Kitabı oku: «Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors», sayfa 6

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Leeder, Sommer 1561

Anna Rehlinger küsste das Buch. Der Bote aus Mindelheim hatte ihr soeben eine große Freude bereitet. Sie hielt die langersehnte, druckfrische Ausgabe von Caspars »Was die christliche Kirche sei und woran sie erkannt werden soll« in den Händen. Der Begleitbrief von Adam Reißner, der in gewohnter Art für die Drucklegung gesorgt hatte, klang jedoch sehr besorgt:

… ich ihro Liebden anmerken muss, so aus glücklich Zufriedenheyt er sein newes Werk hat erleben derfen, unseres Meisters Gesundheyt sich in diesen Tagen in groben Maßen habe verschlechtert.

Sie versuchte vergeblich, sich in das neue Werk zu vertiefen, zu sehr war sie in Gedanken mit Caspars Gesundheitszustand beschäftigt. War Krankheit der Grund seiner überstürzten Abreise gewesen? Alle Versuche, den Flüchtigen irgendwo zu treffen, waren gescheitert. Selbst Georg war nicht in der Lage, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Sosehr sie hin und her überlegte, sie fand keine andere Antwort, als im Gebet den Meister in die Obhut Gottes zu empfehlen. Anna kniete sich auf ihren Betschemel, faltete die Hände und versank in eine tiefe und lange Meditation:

Oh Herr, gütiger Vater, ich begehre nicht das Deinige, sondern Dich;

Dich selbst will und suche ich,

darum will ich unablässig an Dich denken

und mein Herz mit Deiner Güte stillen;

ich will weder sein noch nicht sein,

weder wissen noch nicht wissen,

weder haben noch entbehren.

Allein, was Du willst, wie viel Du mir geben willst,

darauf will ich täglich warten, Amen.37

37 Gebet Caspar Schwenckfelds.

14

Bologna, San Matteo38 1561

Otto kam tief erschüttert von seinem Professor Boncompagni zurück ins Collegio und traf die Freunde auf dem Weg ins Refektorium. »Habt ihr von dem Massaker an den Waldensern gehört?«

Er erntete nur fragende Blicke.

»In der ganzen Stadt gibt es kein anderes Thema«, fügte er an und war entsetzt, dass seine besten Freunde nichts davon wussten.

»Ich dachte, dass sich diese Leute zum protestantischen Glauben bekannt haben und somit nach den Reichstagsbeschlüssen von Augsburg geschützt wären«, erwiderte Giacomo. Er hatte Otto wiederholt erzählt, dass er damals selbst von seinem Vater zu einigen öffentlichen Sitzungen mitgenommen worden war.

»Die canes Domini und ihr Ziegenhirt Ghislieri schlürfen anscheinend an ihrem eigenen Süppchen«, fügte Rico an, und Otto hatte den Eindruck, als würde er diese Geschichte ins Lächerliche ziehen. Er konnte diese Reaktion nicht verstehen.

»Rührt euch denn nicht das grausame Schicksal Tausender unschuldiger Menschen, Frauen und Kinder? Geht es euch nur um überschrittene Kompetenzen?«, polterte er los. »Was seid ihr denn für Christen!«

Rico und Giacomo blieben sichtlich verdutzt stehen und schauten Otto fragend an.

»Beruhig dich erst mal und erzähl uns diese Geschichte.« Giacomo legte ihm eine Hand auf die Schulter, die Otto barsch zurückwies.

