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Studium und Dissertation an der ETH Zürich
1952–1962
Alma Mater

Im September 1952 bestand ich meine Maturaprüfung, wenige Wochen später nahm ich das Chemiestudium an der ETH Zürich auf. Doch schon ein Jahr zuvor hatte ich meinen Weg zielsicher vorgespurt. Über Beziehungen meines Vaters war es mir gelungen, in den Sommerferien 1951 eine Praktikumsstelle im Labor der Holzverzuckerungswerke Hovag in Ems zu erhalten, der späteren Ems-Chemie. Dieses Unternehmen wandelte ursprünglich die im Bergkanton Graubünden in riesigen Mengen vorhandene Ressource Holz in Ethylalkohol um, der im Zweiten Weltkrieg dem damals knappen Benzin als Treibstoffzusatz beigemischt wurde. Die Firma Hovag war in der Schweiz der Nachkriegsjahre hoch angesehen. Die Holzverzuckerung war in den Augen der Bevölkerung so etwas wie der technische Aspekt der geistigen Landesverteidigung, weil sie während des Kriegs dazu beigetragen hatte, die Unabhängigkeit der Schweiz zu verteidigen.

Im Zweiten Weltkrieg deckte die Hovag etwa dreissig Prozent des Schweizer Treibstoffbedarfs ab und wurde dafür vom Bundesstaat grosszügig unterstützt. Die Fabrik in Domat-Ems, damals noch weit ab vom Dorf auf dem freien Feld gelegen, war in kurzer Zeit zum grössten Arbeitgeber im Kanton Graubünden geworden. Nach dem Krieg fielen die Bundesbeiträge weg, das Unternehmen diversifizierte in die Produktion von Chemikalien und wurde zur Ems-Chemie, die seit 1983 der Familie Blocher gehört. Der Schweizer Politiker und Pfarrerssohn Christoph Blocher ist mit der Ems-Chemie reich und mächtig geworden. Später trimmte er die Schweizerische Volkspartei, die ursprünglich vor allem Bauern und Kleinunternehmer vertrat, auf einen stramm rechtspopulistischen Kurs, feierte damit grosse Wahlerfolge und wurde 2003 sogar in die Schweizer Regierung, den Bundesrat, gewählt. Nachdem ich 1991 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war, bekam Christoph Blocher wohl Wind davon, dass ich ebenfalls eine Emser Vergangenheit hatte, und lud mich und meine Frau an die Albisgüetli-Tagung ein. Politisch war ich nie derselben Meinung wie Christoph Blocher. Doch der Einladung an die Albisgüetli-Tagung leisteten wir trotzdem Folge. Wir sassen dann zum Glück neben dem ehemaligen Bundesrat Leon Schlumpf, dem Vater von Eveline Widmer-Schlumpf, die später Bundesrätin wurde und damit Christoph Blocher aus der Landesregierung verdrängte.

In den 1950er-Jahren war ein Praktikum bei der Hovag für einen angehenden Chemiestudenten wie mich eine wunderbare Gelegenheit, experimentelle Erfahrung im Labor zu sammeln. Wochentags machte ich Wasseranalysen in dem damals modernen Industrielabor. Hochreines Wasser war wichtig für die Produktion von Polymerverbindungen. Einen ordentlichen Lohn gab es nicht dafür, nur einen kleinen finanziellen Zustupf von etwa fünfzig Franken pro Arbeitstag. Aber es machte mir Spass, an einer Aufgabe zu arbeiten, die auch in eine praktische Anwendung führte. Zudem konnte ich erstmals direkt von meinen Erfahrungen profitieren, die ich als Knabe mit meinen Experimenten im Keller an der Gottfried-Keller-Strasse 67 gemacht hatte.

Ich genoss den Aufenthalt im Bündnerland. In der Freizeit wanderte ich zusammen mit meinem Winterthurer Schulkollegen Walter Jung durch das Bündnerland – oder wir machten Velotouren, bergauf und bergab. Walter Jung stammte aus der weiteren Verwandtschaft des grossen Zürcher Psychiaters Carl Gustav Jung, ein Umstand, der für mich später noch sehr wichtig werden sollte. Doch erst einmal ging ich den mehr oder weniger geradlinigen Weg eines Chemiestudenten.

