Kitabı oku: «Mulaule», sayfa 6
Mittwoch / 17:05 Uhr
Mit federnden Schritten rannte Kriminalkommissar Harald Weinert die Treppen hinunter in die Katakomben, wie die Asservatenkammer des Offenbacher Polizeipräsidiums scherzhaft genannt wurde, aber so rein gar nichts mit einer Gruft, im herkömmlichen Sinn, zu tun hatte.
Im Büro von Andreas Dillinger spendeten zwei große, bodentiefe Fenster reichlich Tageslicht und gaben den Blick auf einen gepflegten Rasen und Begrünung auf Büsche und Sträucher frei. In den hinteren Räumlichkeiten, die nur durch Neonlampen beleuchtet wurden und keine Fensterscheiben hatten, war es zweifellos weniger heimelig.
„Hallo Andy. Ich brauche deine Hilfe“, rief Harald Weinert, kaum, dass der Summer ertönte und er die Tür geöffnet hatte.
Der saß an seinem Schreibtisch, blickte auf und zwang sich ein Lächeln ab. „Womit kann ich den Bekämpfern der Kriminalität dienen?“
„Es geht um diesen Vermisstenfall.“ Harald legte ihm die Akte von Daniel Hagemann vor. „Woher wusstest du, dass der Vermisste der Sohn von unserem neuesten Opfer ist? Und warum so geheimnisvoll?“
„Wie ... eh, wie kommst du an die Akte?“
Harald runzelte die Stirn. „Na, die hast du uns doch untergejubelt.“
Andreas Dillinger schüttelte den Kopf.
„Nicht? Verstehe ich nicht.“
„Ich verstehe es noch weniger“, entgegnete Andy. „Ich habe nur festgestellt, dass die Akte verschwunden ist. Das war vor etwas mehr als einer Stunde. Seitdem durchsuche ich sämtliche Regale.“
„Verschwunden?“, wiederholte Harald. „Wie kann so etwas passieren und weshalb gerade diese Akte?“
„Das könnte tatsächlich mit eurem aktuellen Mordfall zu tun haben. Als ich vorhin kurz in der Cafeteria war, habe ich den Artikel über die bevorstehende Auszeichnung von Staatsanwalt Heinz Hagemann gelesen. Ich dachte noch so – guck an, auch nach seiner Pensionierung macht er Schlagzeilen. Dann ... ich weiß nicht wieso, kam mir blitzartig der Vermisstenfall Daniel Hagemann in Erinnerung. Du weißt, ich habe eine Art Elefantengedächtnis.“
Das konnte Harald nur bestätigen. Wann immer alte Unterlagen für einen aktuellen Fall benötigt wurden, brauchte Andy nur ein paar Anhaltspunkte, um die entsprechenden Beweisstücke in den Unmengen im Archiv zu finden.
„Wegen der Namensgleichung und aus lauter Neugier wollte ich einfach mal in die Akten sehen“, fuhr Andy fort. „Aber, als ich sie aus dem Regal holen wollte, wo sie ordnungsgemäß hätte sein sollen, war sie verschwunden; einfach weg.
Zuerst konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Dann erinnerte ich mich an einen seltsamen Vorfall, letzte Woche und hatte so eine Vermutung, der ich auf den Grund gehen wollte. Schließlich kann es mich den Job kosten, wenn Beweisstücke aus meinem Archiv abhandenkommen.“
„Du sprichst in Rätseln, mein Freund“, erwiderte Harald.
„Ich glaube, es war letzten Dienstag, da kam eine uniformierte Kollegin – ich hatte sie zuvor noch nie gesehen – mit einem Beschluss der Staatsanwaltschaft zur Akteneinsicht in einem Vergewaltigungsfall. Ich konnte aber die Akte nicht finden und dachte an einen Zahlendreher bei der Angabe des Aktenzeichens; kann ja mal vorkommen. Allerdings hatte ich eine ganze Weile in den hinteren Regalreihen gesucht und die Kollegin war in dieser Zeit alleine hier vorne. Verstehst du jetzt?“
Harald schüttelte den Kopf. „Nicht so richtig.“
„Harald! Es kann nur die Polizistin gewesen sein. Sie hat die Akte entwendet.“
„Wieso sollte sie das tun? Kann es nicht doch sein, dass du vielleicht, versehentlich, die ...?“
„Ich sagte dir doch, dass ich alles sehr gründlich abgesucht habe. Und, wenn ich gründlich sage, meine ich auch gründlich. Aber nichts.“ Andy streifte mit der Hand durch seine dichten dunkelbraunen Haare.