Er war außer sich. »Die Waldenser haben sich zur protestantischen Reform bekannt und wurden dennoch in ihrer Heimat verfolgt. Sie siedelten sich in dem kalabrischen Ort Guardia Piemontese an. Kardinal Michele Ghislieri, Bischof der piemontesischen Stadt Mondovì, befahl, alle Waldenser, sowohl im Piemont als auch in Kalabrien, auszurotten. Am fünften Juni wurden in dem kleinen Ort an die zweitausend Menschen abgeschlachtet. Die wenigen Waldenser, die überlebt haben, wurden gezwungen, zum Katholizismus zu konvertieren. Ein Mord an unschuldigen Menschen! Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.«

»Ich habe dich niemals so wütend gesehen, Otto. Was schmerzt dich denn an dieser Sache: dass das Blut von Unschuldigen vergossen wurde oder dass es unsere eigene katholische Kirche ist, die das zu verantworten hat?«

Otto packte Giacomos Schulter und schüttelte ihn. »Ich sage es dir, was mich schmerzt, Herr Fugger: Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit.«

38 21. September

15

Leeder, Ende November 1561

Anna stand am geöffneten Fenster und blickte hinunter in den Hofgarten. Die Bäume hatten ihr buntes Kleid bereits abgeworfen und erwarteten in stoischer Gleichgültigkeit den Winter. Die Berge am Horizont waren schneebedeckt und die Sonne tauchte sie in ein rotes Licht. Anna konnte sich nicht daran erfreuen. Sie verspürte eine Unruhe, die sich in ihr über Monate hinweg ausgebreitet hatte, und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es sich entweder um eine Strafe Gottes oder um den Fluch der Marianischen handeln musste. Die Nacht mit Georg im Heuschober vor vier Jahren. War es das, wofür sie büßen musste? Gerade jetzt, wo die Natur alles absterben ließ, fragte sie sich, warum sie nicht in der Lage war, neues Leben zu schenken. Sie fühlte sich stark und gesund und es vergingen keine zwei Tage, in denen Emanuel ihr nicht beiwohnte.

Es klopfte an der Tür. Anna wusste, dass es nur ihr Mann sein konnte, und antwortete nicht.

Sie hörte, wie Emanuel hereinkam und sich ihr näherte.

»Du bist traurig?« Zärtlich legte er seine Hände um ihren Hals.

Anna blickte weiterhin aus dem Fenster.

»Ich weiß, dass es dein größter Wunsch ist, Kinder zu haben, und es an mir liegt, dass dir dieser Wunsch nicht erfüllt wird.« Sie drehte sich um und schaute ihn mit feuchten Augen an.

»Sprich nicht von Schuld, Anna! Vertraue auf Gott und seine unendliche Vorsehung; wenn es ihm gefällt, wird er uns Kinder schenken.«

»Deine lieben Worte mögen tröstlich sein, Emanuel, lösen aber unser Problem nicht. Kannst du dich an unseren Hochzeitstag erinnern? Als wir zu Caspar nach Schäfmoos fahren wollten, hat uns ein altes Weib aufgehalten, ganz in Schwarz gekleidet. Sie hat dir ein Schriftstück überreicht. Du hast mir nie gesagt, was sein Inhalt war. Schließlich mussten wir umdrehen, weil ein Baum den Weg versperrt hatte. Ich glaube, dass diese Frau etwas mit unserem Unglück zu tun hat. Es liegt ein böser Zauber auf unserer Verbindung, der nicht mit schönen Worten gebannt werden kann. Ich beschwöre dich, Emanuel, lass uns etwas dagegen tun!«

»Ich habe dir diese Zeilen verheimlicht, weil sie von bösen Menschen unten aus dem Ort verfasst wurden, die uns, unserem Glauben und unserer Liebe Schaden zufügen wollen. Kein Wort davon ist es wert, gelesen oder gar geglaubt zu werden.«

»Ich kann keine Kinder bekommen, weil ich verflucht wurde! Ist es nicht so?« Anna sah ihrem Mann kurz in die Augen, setzte sich auf einen Stuhl und verbarg ihr Gesicht mit den Händen.