Nach der Matura schrieb ich mich wie geplant an der renommierten ETH in Zürich ein. Mit viel Enthusiasmus und hohen Erwartungen trat ich im Herbst 1952 mein Studium an. Damals noch viel mehr als heute war das «Poly» die Fortsetzung der Mittelschule auf einem etwas höheren Niveau. Ein strikter Stundenplan mit vielen Vorlesungen und Übungen im Labor füllte den Tag aus. Die Schüler (Schülerinnen gab es noch kaum) waren in Jahreskurse eingeteilt und genossen nur geringe Freiheit bei der Lehrerwahl. Wer nach vier Jahren als diplomierter «Ingenieur-Chemiker ETH» abschliessen wollte, musste zwei Vordiplome und eine Diplomprüfung bestehen, für Letztere mussten damals noch Diplomarbeiten in vier Prüfungsfächern – der organischen, anorganischen, physikalischen und technischen Chemie – vorgelegt werden. Ich war viel zu brav, um zu schwänzen, und besuchte pflichtbewusst alle Vorlesungen. Sogar für meine geliebte Musik hatte ich nur noch wenig Zeit.

Aus meiner Studienzeit sind mir nur wenige Erinnerungen geblieben – zumeist sind es scheinbare Banalitäten. Ich pendelte jeden Tag mit dem Zug von Winterthur nach Zürich. Ein Kollege aus Winterthur, der den gleichen Arbeitsweg wie ich hatte, nahm immer den langsameren Regionalzug über Kloten, damit er genug Zeit hatte, die NZZ vollständig zu lesen. Ich dagegen fuhr mit dem Schnellzug. Von Zürich habe ich nicht viel mitbekommen, mein Weg führte geradewegs vom Hauptbahnhof hoch zur ETH, hauptsächlich ins alte Chemiegebäude, das heute eine historische Gedenkstätte ist. Dies völlig zu Recht, denn in diesem Backsteinbau aus der Gründerzeit wurde Schweizer Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Nicht weniger als sieben Nobelpreisträger studierten, forschten oder lehrten hier, mich eingeschlossen.

Woran ich mich allerdings sehr lebhaft erinnere, sind die abendlichen Zugfahrten. Auf dem Heimweg hatte ich meistens ein Abteil für mich allein. Natürlich war ich in meiner Jugendzeit ein Einzelgänger, aber der Grund war banaler – jeder Chemiestudent kann ein Lied davon singen. Jeden Nachmittag hatten wir praktische Übungen im Labor. Der Umgang mit geruchsintensiven Lösungsmitteln und Chemikalien, wie Ammoniak oder Essigsäure, setzte sich dabei so stark in unseren Kleidern fest, dass wir regelmässig eine eklige Geruchswolke mit uns mit auf den Heimweg nahmen. Sie war offenbar so stark, dass alle anderen Zugpassagiere naserümpfend von mir wegrückten, und so wurde der Chemiestudent Ernst aus Winterthur im Zug ein Einzelgänger und nicht selten ein regelrechter Damenschreck wider Willen.

Im ersten Semester belegte ich die Fächer «Grundzüge der anorganischen Chemie und Analyse», «Grundzüge der organischen Chemie» sowie «Differential- und Integralrechnung». Im zweiten Vordiplom wurden «Grundzüge der physikalischen Chemie und Elektrochemie» geprüft sowie Physik und Mineralogie. Ich hatte überall gute Noten, aber mein Interesse lag klar in der physikalischen Chemie, darin erreichte ich auch sofort die Maximalnote sechs.

Entscheid für die physikalische Chemie

Für Aussenstehende ist die Faszination für die physikalische Chemie vielleicht schwer nachvollziehbar. Während alle die klassische Chemie kennen, weil da im Labor in Reagenzgläsern Stoffe gemischt werden, weil es dabei zischt und knallt und im Optimalfall etwas Neues entsteht, weil diese Art von Chemie sogar als kreative Kunst bewundert wird, ist die mathematisch orientierte physikalische Chemie für viele eine Unbekannte. Von manchen auch «theoretische Chemie» genannt, versucht sie, das Zusammenspiel der Elemente aus den Gesetzen der Physik heraus und mithilfe mathematischer Berechnungen zu erklären. Ihre Grundlagen hat sie in den Gesetzen der Thermodynamik, in den Gasgesetzen und, nach der wissenschaftlichen Quantenrevolution, vor allem in den Gesetzen der Quantenmechanik, die unser Verständnis der Chemie im vergangenen Jahrhundert entscheidend vertieft hatten.

