Kitabı oku: «Mulaule», sayfa 2
Mittwoch / 10:15 Uhr
Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener schaute aus dem Fenster ihres Büros und schlürfte bereits ihren dritten Kaffee an diesem Morgen.
Seit einigen Tagen war es ungewöhnlich ruhig im Dezernat K11 des Offenbacher Kriminalkommissariats. Weder ein Brand- oder Waffendelikt und schon gar kein aktueller Mord, den es aufzuklären galt, landeten auf ihrem Schreibtisch. Auch ihr unmittelbarer Vorgesetzter Dr. Ludwig Lechner stürzte nicht, zwecks Infos, wie eine Tsunamiwelle über die Türschwelle. Es gab ja nichts, wonach er sich hätte erkundigen sollen.
Stattdessen hatten sie und ihr Team die Akten einiger alter und ungeklärter Fälle vor sich liegen. Angesichts der ruhigen Lage waren ihnen diese von höherer Stelle aufs Auge gedrückt worden.
Während Andreas Dillinger, ihr Lebensgefährte, sich im Archiv des Präsidiums seit Jahren mit Leidenschaft diesen sogenannten „Cold Cases“, widmete, blätterte Lars Hansen – Mitte des Jahres ebenfalls im Rang des Kriminalhauptkommissars – gelangweilt darin herum.
Hingegen war sein Kollege, Harald Weinert, recht froh über die nicht allzu anstrengende, wenn auch monotone Betätigung. Im Februar war er Vater geworden und hatte in den ersten Monaten kaum eine Nacht durchgeschlafen. Das normalisierte sich zwar – seine kleine Tochter schlief jetzt ganze sechs Stunden am Stück. Dennoch machte sich der monatelange ungewohnte Schlafrhythmus in Form diversen auffälligen Gähnens noch immer bemerkbar.
Nicole und Lars hatten dafür nur ein müdes Lächeln übrig und den weisen Spruch: So hattest du dir das nicht vorgestellt, oder?
„Wenn nach so langer Zeit ein Mord noch aufgeklärt wird, kann man schon von einem glücklichen Zufall sprechen“, murmelte Lars halblaut vor sich hin.
„Sag‘ das nicht“, widersprach Harald. „Du weißt doch selbst, dass es heute möglich ist, durch eine DNS-Analyse den oder die Täter, auch nach Jahrzehnten noch zu überführen.“
„Vorausgesetzt sie leben noch“, warf Lars ein.
„Selbst, wenn sie nicht mehr am Leben sind, ist es für die Angehörigen der Opfer immer ein Trost, wenn der Mörder ihrer Liebsten doch noch ermittelt wird, auch wenn er nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann.“
„Wenn du das sagst“, antwortete Lars unaufmerksam und blätterte in den Seiten der vor ihm liegenden dünnen Mappe.
„Was hat ein Vermisstenfall unter den ungeklärten Mordfällen zu suchen? Da ist dem Andy doch tatsächlich mal ein Fehler unterlaufen.“
„Kann ja mal passieren“, erwiderte Harald. „Gib her. Ich bring ihm die Akte zurück.“
In der Hoffnung, für kurze Zeit dem reizlosen Zeitvertreib zu entkommen, streckte er den Arm aus um die Unterlagen entgegenzunehmen. Doch Lars machte keine Anstalten diese seinem Kollegen auszuhändigen.
Stattdessen nuschelte er vor sich hin: „Das ist allerdings interessant. Es handelt sich um einen 17-jährigen Jungen, Daniel Hagemann aus Seligenstadt. Er ist fast genau heute vor 16 Jahren verschwunden und gilt bis dato als vermisst.“
„Aus Seligenstadt?“ Harald kam um den Tisch herum und beugte sich über die Schulter seines Kollegen.
***
Was ist nur mit den bösen Jungs los, sinnierte Nicole. Einen Moment ereilte sie die Illusion, die Welt hätte sich zum Guten gewandt und sie – sprich die Kriminalpolizei – würde nicht mehr gebraucht. Der törichte Gedanke entfloh ihrem Bewusstsein so schnell, wie er gekommen war.