»Lass dich nicht auf den Irrglauben vom Verfluchen und Verfluchtwerden ein, Anna. Wir führen ein gottgefälliges Leben und kein menschliches Wesen ist in der Lage, sich einzumischen.«

»Vielleicht ist es die Strafe Gottes, dass ich kinderlos bleiben muss, weil ich nicht als Jungfrau in die Ehe gekommen bin.«

Emanuel strich ihr beruhigend übers Haar. »Wie kannst du so etwas sagen, Anna? Du lebst in den traditionellen Vorstellungen eines Rachegottes. Gott ist gütig und verzeiht, er hält seine Hand über uns und beschützt uns, glaub mir.«

Sie konnte diesen salbungsvollen Ton ihres Mannes nicht mehr hören. Es musste etwas geschehen und sie wusste, was es war. Anna lief zwei Schritte zur Seite, wischte sich hastig die Tränen von den Wangen und drehte sich ihrem Mann zu. »Ich muss herausbekommen, was es ist, das mich unglücklich macht. Ich bitte dich darum, Emanuel, für ein paar Tage nach Ulm gehen zu dürfen. Caspar ist dort im Haus von Agatha Streicher, anscheinend geht es ihm nicht gut. Ich muss ihn sehen.«

»Woher hast du die Informationen über Caspar?«

»Georg kam gestern aus Memmingen zurück, wo er bei den Moretzgis erfahren hat, dass sie Caspar nach Ulm gebracht haben. Sie alle machen sich Sorgen um seine Gesundheit. Lass mich bitte, bitte fahren, Emanuel! Vielleicht ist es die einzige Möglichkeit für mich, ihn einmal zu sprechen.« Sie wusste, dass Emanuel ihrem Ansinnen nicht im Weg stehen würde.

»In Gottes Namen, du sollst deinen Willen bekommen, Anna! Ich würde am liebsten mit dir kommen.«

Sie zuckte innerlich zusammen. Genau das würde ihren Plan gefährden.

»Das brauchst du nicht, Emanuel. Karl wird auf mich aufpassen. Sorge dich um Jacobus und das Schloss.«

»Du hast recht. Hm, die Tage sind schon sehr kurz und es ist für Reisen fast zu kalt.« Er runzelte die Stirn. »Ich gebe dir einen Zweispänner mit, das verkürzt die Reisezeit. Ein paar Tage werden für diese Fahrt wohl nicht ausreichend sein. In Ulm quartierst du dich im ›Goldenen Hirschen‹ ein, das ist das erste Haus am Platz. Aber vorher steigt ihr in Memmingen bei den Moretzgis ab. Du kannst ihnen einige Bücher geben, auf die sie bereits lange warten.«

Anna fiel ihm um den Hals. Sie war zufrieden.

Am nächsten Morgen stand der Kutscher Karl abfahrbereit vor dem Tor.

»Ich habe ein wenig Geld, das Vater dir für Caspar mitgibt, falls er Medikamente oder sonstige Hilfe braucht.«

Anna nahm den kleinen Beutel, den ihr Mann ihr in die Hand drückte, umarmte Emanuel und küsste ihn lange.

»Pass gut auf Anna auf, Karl! Der Herr möge dich beschützen und dich mir erhalten, Anna. Entbiete Caspar, Agathen und allen Brüdern und Schwestern die herzlichsten Grüße.«

»Mach dir keine Sorgen, Emanuel, auch wenn die Reise etwas länger dauern sollte, Gott wird bei mir sein.« Sie schlug ihren Mantel über die Schulter und setzte sich zum Kutscher auf den Wagen. Die beiden Rappen trabten los, und als sie sich nach kurzer Zeit umsah, war das Dorf bereits im herbstlichen Dunst verschwunden.

»Ihr g’sehnd us, Herrin, als wöded Ihr bis ans Ende vo dera Welt reisa.« Karl lachte verschmitzt.

»Nicht ganz so weit, Karl, aber wir werden einen kleinen Umweg machen. Halt an, damit ich es dir erklären kann.«

»Brrrrrrr … Buaba, es gibt ebbas nuis!« Der Kutscher zog die Zügel straff und die Pferde blieben schnaubend stehen.