Die physikalische Chemie an der ETH Zürich war in den 1950er-Jahren jedoch nur noch eine akademische Karikatur, wogegen die klassische Chemie, und damit vor allem das Institut für Organische Chemie, zu dieser Zeit eine wahre Blütezeit erlebten. Hier lehrten zwei hochdekorierte Professoren: der kroatischschweizerische Chemiker Leopold Ruzicka sowie der in Sarajevo geborene Vladimir Prelog, dem Ruzicka während des Zweiten Weltkriegs zur Flucht in die Schweiz verholfen hatte. Diese beiden Giganten der Chemie waren nicht nur hoch kompetente Forscher, sondern auch faszinierende Menschen. Ruzicka, der bereits 1939 den Nobelpreis für seine Naturstoffforschung erhalten hatte, erlebte ich noch in seinen letzten Jahren als Dozent. Er war vielseitig interessiert und wie ich später ein leidenschaftlicher Kunstliebhaber und -sammler. Sein zwanzig Jahre jüngerer Nachfolger, Vladimir Prelog, war schon damals auf der Höhe seines Schaffens. 1975 sollte auch er den Nobelpreis erhalten. Prelog war ein äusserst bescheidener und zugänglicher Professor, alles andere als ein abgehobener Wissenschaftler. Er hatte immer ein offenes Ohr und fragte seine Doktoranden auch regelmässig nach deren Befinden. Er war es auch, der in den 1950er-Jahren im Organisch-Chemischen Institut als Erster an der ETH das amerikanische Teammodell etablierte. In seiner Forschergruppe sah er sich mehr als «Dorfältesten», nicht als absolutistischen Herrscher eines Instituts, wie es bisher an deutschsprachigen Universitäten üblich gewesen war.

Es hätte also 1000 Gründe gegeben, sich dem Organisch-Chemischen Institut anzuschliessen. Doch ich spürte, dass ich dort nicht die Antworten finden würde, die ich suchte. Die physikalische Chemie dagegen war geprägt von der aufregenden wissenschaftlichen Revolution der Quantenmechanik. Am meisten faszinierten mich die Atommodelle und die dazugehörende Theorie. Sie war zwar schwierig zu verstehen, doch dies beflügelte mich eher, als dass es mich abschreckte. Sie ist ein faszinierendes Gedankengebäude, das im Prinzip logisch nachvollziehbar ist und in ihren radikalen Kernaussagen über das Wesen der Materie, aber auch über Wahrnehmung und Wahrheit unser Weltbild in seinen Grundfesten erschüttert hat.

Davon war in den frühen Vorlesungen der physikalischen Chemie an der ETH jedoch wenig zu spüren. Dort wurden vor allem Themen der klassischen Thermodynamik und der Elektrochemie behandelt. Es schien, als hätte die Quantenrevolution der Chemie hier gar nicht stattgefunden, obwohl Zürich vor dem Krieg darin eine herausragende Rolle gespielt hatte. In den goldenen 1920er-Jahren zum Beispiel, die nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wissenschaftlich regelrechte Boomjahre gewesen waren, hatte der österreichische Physiker Erwin Schrödinger während seiner Zeit als Professor an der Universität Zürich seine berühmten Wellengleichungen entwickelt, welche die Chemie radikal beeinflussten. Und zu meiner Zeit in den 1950er-Jahren lehrte mit Wolfgang Pauli ein anderer Gigant der Quantenrevolution immer noch an der ETH Zürich. Ich erinnere mich sogar schwach an seine Vorlesungen in theoretischer Physik, die ich bei ihm belegte – diese erschienen mir damals eher wie liturgische Andachten. Vorne an der Wandtafel stand dieser Meister der Quantenphysik mit seiner imposanten Statur, minutenlang tief sinnierend, den Kopf hin- und herwiegend und dabei auf seine Formeln blickend, die er über die ganze Wandtafel gekritzelt hatte – und die er dann plötzlich ergänzte, korrigierte oder auch nur weiterentwickelte, ohne zu bemerken, dass hinter ihm eine Reihe wissbegieriger Studenten in staunender Ratlosigkeit seinen Gedankengängen zu folgen versuchten.