„Du führst doch aber Buch darüber, an wen du Unterlagen herausgibst. Dann müsste doch eine Unterschrift ...“
„Nur, wenn ich tatsächlich Akten aushändige. So aber ... habe ich keine Akte herausgegeben. Ich kann mich nur daran erinnern, dass die junge Frau sehr attraktiv war, etwa 25 Jahre, 1 Meter 70 groß und sie hatte lange braune Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden.“
„Zumindest hast du sie dir genau angesehen, wie mir scheint“, neckte Harald und entlockte Andy damit ein kleines Lächeln.
„Lara, nein Laura. Ja, Laura Simon. Ich bin mir sicher, das ist ihr Name; zumindest gab sie den mir gegenüber an.“
„Dann lass uns doch gleich mal in den Personalakten nachschauen.“
Andy schüttelte den Kopf. „Habe ich bereits versucht … keine Befugnis.“
„Ich aber“, entgegnete Harald und klopfte auf die Tastatur von Andys Computer ein.
„Eine Laura Simon ist in den Personalakten nicht geführt“, lautete Sekunden später seine ernüchternde Auskunft.
„Das gibt es doch nicht. Ich bin mir ganz sicher, dass Laura Simon auf dem Schreiben stand“, beharrte Andy.
„Dann ist der Name vermutlich ebenso falsch, wie das Formular zur Aushändigung der Akte“, stellte Harald sachlich fest.
„Wie konnte mir das nur passieren? Ich werde den Vorfall sofort melden.“
„Warum? Die Akte ist doch wieder da und keiner, außer uns beiden, weiß etwas davon. Oder hast du mit noch jemandem darüber gesprochen?“
Andy verneinte.
„Dann schlage ich vor, wir behalten das erst einmal für uns. Nur Nicole sollten wir, bei Gelegenheit, einweihen. Schon deshalb, weil sich jemand ja wohl auch unbefugt in unseren Büros rumgetrieben hat. Aber das hat noch Zeit.
Momentan ist sie mit Lars unterwegs zur Ehefrau unseres Opfers. Ach ja, das sollte ich dir mitteilen: Sie bleibt dann auch gleich in Seligenstadt und erwartet dich zum Abendessen.“
Harald Weinert schaute auf die große Bahnhofsuhr an der seitlichen Wand. „Bis dahin haben wir noch genügend Zeit zum eigentlichen Grund meines Hierseins zu kommen. Ich muss mich durch Hagemanns Arbeitsleben, als auch durch sein Privatleben wühlen und könnte dabei deine Hilfe gebrauchen, falls du etwas Zeit hast.“
„Ja, schon. Aber ist das Nicole recht?“
„Unser Boss hat sogar vorgeschlagen, dich einzubeziehen.“ Haralds Grinsen war das eines kleinen Jungen, der einem Erwachsenen etwas abgeluchst hatte, das er eigentlich nicht bekommen sollte.
„Aber lass uns dazu nach oben gehen. In unserem Büro stehen uns mehr als ein Computer zur Verfügung; ist effektiver und das Büro sieht nicht so verwaist aus und …“
„Ist ja gut“, beendete Andy Haralds schon beinahe verzweifelten Versuch, der Unterwelt zu entkommen.
„In erster Linie interessiert uns, welche schweren Jungs Hagemann während seiner Karriere hinter Gitter gebracht hat und die nun wieder auf freiem Fuße wandeln und sich womöglich rächen wollen. Sein privates Umfeld sollten wir auch nicht außer Acht lassen. Ebenso die früheren Kollegen; sei es in seiner Zeit in Seligenstadt, als auch am Landgericht Darmstadt.“
Harald wies Andy den Arbeitsplatz von Lars zu.
„Unser Kleiner konnte schon Einiges über Hagemann recherchieren. Die Ausdrücke liegen hier.“
Andy überflog den Text, während Harald sich erneut der Vermisstenakte von Daniel Hagemann widmete.