»Hör gut zu! Wir fahren über Ettringen nach Memmingen und nicht über Buchloe.«

»Ettringe? Aber d’Herrschaft hot g’seed aufm schnellschta Wäg …«

»Jetzt bin ich die Herrschaft, mein Lieber, also keine Widerrede. Und merk dir das: Der Umweg bleibt unter uns; ich möchte, dass du mit niemandem darüber sprichst.« Anna öffnete das Säckchen, überlegte kurz und verschloss es. Als sie in ihre eigene Tasche griff, zwinkerte sie mit einem Auge und drückte Karl eine Münze in die Hand.

»Ha, wenn des so isch, nochad weil o it glei!« Karl schnalzte mit der Zunge und die Rappen trabten an. Nach drei Stunden fuhren sie in Ettringen ein.

»Ma fährt uf Ettringa bloßig, wemma zur Els will«, kombinierte Karl nach längerem Überlegen und sah Anna fragend an.

»Genau das ist der Grund. Geh jetzt und frag nach dem Haus.«

»Kenscht du d’ Els und woisch, wo se wohnt?«, fragte Karl einen Jungen, der eine Kuh vor sich hertrieb.

»Wer kennt se idda? Es kommed viel Leit zur Els. Franzosa, Fürscht und Grafa. ’s Geld verschenkt se. Dohinda bei dr Kiacha wohnt se.«

Kurz darauf hielt Karl hinter dem Friedhof an einem kleinen, unscheinbaren Häuschen, das von einem riesigen Garten umgeben war, die Rappen an.

»Geh rüber ins Wirtshaus, Karl, und versorg die Pferde, es wird nicht lange dauern«, rief Anna und stieg vom Wagen. Ihr Herz klopfte, dass sie es bis zum Hals spürte, als sie das Gartentor öffnete und sich dem Häuschen näherte. Bevor sie es erreicht hatte, kam ihr die Els entgegen. »Willkommen, schöne Frau, der Friede sei mit dir.«

Anna hatte sich eine Wahrsagerin und Kräuterkundige ganz anders vorgestellt. Die Els war eine groß gewachsene Frau mittleren Alters. Ihr Haar hatte sie kunstvoll geflochten zusammengesteckt. Unter einem weiten Mantel trug sie ein bodenlanges rotes Kleid.

»Ich bin Anna, das Weib von Emanuel Rehlinger«, stellte Anna sich vor.

»Komm herein, hier sind wir ungestört. Seit wie vielen Jahren bist du schon kinderlos verheiratet?«

Anna staunte nicht schlecht. »Seit drei Jahren«, flüsterte sie, »woher weißt du das?«

»Wenn mich so junge Weiber besuchen, geht es meist darum. Ich sehe es einer Frau außerdem an, ob sie Kinder geboren hat. Setz dich.«

Anna tat wie geheißen und sah sich in dem Häuschen um. Überall standen Töpfe, Krüge und Kübel; getrocknete Kräuter, Leinensäckchen und allerlei Äste und Zweige hingen von den Wänden. Der Duft nach Minze und frischem Heu stieg ihr in die Nase. Die Wärme, die die Feuerstelle verströmte, tat ihr gut, und zufrieden wollte sie sich die Hände reiben, doch bevor sie dazu kam, hatte die Els ihre Rechte genommen und strich wiederholt mit ihrem Daumen über die Handfläche.

»Die schlimmste Zeit deines Lebens liegt bereits hinter dir, Anna Rehlinger. Deine Eltern haben dich früh verlassen und böse Hände hatten sich nach dir ausgestreckt.«

Anna erinnerte sich sofort an den alten Blärsch.

»Aber es gab und gibt auch gute Männer in deinem Leben. Du wirst vier gesunde Kinder haben.« Die Els stutzte, schaute sie mit gütigen Augen an und lächelte. »Eines davon wird ein Pfaffenkind sein.«

»Ein Pfaffenkind?« Anna schüttelte den Kopf und sah die Frau fragend an. Dann überkam sie ein erlösender Schwall von Glück, und Tränen rannen ihr über die Wangen.