Wer weiss, vielleicht hat mir das lückenhafte Studium auf lange Sicht sogar geholfen. Mir blieb ja nichts anderes übrig, als in die Bibliothek zu gehen und mir mein Wissen selbst zu erarbeiten, genau so wie ich es schon früher getan hatte. Ich wollte mehr wissen! Aber niemand konnte mir auf die Sprünge helfen oder auch nur einen Hinweis darauf geben, in welchen Büchern ich denn die Antworten auf meine drängenden Fragen suchen könnte. So musste ich auch diese Auswahl selbst treffen. Mein Lieblingswerk in dieser Zeit wurde ein Lehrbuch von Samuel Glasstone mit dem Titel «Theoretical chemistry». Darin lernte ich die Grundlagen der Quantenmechanik, der Spektroskopie, der statistischen Mechanik und der statistischen Thermodynamik kennen. So ging ich damals schon durch das Stahlbad der mathematischen und physikalischen Grundlagen meines auserwählten Fachgebiets.

Eine Ausnahme unter den staubtrockenen Vorlesungen an der ETH waren die freiwilligen Kurse in physikalischer Chemie bei Hans Heinrich Günthard. Günthard war ein junger und enthusiastischer Dozent mit einer erstaunlichen Karriere. Ursprünglich hatte er eine Lehre als Elektriker gemacht und danach Chemie am Technikum in Winterthur studiert. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er einige Jahre in der Industrie und beschäftigte sich mit militärischer Funktechnik. Erst danach nahm er ein Studium an der ETH auf. Dort absolvierte er dann aber parallel ein Chemie- und ein Physikstudium. Schliesslich wurde er 1947 Assistent im Institut für Organische Chemie bei Leopold Ruzicka und schloss 1949 seine Doktorarbeit im Bereich der Spektroskopie ab. Schon 1951 wurde er Privatdozent für physikalische Chemie, und 1952 wurde er zum ausserordentlichen Professor ernannt. Seine Vorlesungen beeindruckten mich als Studenten sehr, sie schienen mir brillant und klar. Bald hatte ich mir in den Kopf gesetzt, meine Doktorarbeit, der logische nächste Schritt einer Forscherkarriere, bei Günthard zu machen.

Befreiende Tragödie

Doch dann, in den Sommerferien 1955, geschah etwas, was mich aus dem gewohnten Tritt riss. Ich war mit meiner jüngeren Schwester Lisabet unterwegs. Als Kind hatten wir oft gestritten, doch inzwischen verstand ich mich gut mit ihr. Sie war jetzt im Gymnasium, und ich half ihr oft geduldig bei den Hausaufgaben. In diesem Sommer fuhren wir für einige Tage mit Faltboot und Zelt die Donau hinunter. Wir befanden uns schon in Österreich, als wir einem Boot begegneten, das wie unseres mit einem Schweizer Fähnchen geschmückt war. Sommertourismus war noch kein Massenphänomen, und so war es ganz normal, dass sich Landsleute im Ausland grüssten. Doch diese Leute winkten heftig, riefen uns, fragten, ob wir die Geschwister Ernst aus Winterthur seien. Wir waren erstaunt, dass sie uns beim Namen kannten. Wir bejahten, und sie überbrachten die traurige Nachricht: Wir sollten sofort heimkehren, es gäbe einen Todesfall in der Familie, wir würden europaweit gesucht, sie hätten das im Radio gehört. Damals war es üblich, dass Menschen über Radio gesucht wurden, es gab auch noch nicht viele Sender.


Richard Ernst mit den Schwestern Lisabet (l.) und Verena, um 1957, während seiner Ausbildung zum Leutnant der Infanterie.

Wir wussten, dass unsere Eltern in Bad Nauheim kurten. Meinem Vater war es zuvor schon schlecht gegangen, er hatte bereits einen Herzinfarkt gehabt. Ich erinnere mich, dass er beim Spazieren immer sehr langsam ging – und oft stehen blieb, um, wie er sagte, die Blumen am Wegrand zu bewundern und zu bestimmen. So kaschierte er wahrscheinlich den schlechten Zustand seines Herzens. Vor den Sommerferien hatte ihm sein Arzt eine Badekur verschrieben. So fuhren meine Eltern nach Bad Nauheim. Doch als er eines Tages im Park spazieren ging, ereilte ihn wieder ein Herzinfarkt, von dem er sich nicht mehr erholte.