„Karate! Kaum zu glauben, wenn man das zarte Gesicht sieht. Er hat so etwas feminines an sich.“
Harald hielt Andy die Seite mit dem Foto des damals 17-Jährigen entgegen. „Kann es nicht doch eine Entführung mit anschließendem Mord gewesen sein?“
„Auch wenn der Junge nicht so aussieht. Karate ist ein Kampfsport, den er, schau, hier steht es“, Andys Zeigefinger ging zu der Zeile in dem Protokoll, „schon mehr als drei Jahre ausführte. Glaube mir, der hätte sich bestimmt gewehrt.
Mich macht aber etwas ganz anderes stutzig. Laut Daniels Lehrern und auch nach Aussage seiner Mutter, Maria Hagemann, waren Daniel und sein Freund, ein gewisser Oliver Krug, die besten Freunde. Würdest du“, wandte Andy sich an Harald, „nicht deinem besten Freund erzählen, wenn du von zuhause weglaufen willst und vor allem warum?“
„Glaube schon“, stimmte er ihm zu.
„Seine Mutter sagte aus, dass keinerlei Kleidungsstücke in Daniels Schrank fehlten. Auch hätte er, in der Schule, nie Geld bei sich gehabt und an sein Sparbuch wäre er nicht herangekommen. Das, so stellte die Polizei damals auch fest, gut verwahrt im Tresor seines Vaters lag. Ich meine … die Jungs waren in einem Alter, in dem man doch schon darüber nachdenkt, wie man ohne Geld auskommen soll.“
„Sollte man annehmen“, pflichtete Harald ebenfalls bei. „Wenn ich dich richtig verstehe, willst du damit andeuten, dass die beiden diesen Schritt zusammen geplant haben?“
Statt einer Antwort senkte Andy erneut seinen Kopf in die Unterlagen. „Laut seinen Lehrern ist Daniel pünktlich in der Schule angekommen und verließ diese auch wieder mit seinem Freund, Oliver Krug. Anschließend, so Oliver Aussage, wollte Daniel zur Karatestunde.“
„Er hätte also mehr als eine oder eineinhalb Stunden Zeit gehabt zu verschwinden ohne, dass jemand etwas bemerkt hätte“, spann Harald den Faden weiter.
„Was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann ist, dass Heinz Hagemann nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um seinen Sohn zu finden. Ich meine …“
„Mit dieser Eingebung bist du nicht alleine“, unterbrach ihn Harald. „Lars warf den Gedanken auch schon in den Raum.“
„Ich meine“, fuhr Andy fort, „wenn ich mir vorstelle, dass mein Sohn, wenn ich einen hätte ...“
„Was nicht ist, kann ja noch werden“, wurde er von Harald erneut unterbrochen.
„Glaube ich kaum. Also, wenn mein Kind von einem auf den anderen Tag verschwinden würde, dann würde ich doch alle mir zur Verfügung stehenden Mitteln nutzen um die Suche voranzutreiben. Als Staatsanwalt hatte Hagemann doch mehr Möglichkeiten als ein Normalbürger. Aber die Suche wurde, nach nur wenigen Wochen eingestellt und wie es aussieht, ohne Widerspruch von Seiten der Hagemanns. Ich sage dir, in dieser Familie lief etwas absolut nicht rund.“
Der schiefe Blick von Andy, erinnerte ihn stark an Nicoles Miene, wenn sie so ein Bauchgefühl hatte.
„Wenn du so guckst, erinnerst du mich an Nicole“, sagte Harald dann auch prompt. „Ihr werdet euch immer ähnlicher.“
„Schön“, erwiderte Andy. „Dann stimmt es was der Volksmund sagt; dass bei einer guten Partnerschaft manche Eigenheiten auf den jeweils anderen abfärben.“
„So, sagt das der Volksmund?“ Haralds Mundwinkel zuckten. „Aber, ich denke du hast recht. Es könnte sein, dass Oliver seinem Freund geholfen hat und vielleicht Kleidung, Geld, et cetera irgendwo deponiert hatte.“
Mittwoch / 17:00 Uhr
„Guck mal“, Herbert griff in seine Jackentasche. „Ich hab dir e Handy mitgebracht. Is eins von meine alte und net es neueste Model. Damit kommst de aber erst mal über die Runde, bis die Elfi dir e neues kauft.“
Neugierig kam Leon näher und betrachtete das Handy. „Cool. So eins habe ich neulich bei uns auf dem Trödelmarkt gesehen.“
„Ich hab doch gesagt, es ist nicht das neueste Modell“, entgegnete Herbert mit leicht säuerlicher Miene.