»Sie werden alle in eine unruhige Zeit der Krankheit und Verfolgung hineingeboren, aber keinem deiner Kinder wirst du ins Grab schauen müssen. Das ist alles, was ich dir sagen kann.«

Anna hätte vor Erleichterung am liebsten getanzt und gejubelt.

»Ich gebe dir ein Pulver mit, das du deinem Mann an den ersten drei Tagen des zunehmenden Mondes ins Essen mischen sollst. Es ist eine Mischung aus getrockneter Alraune, Löffelkraut und Kerbel. Es wird seine Wirkung nicht verfehlen.«

Anna sprang auf. »Ich danke dir von ganzem Herzen. Nimm dies als kleines Zeichen der Wertschätzung für deine Hilfe!«

Anna zog eine Münze aus dem Beutel, den ihr Mann ihr mitgegeben hatte, und drückte sie der Els in die Hand.

»Gott vergelt’s! Ich helfe nur Menschen, die gut sind; du bist rein in der Seele und edlen Gemüts.« Sie schaute ihr mit einem wissenden Lächeln tief in die Augen und begleitete Anna bis zum Gartentor.

»Nimm dich in Acht vor den Pfaffen, Rehlingerin, wenn du einmal in ihren Bann geraten bist, wird es schwer, sie wieder loszuwerden.« Sie lachte laut, als wenn sie ihre eigenen Erfahrungen mit der Geistlichkeit gemacht hätte, und deutete hinüber zur Kirche.

Karl stand bereits neben der Kutsche. Anna setzte sich froh gelaunt und dennoch gedankenschwer auf den Wagen.

Ein Pfaffenkind? Wie kann es sein, dass ich von einem Pfaffen ein Kind bekommen soll?, grübelte sie. Mit Georg verbindet mich ein Freundschaftsband, das durch den gemeinsamen Glauben geknüpft ist. Und außerdem liebe ich Emanuel und käme niemals auf den Gedanken, ihm untreu zu werden.

Sie schob die Worte der Els beiseite. Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als die Geschehnisse auf mich zukommen zu lassen.

»Fahr mer jetzt weiter uf Memminga, bevor’s Nacht wead, Herrin?«

Anna nickte dem Kutscher zu und mit einem aufmunternden »Hüa, Buaba!« holperte der Wagen aus dem Ort.

16

Memmingen, 1. Dezember 1561

Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie ohne dieses verkrampfte Gefühl im Bauch aufgewacht war. Sie hatte sich am Abend lange Gedanken gemacht über die Worte der Els. Sie musste die Schuldgefühle überwinden, die sie jahrelang geplagt hatten, und die Zuversicht, die sie bei der Els gewonnen hatte, würde ihr dabei helfen.

Wie viel Freude sie mit Caspars Schriften in dieses Haus hatte bringen können. Anna freute sich darüber, als sie sich am nächsten Morgen von den Moretzgis verabschiedete.

»Du hast unser Leben bereichert, Anna, vergelt’s Gott!«, bedankte sich Thomas Moretzgi. Sie wusste nicht, ob sie selbst damit gemeint war oder die Bücher.

»Wer isch öbba dia Frau, wo mir nafahred?«, fing Karl ein Gespräch an.

»Sie ist eine von uns und die einzige niedergelassene Ärztin im reichsstädtischen Ulm. Obwohl sie keine Universität besuchen durfte, was nur Männern vorbehalten ist, besitzt sie ein profundes medizinisches Wissen, das sie sich als Assistentin ihres Bruders angeeignet hat. Caspar ist dort sicher in allerbesten Händen«, antwortete Anna. »Wann glaubst du, dass wir dort eintreffen werden?«

»Wenn mir des Ulmer Münschter zum erschte Mol erkennet, isch es no a Stund.«

Es war so, wie Karl es vorhergesehen hatte. Am späten Nachmittag fuhren sie über die Donaubrücke und bogen gleich darauf auf den Münsterplatz ein.