Als meine Schwester und ich auf der Donau, nahe von Linz, die Nachricht erhielten, packten wir im nächsten Dorf sofort unsere Sachen zusammen und reisten mit dem Zug nach Hause. Ich weiss nicht mehr, wie ich mich fühlte. Vielleicht hofften wir noch, dass es unseren Grossvater mütterlicherseits betraf, der schon sehr alt und krank war. Genaueres hatten uns die Bootsausflügler nämlich nicht mitteilen können. Doch als wir in Winterthur ankamen, lag mein Vater bereits im Sarg. Es war beinahe unwirklich, ihn da liegen zu sehen – immer noch mit seinem imposanten Schnurrbart, den meine Mutter in diesem Moment so gerne gekämmt hätte.

Mein Vater starb am 2. August 1955 in Bad Nauheim, im Alter von erst 63 Jahren. Natürlich war es ein Schock. Doch mein Verhältnis zu ihm war nicht besonders innig gewesen. Sein Tod löste deshalb einen Wirbelsturm gemischter Gefühle in mir aus. Einerseits fühlte ich mich wie aus dem Gefängnis väterlicher Wachsamkeit befreit. Andererseits spürte ich auch eine neue Last auf meinen Schultern. Plötzlich hatte ich die ganze Verantwortung für die Familie; dies gebot das patriarchale Familienbild der 1950er-Jahre. Schliesslich war ich der einzige Sohn und zudem der Erstgeborene. Ich rückte automatisch nach. In meinem Pflichtbewusstsein und Bemühen, es immer allen recht zu machen, wollte und konnte ich mich dieser Aufgabe nicht entziehen. Nun lag es an mir, im und ums Haus herum alles Notwendige zu erledigen. In gewisser Weise wurde ich aber auch für meine verhältnismässig junge Mutter zu einer Art Partnerersatz in alltäglichen Dingen. Sie litt sehr unter dem Tod ihres Mannes, obwohl er zu Lebzeiten kaum ein idealer Familienmensch gewesen war.

Die emotionale Ambivalenz nach dem Tod meines Vaters spiegelt sich am deutlichsten in meiner Militärkarriere wider. Für meinen Vater war das Militär einer der wichtigsten Pfeiler seines Selbstverständnisses gewesen, möglicherweise wichtiger als die Familie. Wie seine Verwandten hatte er in diesem Bereich Karriere machen wollen und hatte es auch bis zum Obersten der Genietruppen geschafft. Diesen Ehrgeiz wollte er auch auf seinen Sohn übertragen. Am Tag der Mobilmachung im Jahr 1939 drückte er mir den Helm auf den Kopf und den Säbel in die Hand. In meinen rebellischen Jugendjahren wehrte ich mich jedoch nach Kräften gegen diese Erwartungen. Vielleicht bildete ich sie mir auch nur ein; jedenfalls hatte ich mir geschworen, nicht denselben Weg wie mein Vater zu gehen. Wenn man mir ein Gewehr in die Hand drücke, so rief ich einmal aus, würde ich es wegwerfen! Ich war grundsätzlich gegen das Militär, hatte eine pazifistische Ader. Doch nach dem Tod meines Vaters fühlte ich mich irgendwie verpflichtet, sein Erbe anzutreten. So trat ich doch noch in seine Fussstapfen und schlug ebenso eine Offizierslaufbahn ein – vor allem aus Gewissensbissen.

Nachdem ich im August 1956 das Diplom als «Ingenieur-Chemiker ETH» erhalten hatte, besuchte ich mehr als ein Jahr lang die Offiziersschule und wurde Leutnant bei der Infanterie. Als Chemiker wurde ich AC-Offizier, also Spezialist für den Schutz vor Atom- und Chemiewaffen. Man nannte uns «Gasonkel». Meine Erinnerungen an diese Zeit sind jedoch nicht besonders gut, pendeln irgendwo zwischen Langeweile und Widerwillen gegen die Tumbheit des Militärbetriebs mit seinen stundenlangen Märschen, die wir schwer bepackt absolvieren mussten. Rückblickend wird mir klar, dass sich durch diese ausserordentliche Situation meine innere Zerrissenheit schmerzhaft kundtat. Einerseits setzte ich mich ein, wurde Sportoffizier einer Infanterieauszugskompanie und musste dafür zahlreiche Wettkämpfe bestehen. Auch als Pistolenschütze war ich dank meiner Bedächtigkeit und Schwerfälligkeit recht erfolgreich. Andererseits hatte ich schlaflose Nächte und Albträume. Der Titel «Gummioberst», den ich als Kind hatte ertragen müssen, weil ich ein Bettnässer gewesen war, stieg wieder aus meinem Unterbewusstsein hoch, und mein Vater erschien mir regelmässig im Traum. Ich fühlte mich auf einer Gratwanderung zwischen «himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt», vielleicht Ausdruck einer tief sitzenden Schizophrenie, ein Charakterzug, der mich wohl bis zu meinem Ende begleiten wird. Aber ich lernte im Militär auch, mich nicht ganz «ernst» zu nehmen, und das ist mir bis heute geblieben.