„Entschuldigung Herr Walter.“ Leon senkte den Kopf. „Ich wollte ihr Handy nicht schlecht reden. Haben Sie noch mehrere davon?“
„So drei oder vier. Wieso?“ Augenblicklich erinnerte er sich an eine ähnliche Reaktion eines Jugendlichen vor einigen Jahren und lächelte. „Scheint wohl wieder hip zu sein?“
„Was? Ach so ja. Sie meinen die Teile sind wieder gesucht“, erwiderte Leon.
„Ich hab dir auch gleich a Telefonkarte eingesetzt und mit 20 Euro aufgelade“, wandte er sich Sepp zu. „Den Vertrag musste ich halt auf mich abschließe, sonst wär des net gegange, wege der Unterschrift.“
Mit skeptischem Blick betrachtete Sepp das Mobiltelefon und dachte: Eischentlich schee vom Herbert, dass der sich so kimmert. Awer, des is aach so en Techniknarr. Vielleicht hot der do e Wanze oigebaut und kann heern, mit wem ich telefonier.
Die Vorstellung, seine Gespräche könnten belauscht werden, verunsicherten ihn. Auf der anderen Seite wusste er nicht, wann Elfi wieder in der Stimmung wäre, ihm ein neues Telefon zu kaufen. Außerdem, wenn Leon das Handy schon cool befand, was sollte er dagegen haben?
„Und, was sagst du?“, fragte Herbert nach.
„Macht des aach Bilder? Des brauch isch unbedingt. Mir zwaa“, Sepp wedelte mit seinen bandagierten Fingern zwischen sich und seinem Enkel hin und her, „schicke uns dauernd Bilder und so was. Stimmt’s Leon?“
Der nickte.
„Klar, kannst de damit auch fotografieren“, bestätigte Herbert.
Jetzt grinste Sepp zufrieden. „Du musst mir awer noch zeische, wie des funktioniert. Des soll ja bei jedem von dene Dinger annerster soi, gell Leon?“
„Und ich hab schon gedacht, du traust mir net.“
Listig schaute Herbert seinen Nachbarn an und Sepp zuckte, wie bei einem Dummen-Jungen-Streich erwischt, zusammen.
„Nadirlich trau isch dir. Was glaabst de dann von mir?“
Sepp nahm das Mobiltelefon entgegen, als sei es eine sakrale Reliquie, was vornehmlich aber seinen verbundenen Fingern geschuldet war.
Mittwoch / 17:05 Uhr
Im zweiten Kreisverkehr nach der Autobahnabfahrt bog Nicole rechts in die Straße, in der das Haus der Hagemanns stand und fand auch einen geeigneten Parkplatz. Heute wäre sie gerne noch einmal um den Block gefahren, um das Unvermeidliche für einige Minuten hinauszuschieben.
Trotz all der Jahre, in denen sie schon öfter mit dieser unerfreulichen Aufgabe konfrontiert worden war, machte sich noch immer ein ungutes Gefühl in ihrer Magengegend breit.
Wie würde die Witwe, die noch nicht wusste, dass sie ab sofort eine war, auf den plötzlichen Tod ihres Ehemanns reagieren?
Ein stummer Zusammenbruch wäre das Schlimmste, was passieren konnte. Dann bestünde für Nicole und Lars erst einmal keine Chance, auf ihre dringlichen Fragen eine Antwort zu erhalten. Sie hätten lediglich eine unheilvolle Nachricht überbracht und müssten unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Oder aber ein kurzer heftiger Nervenzusammenbruch? Für ihre Ermittlungen wäre es jedenfalls hilfreicher. Nicole hatte festgestellt, dass insbesondere Frauen sich nach dem ersten Schock schnell wieder im Griff hatten; sich sogar für ihre außer Kontrolle geratene Emotion entschuldigten. Die anschließende Befragung war dann meistens erfolgreich.