Das wird nie passieren. Das menschliche Wesen ist nicht dafür geschaffen, auf immer und ewig friedlich miteinander umzugehen.
Ein Spruch, der Andy öfter mal rausrutschte; kein Wunder bei all den verstaubten Akten, von denen er umgeben war.
Als ihr Handy jetzt klingelte, zuckte sie zusammen und hätte fast ihren Kaffee verschüttet.
„Wegener“, meldete sie sich lässig. „Ja, ich wohne in Seligenstadt, wieso? ... Eine Tote? Sie machen Scherze?“
Der Kollege vom Kriminaldauerdienst versicherte mit müder, aber essigsaurer Stimme, dass er in Bezug auf Verstorbene nie Späße machen würde und auch sonst keinen Anlass dazu hätte.
Nicole wackelte mit dem Kopf und rollte mit den Augen. Nach dem dreiminütigen Gespräch, währenddessen sie sich Notizen machte, rief sie ins Nebenzimmer: „Jungs, wir haben einen Mord.“
„Au, fein“, kam die Antwort wie aus einem Mund von ihren Mitarbeitern und gleich danach von Harald: „Sorry, so war das nicht gemeint.“
Nicoles Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. „In Seligenstadt wurde eine Tote gefunden.“ Im gleichen Moment erwartete sie die bekannte Retoure, die auch sofort kam.
„Was? Schon wieder? Das ist nicht dein Ernst?“ Lars stand am Türrahmen und drohte mit dem Zeigefinger. „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, in diesen Ort zu ziehen. Leichen auf verlassenen Grundstücken. Leute, die vergiftet, erwürgt und anschließend gerädert werden.“
„Vergiss nicht die Spukgeschichten, die noch immer in dem Ort die Runde machen“, nahm Harald grinsend den Faden auf. Plötzlich war er hellwach. „Ich sage nur – der schwarze Mönch.“
„Ja, das Böse ist immer und überall“, konterte Nicole. „Obertshausen ist aber auch nicht gerade der Garten Eden, oder?“ Sie zwinkerte ihrem Kollegen kokett zu.
„Das nicht. Aber, lass mich überlegen. Wann gab es dort den letzten Mord? 2008 und davor 2003?“ Lars fuhr mit der Hand über seinen Dreitagebart und anschließend durch seine schulterlangen, braunen Haare.
„Wenn ich mich nicht irre, liegen immerhin 5 Jahre dazwischen. Ein kleiner Unterschied zu deinem auserwählten kuscheligen Domizil – jedes Jahr ein Mord.“
„Bevor dein Hirn qualmt, schnapp dir einen Dienstwagen. Harald und ich fahren mit dem Insignia, alles andere steht – soweit vorhanden – zu deiner freien Verfügung.“
In diesem Jahr hatte die Polizeibehörde ihren Fuhrpark um zehn Fahrzeuge erweitert und Nicole hatte sofort einen entsprechenden Antrag auf ein neues Auto gestellt. Zum Erstaunen ihrer Mitarbeiter wurde ihr und ihrem Team ein fabrikneuer Insignia zugeteilt.
„Übrigens, die Tote trägt die Seligenstädter Tracht“, rückte Nicole mit den ersten Infos heraus. „Soweit mir bekannt ist, findet aber zurzeit keine passende Festivität statt. Sprich du mal mit Josef Maier“, wandte sie sich an Harald. „Vielleicht kann er dir nähere Auskünfte geben.“
Nicole wusste, dass er sich, seit dem Leichenfund vor zwei Jahren in der NOTH GOTTES-Kapelle, sehr für die Historie Seligenstadts interessierte und deshalb engeren Kontakt mit dem Dienststellenleiter der Seligenstädter Polizei aufgebaut hatte.
„Wieso rücken wir nicht alle zusammen in einem Wagen an?“, erkundigte sich Lars.
„Harald und ich fahren anschließend direkt zur Rechtsmedizin nach Sachsenhausen. Dort liegt nämlich schon unsere Leiche. Der griesgrämige Kollege vom KDD informierte mich, dass er bereits die Staatsanwaltschaft benachrichtigt hat und die Obduktion für Punkt 15 Uhr angesetzt ist. Ich denke, da willst du nicht mit?“
Lars hob die Hände. „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“
„Dachte ich mir“, erwiderte Nicole lachend.