Was ist NMR?

Meine erste wissenschaftliche Publikation erarbeitete ich, noch bevor ich mit der Doktorarbeit überhaupt begonnen hatte, während eines Industriepraktikums beim Chemiekonzern Ciba in Basel. Dort arbeitete ich im Frühling 1955 – also noch vor dem Tod meines Vaters – während sechs Wochen auf dem Gebiet der Farbenchemie. Die Arbeit hatte noch nichts mit meinem späteren Fachgebiet, der Kernmagnetresonanz, zu tun. Gemäss dem von der Ciba ausgestellten Praktikumszeugnis war ich mit «präparativen und physikalisch-chemischen Arbeiten» beschäftigt. Es ging um reine Laborchemie.

Dass daraus jedoch gleich eine wissenschaftliche Veröffentlichung im damals in der Schweiz sehr angesehenen Fachblatt Helvetica Chimia Acta resultieren würde, war natürlich ein schöner und für einen Studenten nicht selbstverständlicher Erfolg. Die Publikation war, wie damals üblich, in Deutsch geschrieben. Ich war der Erstautor, mein Betreuer war Heinrich Zollinger, damals Gruppenleiter in «meinem» Ciba-Labor.

Mit Heinrich Zollinger als Chef hatte ich grosses Glück. Ich schätzte ihn sehr, und ich erinnere mich an viele gute Diskussionen über das, was mich eigentlich am meisten beschäftigte: die Chemie. Später wurde Zollinger als Farbstoffchemiker an die ETH Zürich berufen und war in den 1970er-Jahren sogar deren Rektor. Zudem präsidierte er einige Jahre den Stiftungsrat des Schweizerischen Nationalfonds und erhielt von der japanischen Regierung den «Orden der aufgehenden Sonne» verliehen. In einer Jubiläumsschrift der ETH aus dem Jahr 2005 erinnerte sich Heinrich Zollinger an unsere Publikation von damals und schmeichelte mir mit einer ausdrücklichen Erwähnung. Im selben Jahr starb er im Alter von 86 Jahren.

Im Arbeitszeugnis, das mir die Ciba nach dem Praktikum ausstellte, wurde mir bescheinigt, dass ich die mir gestellten Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit bearbeitet und mich als «fähiger angehender Chemiker» erwiesen hätte. «Auch in Bezug auf die charakterlichen Eigenschaften machte uns Herr Ernst einen ausgezeichneten Eindruck», heisst es weiter; dieser Schlusssatz lässt mich heute noch schmunzeln.

Wie um Himmels willen konnten die Chemiker der Ciba dies in sechs Wochen beurteilen? Wahrscheinlich war ich einfach angepasst, dienstbeflissen, freundlich und scheu in allen Belangen. Meine Probleme, auf andere zuzugehen oder vor anderen aufzutreten, waren nach dem Abklingen der Pubertät keineswegs verschwunden; ich trug sie weiterhin mit mir herum. Ich hasste es regelrecht, im Mittelpunkt zu sein; lieber war mir, wenn ich für mich alleine arbeiten konnte. Auch lag es mir überhaupt nicht, mich mündlich auszudrücken; vor anderen Menschen aufzutreten, war mir ein Gräuel und versetzte mich regelmässig in Panik – nicht gerade die besten Voraussetzungen für jemanden, der im Haifischbecken des Wissenschaftsbetriebs Karriere machen wollte. Es gab nur eine Lösung: Ich musste besser und anders als die anderen sein.