„Da ist wohl niemand zuhause.“ Lars zeigte auf die offenstehende Garage, in der kein Auto stand.
„Vielleicht haben die Hagemanns überhaupt keinen Wagen und nutzen den Platz anderweitig; soll vorkommen“, widersprach Nicole. „Zumindest stehen dort zwei Fahrräder. Gehen wir’s an.“
Das Haus, vermutlich in den Siebzigern erbaut, machte einen gepflegten Eindruck. Das Gras im Vorgarten war nach Wimbledon-Art kurz geschnitten und die Edeltanne stand exakt, kerzengerade zwischen den beiden Fenstern der Vorderfront.
Ein kleines, bronzefarbenes Namensschild auf dem mit braungelben Klinkern versehenen Pfosten gab Auskunft darüber, dass hier Heinz und Maria Hagemann wohnten.
Nicole setzte ihren Zeigefinger auf den Klingelknopf. Schrill bohrte sich das blecherne Geräusch in jeden Winkel im Haus. Dennoch summte weder ein Türöffner, noch ließ sich eine Menschenseele blicken. Ein erneuter Versuch blieb ebenfalls erfolglos.
„Niemand zu Hause. Sagte ich doch.“ Lars machte Anstalten wieder zum Auto zurückzugehen.
Dann aber hörten die Beamten ein Schaben und Kratzen. Nicole beugte sich über das niedrige Türchen der Einfriedigung aus silberfarbenem Metall und drückte den inneren Türgriff.
„Ist das nicht widerrechtliches Betreten?“, fragte Lars mit in Falten gezogener Stirn.
Kommentarlos ging Nicole weiter zu dem schmiedeeisernen Tor, das genau in die, im Halbrund gemauerte Umrahmung passte und den vorderen vom hinteren Teil des Grundstücks trennte.
Wie sie feststellte, war dieses abgeschlossen, weshalb sie durch das Gitter blickte.
Eine Frau mit kurzen grauen Haaren, häufte mit einem Rechen Blätter zusammen.
„Hallo! Frau Hagemann?“, rief Nicole. „Bitte, nicht erschrecken. Wir sind von der Polizei. Können wir Sie einen Moment sprechen?“
Die Frau hob den Kopf, drehte sich um und kam zügig auf die Beamten zu. „Polizei? Was wollen Sie hier und wie kommen Sie hier herein?“
„Wir haben geklingelt, aber niemand hat geöffnet“, antwortete Lars.
„Aha. Und dann kommen Sie einfach so, mir nichts dir nichts, auf unser Grundstück? Das ist Hausfriedensbruch; auch wenn Sie von der Polizei sind. Verschwinden Sie sofort oder ich rufe meinen Mann.“
„Frau Hagemann. Darüber ... also über Ihren Mann, wollten wir mit Ihnen reden“, erwiderte Nicole und hielt ihren Polizeiausweis hoch.
Fast wäre Lars herausgerutscht: kein Grund zur Aufregung. Was natürlich völliger Humbug gewesen wäre. Stattdessen sagte er: „Können wir uns vielleicht, ohne diese Tür zwischen uns, unterhalten?“
Frau Hagemann taxierte die Kriminalbeamten noch einmal mit einem skeptischen Blick, öffnete aber dann die Gartentür mit einem Schlüssel, den sie aus ihrer Schürze holte.
„Kommen Sie.“ Sie ging voraus zur Terrasse. „Ich will sehen, wo mein Mann ist. Bitte.“
Ihre Geste deutete an, die Ermittler möchten auf den Gartenmöbeln Platz nehmen.
„Frau Hagemann ...“
Nicole fasste Lars am Ärmel und schüttelte den Kopf.
„Heinz!“ Maria Hagemann verschwand im Inneren des Hauses. Ihr Rufen wie auch ihre Schritte verrieten, dass sie in den oberen Stock ging. Nach kurzer Zeit kam sie zurück und sah die Beamten ungläubig an.
