhalter. Das wurde dem Schicksal besonders und nachhaltig verdankt.

Am Tag meiner Geburt konnte mein Vater noch nicht ahnen, dass ihn sein Sohn dermassen enttäuschen würde. Er war bereits 41 Jahre alt. Er leistete im Berner Jura gerade Militärdienst, als ihn meine Mutter anrief und sagte, dass meine Ankunft auf dieser Welt unmittelbar bevorstehe. Er nahm den nächsten Zug und schaffte es gerade noch rechtzeitig, um meiner Mutter bei dem Ereignis die Hand zu halten. So hat es meine Mutter in ihr Tagebuch geschrieben.

Für meinen Vater war es ein kleiner Triumph, aber auch eine Verpflichtung, einen erstgeborenen Sohn zu haben. Seine drei Brüder waren in dieser Hinsicht weniger erfolgreich. Bruder Karl war im Alter von 35 Jahren nach einem Skiunfall unverheiratet gestorben; Bruder Gottfried hatte «nur» vier Töchter, die zusammen ein Weisswäschegeschäft in Frauenfeld zu betreiben hatten; und Bruder Franz hatte zwar mit Lily Rittmeyer eine Frau aus gutem Hause geehelicht – sie war die Tochter des bekannten Architekten Robert Rittmeyer, der das Stadtmuseum Winterthur und viele herrschaftliche Villen in der Stadt erbaut hatte –, und sie hatten drei Söhne, doch Lily starb schon früh. Die beiden Schwestern meines Vaters erlitten ein bemitleidenswertes Schicksal. Tante Emma Lilli blieb zeit ihres Lebens unverheiratet, und als sie später die Treppe vom Dachstock herunterfiel und dabei den Fuss brach, legte sie sich ins Bett und erhob sich nie mehr daraus. Auch Tante Elsbeth hatte ein unglückliches Schicksal. Sie heiratete einen Pfarrer, der später hohe Schulden machte, die unsere Familie dann begleichen musste. Von der Seite meiner Mutter war aus anderen Gründen kein Beitrag zu erwarten; ihre Familie entsprach von vornherein nicht den «Ansprüchen der Winterthurer Gesellschaft». So lag die ganze Verantwortung auf den Schultern meines Vaters – und auf mir kleinem Wurm.

Mein Vater steckte seinen ganzen Ehrgeiz in die militärische Karriere. Seine drei älteren Brüder hatten alle den Dienstgrad eines Oberstleutnants erreicht. Mein Vater übertrumpfte sie noch und wurde Oberst der Genietruppen. Ich erinnere mich, wie er mir am Tag der Mobilmachung im September 1939 stolz den Helm auf den Kopf drückte und den Säbel in die Hand gab. Kein Wunder, prahlte ich im selben Jahr in der Primarschule mit dem Rang meines Vaters.

Während des Zweiten Weltkriegs war mein Vater sehr oft abwesend; er baute Stellungen an der Westfront im Jura. Die Stellung zu Hause hielt meine Mutter. Im Alltag übernahm sie die strenge, in alten Traditionen verhaftete Erziehung, die mein Vater vorgab. Alles lief darauf hinaus, es ihm recht zu machen. Wenn er einmal da war, arbeitete er in seinem Büro hinter verschlossenen Türen. Für uns hiess das vor allem, dass wir mucksmäuschenstill zu sein hatten, um ihn nicht zu stören. Derweil war meine Mutter meistens irgendwo beschäftigt, um den grossen Haushalt in Schuss zu halten, während ich im Wohnzimmer im Laufgitter ausharren musste. Zwar gab es eine Reihe Bedienstete: ein Dienstmädchen, eine Wäscherin, eine Frau, die bügelte und eine, die Kleider flickte. Trotzdem schien meine Mutter immer irgendwo beschäftigt zu sein, sei es mit neuen Anordnungen, die sie geben musste, oder weil sie irgendwo selbst Hand anlegen musste.