Ihr Kollege hatte eine, für einen Kriminalkommissar nicht unbedingt förderliche Abneigung Leichenöffnungen beizuwohnen, und sie nahm, soweit dies möglich war, darauf Rücksicht. Einmal wies sie sogar den Staatsanwalt, der verbal sein Unverständnis darüber zum Ausdruck brachte, mit der Bemerkung zurecht: Haben wir nicht alle unsere kleinen Macken?
„In der Kennedyallee haben sie wohl auch nicht viel zu tun“, kommentierte Harald die ungewöhnlich zügige Autopsie.
„Wenn wir nicht liefern, sind auch der Doc und sein Team arbeitslos“, konterte Nicole, mit einem Grinsen und nahm ihre Tasche und Jacke von der Rückenlehne ihres Bürosessels.
„Während ihr mit den Kalten ein Rendezvous habt, werde ich meine Beziehung zur elektronischen Datenverarbeitung intensivieren, sobald ihr mir Infos vorlegt“, bot Lars seine Dienste an.
„Clever“, raunte Harald seinem Kollegen zu.
„Dafür darfst du den Wagen holen, Harry“, rief der ihm hinterher, mitsamt einem Stift, der aber am Türrahmen abprallte und vor den Füßen von Dr. Ludwig Lechner landete.
Der Erste Kriminalhauptkommissar der Abteilung des K11 zog erschreckt den Kopf ein.
„Entschuldigung! Mein Kollege übt noch“, sagte Harald und bückte sich nach dem Schreibmaterial.
„Was?” Der Chef des K11 schaute seine Mitarbeiter befremdet an. „Also das ... eh, das wäre ja noch schöner. Eh ... also, weshalb ich hier bin. Wo wollen Sie eigentlich hin? Sie haben einen neuen Fall.“
Nicole schlängelte sich an ihrem Vorgesetzten vorbei. „Wir sind schon unterwegs.“
„Ja, aber Sie wissen doch noch gar nicht wohin?“ Dr. Lechner drehte sich halb um die eigene Achse.
„Nach Seligenstadt. Dort wurde eine Tote aufgefunden.“
„Es sei denn, Sie haben eine weitere Leiche für uns?“, ergänzte Nicole die Aussage von Harald.
„Eh, ja ... ich meine, natürlich nein. Eine Leiche pro Tag genügt ja wohl. Oder?“
Dr. Lechner wischte mit einem blütenweißen Batist-Taschentuch seine mit Schweißperlen bedeckte Stirn ab. Schuld dafür war nicht die stickige Luft in den Fluren des alten Polizeipräsidiums, das nie über eine Klimaanlage verfügt hatte und auch keine mehr erhalten würde, weil ein Neubau bereits in Planung war, sondern sein stetig steigender Blutdruck.
„Wir wurden gerade von den Kollegen des KDD unterrichtet“, beendete Nicole die sichtbar mentale Überbeanspruchung ihres Chefs. „Sobald wir mehr wissen, geben wir Ihnen sofort Bescheid, wie immer.“
„Ja, ja, tun Sie das. Ich weiß ja, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Frau Wegener. Viel Erfolg.“
Mit diesen lobenden und aufbauenden Worten schritt Dr. Ludwig Lechner, mit leicht hängenden Schultern, den Gang entlang.
„Viel Erfolg?“, wiederholte Lars, als sie alle drei im Fahrstuhl nach unten fuhren. „Was ist denn mit dem los?“
„Er überlebte gerade einen Anschlag durch einen Stabilo point“, antwortete Harald. „Wie würdest du darauf reagieren?“
„Hoffentlich behält er kein Trauma zurück“, lachte Lars.
„Jungs, bitte“, erwiderte Nicole. „Etwas mehr Respekt. Auch wenn Dr. Lechner manchmal etwas ... sonderlich ist, so ist er noch immer unser Chef.“
„Wie lange, glaubst du, wird er uns noch erhalten bleiben?“, fragte Harald. „Immerhin ist er auch schon 64 und längst pensionsberechtigt und, so ganz gesund sah er gerade auch nicht aus.“
Nicole zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hoffe aber noch ganze Weile. Bei ihm wissen wir zumindest woran wir sind. Was danach kommt, steht in den Sternen. Also, seid lieb zu ihm. Klar?“
„Klar, Chefin“, antwortete Harald.