„Er ist nicht hier. Mein Mann ist nicht hier. Ich dachte, er liegt noch im Bett, was an und für sich schon ungewöhnlich wäre, denn er ist ein Frühaufsteher. Aber sein Bett ist unberührt.“
Frau Hagemann eilte in die Küche. „Genauso wie sein Frühstück. Ich verstehe das nicht.“
Nicole und Lars folgten ihr und registrierten, wie sie hastig etwas vom Tisch nahm und in der Tasche ihrer Schürze verschwinden ließ.
„Wie kommt es, dass Sie die Abwesenheit Ihres Mannes nicht bemerkt haben?“, erkundigte sich Lars.
„Ach wissen Sie, mein Mann ist fast jeden Abend bei irgendeiner Versammlung, in einem seiner vielen Vereine, in denen er tätig ist und kommt entsprechend spät heim. Wir haben deshalb getrennte Zimmer“, fügte Maria Hagemann hastig hinzu.
„Dann haben Sie Ihren Ehemann also gestern Abend zum letzten Mal gesehen?“, fragte Nicole.
„Eh was? Nein. Eigentlich gestern beim Mittagessen. Danach ist er weggefahren. Ich weiß nicht wann er zurückgekommen ist. Ich war in meinem Zimmer. Das geht zum Garten hinaus. Außer der Klingel höre ich da nichts.“
„Beim Abendessen haben Sie Ihren Mann nicht vermisst?“, forschte Nicole weiter.
„Abends isst Heinz immer auswärts, mit irgendwelchen Leuten aus seinen Vereinen.“
„Bei welchem Verein oder Versammlung war Ihr Mann gestern?“
„Ach, was weiß ich denn? Ich frage schon lange nicht mehr nach. Vielleicht liegt sein Terminkalender oben auf dem Schreibtisch, falls er ihn nicht mitgenommen hat.“
Die Gleichgültigkeit in der Stimme der Frau war für die Beamten nicht zu überhören.
Doch plötzlich fragte sie: „Ist etwas passiert? Ja, sicher ist etwas passiert, sonst wären Sie nicht hier.“
Nicole holte tief Luft. „Frau Hagemann. Ihr Mann wurde heute Morgen tot aufgefunden. Wir können ein Gewaltverbrechen nicht ganz ausschließen.“
Weder brach die Frau in Tränen aus, noch schrie sie auf. Sie sank lediglich auf einen Küchenstuhl, griff dann nach der Tasse, die offenkundig für ihren Mann dort stand und schenkte sich, aus der bereitstehenden Thermoskanne, Kaffee ein.
„Möchten Sie auch?“, richtete sie mechanisch die Frage an die Kriminalbeamten.
„Nein, danke“, sagte Nicole und setzte sich ebenfalls an den Tisch.
„Ihr Mann wurde am ehemaligen Wehrturm am Mainufer gefunden, in Höhe der Hospitalstraße.“
Die merkwürdige Bekleidung erwähnte sie erst einmal nicht. „Wissen Sie, was er dort wollte?“
„An der Mulaule? Warum dort?“ Zuerst schüttelte Maria Hagemann den Kopf, dann traf die Beamten ein leerer Blick. Anschließend trat Stille ein.
„Frau Hagemann. Sie erwähnten gerade einen Terminkalender.“
„Ja, natürlich.“ Es kam wieder Leben in die Frau. „Kommen Sie.“
Nicole und Lars folgten ihr die Treppe in den ersten Stock hinauf, in das Büro ihres Mannes.
Hatten die Kommissare eine verstaubte, aus den Siebzigern stammende Möblierung wie im Untergeschoss erwartet, so wurden sie enttäuscht. Der gesamte Raum bestand zum Großteil aus Regalen und Schränken aus einem bekannten schwedischen Möbelhaus. Nur eine Vitrine im Biedermeierstil, in der, dem Anschein nach, wertvolle Bücher aufbewahrt wurden, zierte eine Seitenwand.
Frau Hagemann ging schnurstracks auf den Schreibtisch zu, auf dem ein großer PC-Bildschirm fast den gesamten Platz einnahm. Auf der restlichen Fläche lagen streng nebeneinander Block, Stifte, ein Locher und eine Heftmaschine und besagter Terminkalender.
Ohne selbst einen Blick hineinzuwerfen, reichte sie ihn an Nicole weiter.