Vor allem nach dem Gewinn des Nobelpreises musste ich oft darüber Auskunft geben, wie ich zu meinem Thema, der Kernmagnetresonanz, gekommen war und wieso ich mich ausgerechnet für dieses Gebiet entschieden hatte. Immer wieder betonte ich bei solchen Gelegenheiten, wie sehr mich die Vorlesungen von Hans Heinrich Günthard fasziniert hatten. Aber das war nur ein Teil der Wahrheit. Ich glaube, dass ich mir unbewusst ein sehr schwieriges Thema aussuchte, um mich vor mir selbst und vor allen anderen zu beweisen, aber auch um meine Probleme, die ich mit mir selbst hatte, zu vergessen. Ich kokettierte mit dem Scheitern, nur um mir dann versichern zu können, dass nicht ich, sondern die Schwierigkeit der Aufgabe daran schuld war. Es ging mir darum, meine Probleme nach aussen zu projizieren und die Umwelt dafür verantwortlich zu machen, dass ich nicht so erfolgreich war, wie ich es eigentlich sein wollte. Denn ich war überzeugt, dass ich von allen überschätzt wurde und gar nicht so gut war, wie ich vorgab.

Dass mich Hans Heinrich Günthard trotz meiner Zweifel als Mitarbeiter aufnahm, war wohl ein Wink des Schicksals. Aufzugeben oder einen Rückzieher zu machen, war infolge meiner Erziehung keine Option, obwohl ich während meines gesamten Vordiplomstudiums an der ETH den Begriff «Kernmagnetresonanz» kein einziges Mal gehört hatte. Als ich meine Doktorarbeit begann, wusste ich nicht viel mehr darüber als die allereinfachsten Grundlagen: nämlich, dass Moleküle aus Atomkernen und Elektronen bestehen und dass gewisse Atomkerne nicht einfach starre Kugeln sind, sondern dass sie magnetisch geladen sind. Setzt man sie einem Magnetfeld aus, dann richten sie sich wie Kompassnadeln danach aus und beginnen, um ihre eigene Achse zu kreiseln. Wie schnell die Atomkerne kreiseln, also ihre Frequenz, ist zum einen abhängig von der Stärke des angelegten Magnetfelds, aber auch von den spezifischen Eigenschaften des Atomkerns. In der Chemikersprache sagt man: Die Atomkerne haben einen Spin. Wenn man diese kreiselnden Kernspins mit Radiowellen einer bestimmten Frequenz – der Resonanzfrequenz – bestrahlt, absorbieren sie diese Strahlung und geben sie nachher wieder ab. Dieses Signal gibt viele Informationen über den Atomkern preis. Hans Heinrich Günthard stellte das Kreiseln der Kerne in einem berühmt gewordenen Foto eindrücklich und auf seine eigene Art charmant dar: Mit einem lockeren Hüftschwung lässt er darauf einen Hula-Hoop-Reifen um seine Hüften kreiseln.

Diese Erkenntnisse waren jedoch 1955, zu Beginn meiner Dissertation, noch ziemlich neu. Erst 1939 war es dem Amerikaner Isidor Rabi und 1946 seinem Landsmann Edward Purcell sowie gleichzeitig dem gebürtigen Schweizer Felix Bloch gelungen, das magnetische Moment und die Resonanzfrequenz bestimmter Atomkerne zu messen. Sie alle erhielten dafür den Physik-Nobelpreis. Doch damals war diese neu entdeckte Kernresonanzmethode, auch NMR(Nuclear Magnetic Resonance)-Spektroskopie genannt, noch pure Grundlagenforschung, in der es vor allem darum ging, den physikalischen Aufbau der Materie besser zu verstehen.