»Wir logieren im ›Goldenen Hirschen‹, Karl. Versorg die Pferde und lass es dir gut gehen. Über zwei Nächte werden wir sicherlich bleiben.«

Die Gastwirtschaft lag nur eine kurze Strecke vom Münsterplatz entfernt.

»Habt Ihr eine Vorladung bekommen bei der Ärztin?«, fragte der Wirt am nächsten Morgen, als Anna ihm den Grund ihres Aufenthalts in Ulm nannte.

»Es geht nicht um eine Behandlung, eher um einen Besuch, angemeldet bin ich allerdings nicht.«

»Es kommen Leute aus dem ganzen Reich zu ihr und vielen hat sie geholfen. Die Streicherin mag äußerlich grob und unnahbar sein, aber glaubt mir: Sie hat ein großes Herz, es versteckt sich hinter einer rauen Schale. Ihr könnt ihr Haus nicht verfehlen. Es ist das große an der Ecke, oben an der Langen Gasse, die südlich des Münsterplatzes verläuft. Geht möglichst bald, dann seid Ihr bei den Ersten.«

Anna bedankte sich bei dem Wirt. Sie konnte sich gut an das Haus erinnern. Vor Jahren hatte sie mit Georg nach der Flucht aus Kempten vor dieser Tür gestanden. Mit klopfendem Herzen schlug sie den Ring mit der Asklepios­schlange auf das Eisen.

»Wach auf, mein Seel! Ich bin Anna Rehlinger aus Pilgerhausen und möchte Caspar besuchen«, rief sie der Frau zu, die ihr öffnete. Sie glaubte, es wäre eine Bedienstete.

»Lobsinge seinen Namen! Sei herzlich willkommen, Schwester.«

»Oh, verzeih mir, ich dachte, dass mir eine Magd öffnen würde. Es tut mir leid, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Ich war mit Georg vor einigen Jahren schon einmal in eurem Haus.«

»Freilich, Anna Rehlinger, ich sehe euch vor mir, wie ihr völlig ausgehungert und müde in Ulm angekommen seid. Was verschafft mir denn die Ehre deines Besuchs?«

»Ich habe gehört, dass Caspar von dir gepflegt wird und es ihm nicht gut geht. Ich möchte wenigstens einmal in meinem Leben mit ihm sprechen. Würdest du mir das ermöglichen, Agatha?«

»Natürlich kannst du zu ihm. Caspar hat oft von seinen Freunden in Pilgerhausen gesprochen; dabei hat er geschwärmt, wie wohl er sich dort gefühlt hat und eure Familie ihm hilfreich in allen möglichen Situationen zur Seite stand. Georgs Schriften sind ständig Thema bei Caspar, auch wenn seine Kraft nachgelassen hat.«

Als sie Georgs Namen vernahm, spürte Anna, dass sich bei ihr eine Gleichgültigkeit ihm gegenüber eingestellt hatte.

»Caspar geht es nicht gut, er betet täglich darum, in die himmlische Heimat aufgenommen zu werden«, sagte Agatha, während sie die breite Treppe in das obere Stockwerk gingen.

»Welcher Art ist denn Caspars Leiden?«, fragte Anna besorgt.

»Schwindsucht! Wir haben die Besuchszeiten auf zwei Stunden täglich beschränken müssen, da ihn ständiges Sprechen zusätzlich schwächen würde. Er wird im Augenblick versorgt, und in ungefähr einer Stunde kommen seine Freunde zum täglichen Konventikel, erst danach kannst du ihn sprechen. Du wirst es verstehen, Anna, wenn ich dich allein lasse. Meine Helferinnen werden dich hinaufführen.« Die Ärztin verschwand und Anna setzte sich auf einen der Stühle in dem geräumigen Vorraum.

Nun habe ich den Meister endlich gefunden und muss an sein Krankenbett treten.