Ich habe auch schöne Erinnerungen an unser Familienleben: Abends las uns unsere Mutter zum Beispiel oft Geschichten aus Büchern vor, die sie spontan ins Schweizerdeutsche übersetzte. Sie schärften meinen Sinn für Literatur. Auch mein Vater hatte hinter seiner strengen Fassade eine fürsorgliche Seite. Im Hinblick auf meine Geburt hatte er eine Modelleisenbahn gekauft und im Dachzimmer aufgestellt. Es war eine Märklin-Eisenbahn mit Dampfbetrieb, Spurgrösse 1, die Lokomotiven waren so lang wie eine Küchenschublade. Mit Sicherheit hätte ich damit spielen und die teure Anlage später einmal übernehmen sollen. Doch die Modelleisenbahn interessierte mich nicht besonders.

Mir schien, dass ich den Ansprüchen meines Vaters nie genügen konnte. Sogar als ich viele Jahre später diese Modelleisenbahn an einen reisenden Händler verkaufte, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich sie weit unter ihrem Wert gehen liess. Vielleicht war das auch eine späte Genugtuung. Denn ein Lob für mich oder ein ermutigender Zuspruch kamen meinem Vater nie über die Lippen.


Familie Ernst am Tag der Mobilmachung für den Zweiten Weltkrieg am 1. September 1939. Vater und Mutter Ernst mit den Kindern Richard, Verena und Lisabet (v. l. n. r.).

In meiner Kindheit fühlte ich mich oft einsam und unglücklich. Ich hätte kaum je gelacht, erzählte mir meine Schwester Verena, ausser wenn ich sie im Kinderspiel zu Spässen reizte. Wir hatten auch nur wenige Freunde, weil in unserer Nachbarschaft nicht viele Kinder aufwuchsen, mit denen wir hätten spielen können. Aber ich hatte einen Lieblingstraum, in dem ich mich frei und unbeschwert fühlte: Ich schwebte dahin, fünfzig Meter über dem Boden, die weite Landschaft überblickend, losgelöst von irdischen Zwängen, befreit vom eigenen Körper und von den Erwartungen anderer Leute. Ich träumte diesen Traum immer wieder, und er war mir sehr kostbar.

Später, als ich dann zur Schule ging, verbesserte sich meine Situation etwas; zuweilen kamen auch Schulkollegen zu uns nach Hause. Und ich wurde immer abenteuerlustiger – wahrscheinlich auf der Suche nach Anerkennung und Liebe, die ich von meinen Eltern nicht spürte. Ich kletterte im dritten Stock auf das Fenstersims und hangelte mich zehn Meter über dem Boden zum nächsten Fenster. Meine Schwester Verena musste Schmiere stehen und aufpassen, dass uns niemand entdeckte. Leider war Mutter fast überall, sie ertappte mich in flagranti – und war geschockt. Sie schalt mich streng aus, doch es half nichts – ich wurde bloss wachsamer, um bei meinen Streichen nicht mehr entdeckt zu werden. Ich balancierte gefährlich über das steile Dach des Hauses, das, vor allem wenn es geregnet hatte, sehr rutschig war. Doch ich fiel nie hinunter.

Das machte mich nur verwegener. Ich entwickelte mich fast schon zu einem «bösen» Jungen. Einmal bekleckerte ich aus Wut und Ärger über eine schlechte Beurteilung absichtlich das Notenheft des Lehrers. Selbst im Gymnasium leistete ich mir einige Streiche. Einmal erhielt mein Vater Post vom Rektor: «Ihr Sohn Richard muss wegen schlechten Betragens mit Arrest bestraft werden», heisst es in einem Verweis vom Juli 1948. «Es zeigt sich, dass der Knabe einen ungünstigen Einfluss auf die Klasse ausübt […] Ihr Sohn hat sich diesen Samstag, 10. Juli, 14 Uhr zur Absitzung seines Arrestes im Rektorat zu melden.» Mein «Vergehen»: Ein Schulkollege namens Werner Hablützel und ich schwänzten an einem sonnigen Sommernachmittag eine Schulstunde, und statt brav dem Unterricht zu folgen, erforschten wir die Ablenkung von Sonnenlicht mit Spiegeln oder Glasscherben. Allerdings machten wir das nicht irgendwo im Garten oder zu Hause, sondern postierten uns an einem strategisch günstigen Standort unweit des Schulhauses, mit freier Sicht ins Klassenzimmer, wo unsere Klassenkameraden gerade sassen. So machten wir uns einen Spass daraus, die tanzenden Lichtstrahlen auf die Pulte und Gesichter unserer Mitschüler zu lenken – eine Störung des Unterrichts, welche die Autoritäten nicht goutierten.