„Genau wie zu dir“, setzte Lars nach. „Wir beide lieben dich sehr. Stimmt’s Harry?“
Nicole grinste. „Nicht nötig. Die Aufgabe hat Andy bereits übernommen.“
Mittwoch / 10:20 Uhr
Das große Haus hatte es möglich gemacht, dass sie zwischen zwei Räumen wählen konnte. Sie entschied sich für das Zimmer, von dem aus sie den Blick in den Garten hatte.
Nun schaute sie aus dem Fenster auf den von der Hitze des Sommers gezeichneten, nicht mehr ganz grünen Rasen und auf das schon herbstlich gefärbte Laub der Bäume.
Auf den Tag genau, vor einem Jahr, war die 63-Jährige aus dem ehelichen Schlafzimmer ausgezogen, was bei ihrem Ehemann auf Unverständnis stieß und letztlich in einem groben Wortgefecht, vonseiten ihres Gatten, endete.
Sie hätte wohl nicht mehr alle Sinne beisammen, schnaubte er wutentbrannt und drohte, sie aus dem Haus zu werfen, und zwar mittellos, sollte sie nicht zur Vernunft kommen.
Maria Hagemann verstand nicht wieso er, sogar in den eigenen vier Wänden, darauf bestand diese Farce aufrechtzuerhalten. Ebenso wenig konnte sie ergründen, woher sie plötzlich den Mut genommen hatte, ihm ins Gesicht zu schleudern, wenn er sie rauswerfen würde, sie allen erzählen würde, weshalb Daniel wirklich von zu Hause weggelaufen war.
Im ersten Moment war der Staatsanwalt a.D. sichtlich erschrocken. Noch niemals zuvor hatte es irgendwer gewagt, ihm zu drohen. Am wenigsten hätte er dies von seiner, bis dato gehorsamen, Ehefrau erwartet.
Mit einem hässlichen, aber unsicherem Lachen verließ er danach das Haus. Natürlich in dem unerschütterlichen Glauben, dass Maria bei seiner Rückkehr zur Besinnung gekommen sein würde.
Nur blieb sie diesmal stur, wie ihr Ehemann erkennen sollte. Genauso wie er sich, seit diesem Tag, mit der Tatsache abfinden musste, dass seine Ehefrau sich weigerte, weiterhin an Veranstaltungen teilzunehmen, an deren Organisation er maßgeblich beteiligt war, oder dessen Vorsitz er ehrenamtlich innehatte. Wodurch sich Heinz Hagemann gezwungen sah, die Abwesenheit seiner Frau immer wieder durch neue Ausreden entschuldigen zu müssen.
Nach 40 Jahren Ehe, in denen Maria sich stets seinen Wünschen untergeordnet hatte, ohne zu widersprechen, brach für ihn eine Welt zusammen.
Eine Ehefrau hatte ihrem Ehemann Folge zu leisten! So war es schon bei seinen Eltern, bei ihren ebenso und den Generationen davor. Die zwangsläufig enge Verbindung zur Kirche, mit ihren christlichen Dogmen, denen sie beide ebenfalls von Haus aus anhingen, tat das Restliche dazu.
Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass Maria Hagemann, nachdem ihr einziger Sohn, von zu Hause weggelaufen war, ihr Heil und ihre Kraft in Gebeten und dem fast täglichen Kirchgang suchte.
Anfangs hatte sie die Hoffnung, wenn sie nur intensiv genug zu Gott dem Herrn betete, würde ihr Sohn bestimmt wieder heimkehren. Aber ihre Gebete wurden nicht erhört und ihr Ehemann tat sein Möglichstes, Salz in ihre Wunden zu streuen.
Du hast ihn verweichlicht, zu einer Memme verzogen, sonst hätte er das niemals getan, so seine, sich beinahe täglich wiederholende Anklage, die nur darauf zielte, seine eigene Fehlerhaftigkeit zu verbergen. Dabei wusste Maria seit Jahrzehnten von seinem Geheimnis. Sie sprach nur nie darüber – verdrängte es und ertrug ihr Schicksal. Was blieb ihr anderes übrig.