Am Dienstag, dem 17. Oktober 2017, waren insgesamt drei Termine, in sorgsamer, gut lesbarer Handschrift eingetragen.
10:30 Uhr – Bank
16:00 Uhr – O. K.
19:00 Uhr – Golf Klub
„Hier steht, Ihr Mann hatte gestern Morgen einen Termin bei der Bank. Wissen Sie, um was es da ging?“
Maria Hagemann schüttelte den Kopf. „Um die Bankgeschäfte kümmerte sich Heinz immer selber.“
„Was bedeutet O. K.?“, richtete Nicole erneut die Frage an die jetzige Witwe und deutete auf den Eintrag.
Die zuckte mit den Schultern und machte auch sonst nicht den Eindruck, als würde es sie interessieren, womit ihr Ehemann sich die Zeit vertrieb.
Wenn Hagemann zwischen 17 und 20 Uhr nicht mehr am Leben war, konnte er den letzten Termin, 19 Uhr im Golf Klub, nicht wahrgenommen haben. Wohl aber den um 16 Uhr mit O. K., überlegte Nicole.
„Hatte Ihr Ehemann Feinde?“, fragte sie geradeheraus.
Frau Hagemann gab einen undefinierbaren Ton – es hörte sich beinahe wie ein Lachen an, aber auch wieder nicht – von sich.
„In der Zeitung steht, Ihr Mann sollte den Bundesverdienstorden erhalten. Könnte es sein, dass ihm jemand diese Auszeichnung neidet? Ich meine, ist vielleicht irgendwer dagegen?“
Zum ersten Mal zeigte Maria Hagemann eine emotionale wenn auch nur kurze, Regung. Sie umklammerte die Schreibtischkante so stark, dass ihre Handknöchel weiß wurden, und starrte sekundenlang stumm aus dem Fenster, das zur Straßenseite hinausging.
Dann drehte sie sich zu den Beamten um und sagte mit fester Stimme: „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Mein Ehemann und ich hatten nicht mehr viele Gemeinsamkeiten, im letzten ... in letzter Zeit. Deshalb weiß ich auch nicht, ob er Neider hatte oder, wie Sie es ausdrücken wollen ... ihm irgendjemand die Auszeichnung missgönnte. Am besten fragen Sie die Leute, mit denen er ständig beisammen war. Die Adressen dürften auch in dem Buch stehen. Nehmen Sie es gerne mit.“
Das ließ sich Nicole nicht zweimal sagen und steckte den Terminkalender in ihre Handtasche.
„Den Computer brauchen Sie doch bestimmt auch?“
„Eh ... ja, danke, Frau Hagemann“, erwiderte Lars. „Die Festplatte des Rechners würde uns schon genügen.“
„Obwohl Heinz nie wirklich über seine Arbeit geredet hat, kenn ich mich ein bisschen in der Polizeiarbeit aus“, erklärte Maria Hagemann, als sie Lars‘ überraschten Gesichtsausdruck sah. „Und ja, gewiss waren ihm damals nicht alle wohl gesonnen. Hauptsächlich die, die er für lange Zeit ins Gefängnis brachte; was nicht verwunderlich ist, oder?“
Die Frau lachte freundlos auf. „Aber, das ist schon so lange her. Wieso sollte jetzt ...?“ Dann machte sie eine einladende Handbewegung. „Schauen Sie sich ruhig hier um. Falls Sie doch noch einen Kaffee möchten … ich bin unten.“ Sie ging aus dem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu.
„Ich hätte ja alles erwartet“, sagte Nicole, „aber nicht das.“
„Vielleicht steht die Frau ja nur unter Schock.“
Das Stirnrunzeln seiner Chefin verriet Lars, dass sie nicht wirklich daran glaubte und er eigentlich auch nicht.