Noch war nicht absehbar, dass mit dieser Methode nicht nur die Zusammensetzung chemischer Substanzen, sondern auch deren Aufbau und Aussehen präzise erkannt werden könnte und dass sie später sogar die Bildgebung in der Medizin revolutionieren würde. Noch fehlte das technische Know-how, das der Kernmagnetresonanz den Weg zur praktischen Anwendung weisen würde. Die Grundlage dafür lieferte erst die Kriegsforschung, vor allem in den USA und in Grossbritannien. Schon ziemlich früh im Zweiten Weltkrieg forcierten die Alliierten die Entwicklung leistungsfähiger Radargeräte, um im U-Boot-Krieg mit Deutschland die Oberhand zu gewinnen. 1940 initiierte das amerikanische Verteidigungsministerium am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) nahe Boston das sogenannte Radiation Laboratory, später nur noch «Rad Lab» genannt. Die besten Wissenschaftler wurden ans Rad Lab berufen, um die Radargeräte zu entwickeln, die letztlich den U-Boot-Krieg im Atlantik zugunsten der Amerikaner entscheiden sollten. Die Forscher und Techniker lernten so unter strikter Geheimhaltung die praktische Handhabung elektromagnetischer Wellen. Sie entwickelten Vakuumröhren, bauten Vorverstärker und Verstärker, sie erfanden Sender und Empfänger, mit denen Radiowellen bestimmter Frequenzen und Energien ausgestrahlt und empfangen werden konnten. Diese Erkenntnisse strahlten in die Chemie aus, wo gewaltige Fortschritte bei der Entwicklung von Spektrometern aller Art, von der Infrarot- über die Mikrowellen- bis zur UV-Spektrometrie erzielt wurden. Auch die Grundlagen für das anbrechende Computerzeitalter wurden in diesen Jahren gelegt. Ab Herbst 1944 war Schluss mit der Geheimhaltung. Die umfangreichen Forschungsergebnisse und das technische Know-how, so war es die Absicht des damaligen Forschungsdirektors des Rad Lab – keines Geringeren als des Entdeckers der Kernmagnetresonanz, Nobelpreisträger Isidor Rabi –, sollten künftig für friedliche Zwecke allen zugänglich gemacht werden. Rabi schuf eine Publikationsreihe, die unter Fachleuten begierig aufgenommen wurde: die Bücher der sogenannten «Radiation Laboratory series», bekannt geworden als die «Roten Bücher».


Hans Heinrich Günthard demonstriert die Grundeigenschaft des Kernspins mit einem Hula-Hoop-Reifen, um 1958.

Mit einigen Jahren Verzögerung gelangte das Wissen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch nach Europa und in die Schweiz. Aus Kalifornien war 1949 mit Hans Staub ein ehemaliger Mitarbeiter Felix Blochs an die Universität Zürich zurückgekehrt und hatte hier erste Aufbauarbeit geleistet. An der ETH Zürich war es vor allem Hans Heinrich Günthard, der diese aufregenden Entwicklungen eng verfolgt hatte und zu Beginn der 1950er-Jahre – anfangs zusammen mit Hans Staub – den Bau eines Spektrometers lancierte. Die «Roten Bücher», von denen in rascher Reihenfolge 28 dicke Bände erschienen, wurden in Günthards Institut zu viel gelesenen Standardwerken. Er hatte die Zeichen der Zeit erkannt und setzte sich dafür ein, dass die spektroskopischen Methoden auch an der ETH erforscht und gelehrt wurden.

Unterstützt wurde Hans Heinrich Günthard von seinem Chef, dem Chemiker Leopold Ruzicka. Dieser war schon früh von der Nützlichkeit der physikalischen Analysemethoden für die Chemie überzeugt und setzte Hans Heinrich Günthards Anstellung bei den Hochschulbehörden sowie den Vertretern der Chemieindustrie durch, die bereits damals einen beträchtlichen Teil der Forschung finanziell unterstützte. Schritt für Schritt holte Günthard die ganze Palette der spektroskopischen Methoden an die ETH und förderte deren Entwicklung und Einsatz zugunsten der Chemie, von der optischen Spektroskopie über die Infrarot- bis zur UV-Spektroskopie. Und 1953 entschied der zielstrebige Forscher, auch die hochkomplexe Kernmagnetresonanz-Spektroskopie zu erforschen.

Viele dieser Hintergründe waren mir als Student natürlich nicht bewusst, aber die Aussicht, in «Günthards Spektroskopieuniversum» mit den brandneuen Methoden zu arbeiten, war aufregend und verlockend. Hans Heinrich Günthard gab mir jedoch zu Beginn ein Thema vor, das mich mehr verwirrte, als dass es klärte: «Von zu irreduziblen Darstellungen zugehörigen Linearkombinationen von Spineigenfunktionen». Ich hatte meinen Professor zwar tatsächlich um eine theoretische Arbeit gebeten, weil mich die Theorie besonderes interessierte, doch was mit dieser Aufgabe bezweckt werden sollte, blieb mir schleierhaft – und inspirierte mich auch nicht allzu sehr.

Mein Retter im Labor

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