Abenteuer im Reich der Chemie

Die ersten dreissig Jahre meines Lebens verbrachte ich im Familienhaus an der Gottfried-Keller-Strasse 67. Hier erlebte ich meine Kindheit, mit all ihren Freuden und Sorgen. Hier hatte ich aber auch so etwas wie mein wissenschaftliches Erweckungserlebnis. Doch davon später. Das Haus stand in einem grosszügigen Garten mit alten Obstbäumen, mitten in einem grünen Quartier unweit des Hauptbahnhofs von Winterthur. Es war keine frei stehende, riesige Villa wie der «Frohberg». Trotzdem könnte man es eine Stadtvilla nennen, erbaut aus rotem Klinkerbackstein, dreistöckig, mit einem steil abfallenden Dach, das von verschiedenen Erkern durchbrochen war. Es war ein wunderbares Haus, das die Fantasie anregte. Es hatte herrlich hohe Räume mit verzierten Gipsstuckaturen an der Decke, und im repräsentativen Treppenhaus gaben Lampen und geschmückte Glasfenster, die im Jugendstil gestaltet waren, Licht. «S’Anneli wohnt im Schloss», sagten die Freundinnen und Freunde meiner Tochter Anna, als ich später mit meiner Familie eine Zeit lang hier wohnte. Heute steht der Bau als wichtiger Zeuge der Gründerzeit sogar unter Denkmalschutz.

Das abenteuerliche Haus und der grosse Garten liessen uns Jugendlichen viele Freiheiten. Jeder hatte ein eigenes Zimmer, und in jedem befand sich ein kleines Waschbecken mit einem Wasserhahn, der mich zu allerlei Unfug, wie kurzfristig veranstalteten Überschwemmungen, verleitete. Die Villa hatte einen verwinkelten Estrich und geräumige Kellergeschosse. Eigentlich war sie viel zu gross für unsere kleine Familie. Das mittlere Stockwerk wurde deshalb immer vermietet. Der dunkle Dachboden mit seinen verschiedenen Kammern gehörte jedoch uns Kindern. Er war für uns eine Art Geisterschloss voller Geheimnisse, die uns magisch anzogen. Vor einem gotisch geformten Seitenerker stand ein grosses, hölzernes Kreuz, das uns ermahnte, ein gottgefälliges Leben zu führen. Doch eigentlich war dieses Kreuz ein Gewehrständer, in welchem mein Vater und seine drei Brüder in ständiger Erwartung eines nächsten Kriegseinsatzes ihre uralten Langgewehre aufbewahrten.

Im Kellergeschoss hatte sich mein Vater eine Werkstatt eingerichtet. Erst zögerlich, dann leidenschaftlich eroberte ich auch diesen Ort für mich. Bald verdrückte ich mich, so oft ich konnte, in den Keller, energisch darauf bedacht, alleine werken zu können. Ich ertrug es nicht, kontrolliert, angewiesen oder gar korrigiert zu werden, vor allem nicht von meinem Vater. Die Werkstatt wurde allmählich zu meinem Zufluchtsort, wenn ich wieder mal genug von den «normalen» Menschen da oben hatte. Hier konnte ich tun und lassen, was ich wollte.

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