»Schwindsucht«, flüsterte sie und ermahnte sich, dass der Tod der neue Beginn war, nicht das Ende.

Wie undurchsichtig Gottes Pläne sind. Mir, der einfachen Magd des Herrn, neues Leben zu verwehren und den Meister zu sich zu holen.

Weitere Menschen kamen in das Vorzimmer und warteten. Nach einer Stunde drängten sich wohl zwei Dutzend zusammen. Es glich einer katholischen Heiligenwallfahrt, kam es Anna in den Sinn.

»Anna Rehlinger«, hörte sie plötzlich ihren Namen. Eine der Schwestern winkte sie zu sich. »Ihr dürft auf Anordnung Agathas mit Caspar eine kurze Weile allein sprechen. Folgt mir!«

Sie gingen ein Stockwerk höher und Anna spürte ihren Puls so stark am Hals, dass sie glaubte, die Adern müssten platzen. Die Schwester legte ihr Ohr an die Tür und öffnete sie. »Wir haben heute Besuch aus Leeder, Caspar.«

Anna trat über die Schwelle und fiel vor dem Bett auf die Knie.

»Ich bin Anna Rehlinger.« Als sie den Kopf hob, erschrak sie zutiefst. Ein Greis lag vor ihr: eingefallen, blass und abgemagert. Nur seine Augen ließen etwas von seiner Güte erahnen. Den würdevollen und stattlichen Mann, den sie in ihrer Vorstellung hatte, gab es nicht oder es war nicht viel von ihm übrig geblieben. Die Krankheit hatte ihn schwer gezeichnet. Dennoch gingen eine Kraft und Ausstrahlung von ihm aus, die Anna in Demut versinken ließen.

»Anna, welche Freude! Der Herr sei mit dir! Du kannst dich glücklich schätzen, im Haus von Jacobus, einem meiner vortrefflichsten Mitstreiter, zu leben. Erzähl mir, wie es euch dort oben in den Wäldern geht!« Caspar atmete schwer und musste jeden Satz mehrmals unterbrechen.

Anna zögerte, sie spürte, dass dieser Mann näher an Gott war als alle Menschen, die ihr bisher begegnet waren.

»Ich bin mit Emanuel verheiratet. Er ist ein guter Mann und wäre bestimmt auch ein guter Vater. An unserem Hochzeitstag wollten wir nach Schäfmoos, um uns von Euch segnen zu lassen, aber widrige Umstände zwangen uns umzukehren. Ein altes Weib hat sich uns in den Weg gestellt. Ich befürchte, dass sie uns verflucht hat, denn unsere Ehe ist bisher kinderlos geblieben.« Anna atmete tief ein und senkte den Kopf.

Caspar strich über ihr Haar. Er setzte sich etwas auf. »Erinnere dich an das Evangelium, Anna, wo der Engel Gabriel Maria die frohe Botschaft ihrer anstehenden Geburt verkündete: Und siehe, Elisabeth, deine Gefreunde, ist schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und geht im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei, denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Mache dich innerlich bereit, nimm den Geist Gottes in dich auf und vertraue auf die Vorsehung und die Gnade des Herrn.« Caspar hatte mehrmals unterbrechen müssen und hustete in sein Taschentuch.

Anna hob den Blick und nahm seine Hand. »Meister, darf ich Euch etwas fragen, was mich seit Jahren beschäftigt und mir keine Ruhe lässt?« Ihre Stimme fing an zu zittern. »Bestraft der Herr meine Sünde mit Georg Mayer, dem ich in der Nacht unserer gemeinsamen Flucht aus Kempten beigewohnt habe, indem er meine Ehe mit Emanuel kinderlos lässt?«

Caspar lächelte mild. »Georg, mein treuester Freund und Helfer. Hab keine Bedenken, Anna! Unser Gott ist ein verzeihender und freundlicher Gott. Er hat dich auf den Pfad der Wahrheit und des Verstehens geführt. Sein Wille ist unser Denken, sein Vorbild ist unser Leben; er gibt und nimmt nach seiner Zeit und nicht nach der unseren.«

Anna durchzog ein Gefühl der Geborgenheit und Wärme.