Nach wie vor kochte sie, hielt das große Haus sauber, in dem sie sich nie richtig wohl gefühlt hatte und versorgte den Garten – ihre einzige Freude.
Maria Hagemanns Umdenken und somit auch ihr Widerstand gegen ihren Ehemann begann an dem Morgen, an dem sie, nach mehr als 19 Jahren, einen Brief von ihrem Sohn in den Händen hielt. Sie konnte es kaum glauben und dennoch hatte sie es in ihrem Inneren immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde.
Entgegen allen Äußerungen aus ihrem Umfeld – ihr Sohn wäre vermutlich nicht mehr am Leben, womöglich sogar Opfer eines Triebtäters geworden – hatte sie nie wirklich daran gezweifelt, dass Daniel sich eines Tages wieder bei ihr melden würde.
In krakeligen Buchstaben entschuldigte er sich dafür, sich in all den Jahren nicht gemeldet zu haben. Oft hätte er Anlauf genommen, aber in letzter Minute der Mut verlassen. Jetzt hätte eine Entscheidung getroffen, die sein kommendes Leben beeinflussen würde. Eine nähere Erklärung würde er ihr gerne persönlich mitteilen, wozu er noch etwas Zeit benötigte.
Nachfolgend schilderte Daniel sein Lebensweg, seit dem Zeitpunkt, als er mit 17 Jahren von zu Hause weggegangen war.
Gelegenheitsjobs, um über die Runden zu kommen – ein kleines Zimmer, bei einem netten Ehepaar in Frankfurt. Später – eine Lehre als Schreiner, dann Prüfung zum Meister – Umzug nach Mainz, wo er seit mehr als 10 Jahren in einer glücklichen Beziehung sei und in einem Architektenbüro arbeite.
Maria fühlte Erleichterung und Stolz, dass Daniel es trotz der widrigen Umstände geschafft hatte, sich ein neues Leben aufzubauen. Gleichzeitig beschlich sie Furcht. Was war in den letzten Monaten passiert? Welche Entscheidung meinte ihr Sohn und weshalb suchte er gerade jetzt den Kontakt zu ihr? Sollte er vielleicht schwer krank sein, möglicherweise Krebs haben, eine Knochenmarkspende benötigen oder brauchte er eine Organspende?
Sie malte sich die schlimmsten Dinge aus. Ihr Herz schien zerspringen zu wollen und ihre Augen brannten. Aber, da kamen keine Tränen, die ihre jahrelangen Qualen hätten mildern können. Dagegen verspürte sie eine niemals gekannte und nicht für möglich gehaltene Wut auf ihren Ehemann, der nie würde erfahren dürfen, dass Daniel Kontakt zu ihr aufgenommen hatte und ab jetzt, wie er ihr mitteilte, regelmäßig schreiben wollte.
Noch in der gleichen Stunde eröffnete Maria Hagemann ein Postschließfach auf ihren Namen und teilte Daniel die Daten mit. Seit jenem Tag fuhr sie jeden Dienstagmorgen mit ihrem Fahrrad zum Postamt, und nie wurde sie enttäuscht.
In freudiger Erwartung auf Neuigkeiten öffnete sie auch an diesem Morgen die Nachricht von ihrem Sohn. Dabei fiel ein weiterer Brief heraus, adressiert an ihren Ehemann. Verwundert legte Maria diesen zuerst einmal auf den Beistelltisch und widmete sich, denen für sie bestimmte Zeilen.
Sie erschrak.
Daniel schrieb, dass ihm der Bericht über die bevorstehende Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an seinen Vater in die Hände gespielt worden war; von wem wüsste er nicht.
Wie kann so etwas möglich sein??
Die doppelten Fragezeichen und der zusätzlich unterstrichene Satz führten Maria klar vor Augen, wie entsetzt ihr Sohn war.
Sollte sein Vater nicht selbst die Initiative ergreifen und dieser schändlichen Farce ein Ende bereiten, so teilte Daniel mit, würde er nicht mehr länger schweigen. Alle Welt würde erfahren, welch ein Mensch Heinz Hagemann wirklich ist.