Caspar hustete mehrmals, bevor er weitersprechen konnte. »Wir Menschen versuchen, nach Geboten und Verboten zu leben, die vor Gott keinen Bestand haben. Das Höchste vor Gott ist die Liebe; du hast einen Menschen geliebt, warum sollte er dich dafür bestrafen. Löse dich von dem Gefühl der Schuld, die durch eine Beichte getilgt werden kann. Jesus hat niemals davon gesprochen, einen Sünder zu bestrafen, sondern er hat allen vergeben. Frage dein Herz nach dem rechten Weg und nimm Gott in dich auf, damit erwirbst du dir das ewige Leben. Mein irdischer Pfad geht bald zu Ende.« Abermals wurde er von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. »Ich bete zu Gott, dass er mich in seine himmlische Wohnung aufnimmt. Sei ohne Sorge, Rehlingerin. Lebe mit deinem Mann das Wort Gottes und vertraue auf den Herrn.«

Anna drückte dankbar seine Hand an ihre Wange und begegnete seinem gütigen Blick. Sie spürte, dass dies ihre erste und gleichzeitig letzte Begegnung mit ihm sein würde. Die Schwester klopfte an die Tür, Anna stand auf und ging ein Stück beiseite.

Nach und nach kamen die Besucher herein und drängten sich um das Bett des Meisters. Sie begrüßten ihn und drückten ihm die Hände.

»Liebe Brüder und Schwestern in Christo«, begann er schließlich zu sprechen, »meine Kraft hat nachgelassen, meine Hände sind schwach und mein Geist ist müde. Herr, ich lobe und ehre dich, dass du mich so lange Zeit zu deinem Werkzeug gemacht hast. Nun weiß ich, dass alles, was ich gelehrt habe, das Deinige ist, und nichts davon widerrufen wird. Ihr werdet es in meinen Büchern finden. Meine Seele ruhe in Gott, dem Herrn. Ich empfehle euch alle dem Willen Gottes. Herr Jesus, ich empfehle mich deiner Gnade und Barmherzigkeit, Amen. Ihr Freunde, singt mit mir das Lied …«

Ein Hustenanfall erschütterte seinen geschwächten Körper, jedes Wort fiel ihm sichtlich schwer.

Die Schwester bat die Besucher, den Raum zu verlassen. Anna drängte sich durch die Menschen hindurch, die sich alle von Caspar verabschieden wollten, und ging nach unten in den Empfangsraum, wo sie auf die Medizinerin traf.

»Caspar geht es wohl sehr schlecht?«, fragte Anna vorsichtig.

»Er wird diese Woche nicht überleben, so schwer und bitter es sein mag, dies zu sagen. Keine ärztliche Kunst vermag ihn zu retten.«

»Gibt es denn gar keine Hoffnung?«

»Krankheit und Tod sind meine täglichen Begleiter. Die Kunst, das Leben zu verlängern, stößt irgendwann an eine Grenze.«

Anna seufzte tief und Agatha nahm sie in den Arm.

»Sei jetzt stark, Schwester. Trage die Gedanken und die Botschaft dieses Mannes hinaus in die Welt und schätze dich glücklich, diesen wunderbaren Menschen gekannt zu haben. Behüte dich Gott der Allmächtige!«

Anna verließ das Haus der Streicherin und begab sich in den »Goldenen Hirschen«. Löse dich vom Gefühl der Schuld, ging ihr immer wieder durch den Kopf. Caspar hatte ihr die Last genommen, sie fühlte sich frei und unbeschwert. Warum habe ich ihn nicht schon früher getroffen? Sie warf sich auf das Bett und weinte hemmungslos.

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25 mayıs 2021
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