Maria ließ die Blätter in ihren Schoß sinken.
Hatte sie schon wieder einen Fehler gemacht, indem sie Daniel verschwieg, dass diese Verleihung bevorstand? Sie wollte ihn doch nur schützen. Im gleichen Moment fragte sie sich, wer ihrem Sohn diesen Zeitungsartikel zugespielt haben könnte.
Alle seine Schulfreunde – insbesondere Oliver Krug – sein damals bester Freund, hatten den Kontakt schnell abgebrochen, ebenso dessen Eltern, nachdem Daniel verschwunden war,
Maria bemerkte diese misstrauische Distanz jeden Samstag, wenn sie zum Markt unterwegs war und die Krugs sowie auch andere Eltern ehemaliger Klassenkameraden ihr über den Weg liefen, oder eher aus dem Weg gingen.
Anfangs schmerzte es sehr, dass sie nicht ein tröstliches Wort von den Leuten, gerade von den Krugs, zu hören bekam. Andererseits konnte sie es ihnen nicht verübeln. Olivers Eltern machten Heinz Hagemann für den Absturz ihres Sohnes in die Kriminalität verantwortlich; was vielleicht auch teilweise stimmte.
Im Alter von 16 Jahren wurde Oliver in einem Musikgeschäft ertappt, als er einige Tonbandkassetten stehlen wollte. Richter Friedhelm Hanke, ein ehemaliger Unteroffizier, folgte wie fast immer, dem Antrag seines Staatsanwalts, Heinz Hagemann und verurteilte den Jungen zu einer 3-monatigen Jugendstrafe, aus der er traumatisiert zurückkam.
Über das, was damals in diesem Jugendgefängnis passiert war, schwieg Oliver eisern, wurde aber immer wieder straffällig und wegen Einbruch und Diebstahl festgenommen. Vor einigen Jahren sogar aufgrund der Vergewaltigung an einer jungen Frau.
Wohl wissend, dass es Ärger bedeutete, öffnete Maria nun auch den Brief, der an ihren Mann adressiert war.
Schon die Anrede: – An Herr Hagemann – nicht Heinz Hagemann oder gar Vater, verriet Daniels ungeheuren Groll.
Wenn du dachtest, ich wäre gänzlich aus deinem Leben verschwunden an jenem Tag vor genau 20 Jahren, muss ich dich enttäuschen, erneut! Ich lebe und es geht mir gut. Allerdings vermute ich, es interessiert dich nicht und es ist auch nicht der Grund weshalb ich dir, nach all der Zeit, schreibe.
Aber, stopp! Bevor du jetzt das Blatt aus lauter Wut zerreißt, solltest du doch lesen, was ich dir zu sagen habe, denn dein weiteres, so „hochanständiges“ Leben könnte davon abhängen.
Ich wurde davon unterrichtet, dass dir das Bundesverdienstkreuz verliehen werden soll, für besondere aufopferungsvolle ehrenamtliche Tätigkeit zum Wohle deiner Mitmenschen.
Ich dachte, es verschlägt mir die Sprache!
Wer kommt denn auf eine solche Idee, fragte ich mich. Doch dann erinnerte ich mich wieder daran, wie sehr du schon immer Leute beeinflussen konntest. Wie man sieht, hast du nichts verlernt, aber auch nichts dazugelernt.
Ich gebe dir einen guten Rat: Nimm diese Auszeichnung nicht an, oder du wirst es bereuen!
Es ist leichter, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr maßzuhalten.
PS. Du hast Nietzsche oft zitiert, dich aber nie an seinen Weisheiten orientiert.
Daniel.
Es ist leichter, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr maßzuhalten.
Nachdem Maria Hagemann die Zeilen erneut gelesen hatte, ging sie nach unten in die Küche und legte den Brief auf den Tisch, neben den Frühstücksteller ihres Ehemanns.
Kurzfristig wunderte sie sich, dass er noch immer nicht aufgestanden war, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken darüber und öffnete die Terrassentür zum Garten.
Das Laub auf dem Rasen musste weg.