„Allerdings denke ich, dass sie etwas vor uns verbergen will. Hast du gesehen, dass sie ganz fix, als wir in die Küche kamen, etwas in ihre Schürze steckte?“
Lars nickte. „Was es war, konnte ich aber nicht sehen. Du glaubst aber doch nicht, dass sie ihren Mann ermordet hat?“
„Für irgendwelche Annahmen ist es noch zu früh“, entgegnete Nicole. „Aber wenn … dann hatte sie einen Helfer. Einen über 1 Meter 70 großen und zirka 80 Kg schweren Mann aus einem Kofferraum zu heben und die Treppe am Turm hinunterzutragen, dazu braucht es schon einige Kraft. Frau Hagemann ist meines Erachtens etwas über 1 Meter 60 groß und dürfte zwischen 60 und 65 kg wiegen.“
Nicole durchsuchte die – sie hatte es fast erwartet – nicht abgeschlossenen Schubladen des unter dem Schreibtisch stehenden Metallcontainers. Fand darin aber nur Kopierpapier und Farbpatronen für den Drucker, sowie Klarsichtfolien und allerlei andere Dinge für Büroarbeiten; alles sorgfältig sortiert und gestapelt.
Sie drehte sich den Fotos an der Wand über der Biedermeierkommode zu. Ausnahmslos Aufnahmen von Vereinsveranstaltungen, vermutlich zu irgendwelchen feierlichen Anlässen. Nicht ein einziges Foto, auf dem Hagemann mit seiner Frau zu sehen war, geschweige denn eines von Daniel, seinem Sohn. Auch unten, im Wohnzimmer hatte Nicole keine Familienfotos gesehen.
Inzwischen hatte Lars sich die, nach dem Alphabet im Regal einsortierten, Ordner vorgenommen. Wie schon auf den Ordnerrücken ersichtlich, handelte es sich um Unterlagen von Vereinen und Gesellschaften. Er blätterte gelangweilt darin herum und sagte: „Der Mann war äußerst penibel, was seine Ablage betrifft. Hätte genauso gut Finanzbeamter sein können.“
„Die Spurensicherung fand vor Ort kein Handy und hier sehe ich auch keins. Bei all seinen Tätigkeiten musste er doch erreichbar sein.“
„Fragen wir die Ehefrau“, schlug Lars vor, schnappte sich die inzwischen ausgebaute Festplatte und ging vor Nicole die Treppe hinab.
„Ja, Heinz besaß ein iPhone“, bestätigte Maria Hagemann. „Das hatte es immer bei sich. Ebenso wie die Hausschlüssel und seine Brieftasche. Da war er sehr eigen. Wenn Sie es nicht gefunden haben, wird der Täter wohl alles an sich genommen haben. Oje, dann muss ich wohl sofort das Schloss austauschen lassen.“
„Das wird das Beste sein, Frau Hagemann“, bestätigte Lars und wunderte sich erneut, wie die Frau in einer solchen Situation so logisch denken konnte.
„Können Sie uns bitte die Nummer des Handys Ihres Mannes geben? Vielleicht haben wir Glück und wir können es orten.“
„Auswendig weiß ich die nicht. Da müsste ich in meinem Notizbuch nachschauen. Einen Moment.“
Erneut ging Maria Hagemann in den ersten Stock und kam nach kaum zwei Minuten wieder zurück.
Die Sache mit Hagemanns Bekleidung schwirrte Nicole noch immer im Kopf herum. Jetzt wollte sie es wissen.
„Hatte Ihr Mann, außer den Vereinsaufgaben noch andere Hobbys? War er vielleicht in einer Theatergruppe, oder hatte er etwas mit dem Heimatverein zu tun?“
„Heinz?! Keinesfalls. Wieso fragen Sie?“
„Nun, weil ..., weil Ihr Ehemann in der historischen Seligenstädter Tracht der Frauen gefunden wurde.“ Nicole zeigte das Foto auf ihrem Handy. „Können Sie sich das erklären?“
Maria Hagemann schüttelte den Kopf, lachte dann hysterisch auf und bekam einen Hustenanfall. „Bitte, entschuldigen Sie. Aber, das ist ..., das ist absolut absurd.“
„Besitzen Sie eine solche Tracht?“
„Ja, sie hängt in einem Schrank auf dem Dachboden. Ich war schon seit Jahren nicht mehr dort oben. Sie glauben doch nicht, dass ...? Bitte, ich zeige sie Ihnen.“
Auf dem Speicher angekommen, öffnete Maria Hagemann einen alten Kleiderschrank.
„Das gibt es doch nicht. Sie ist nicht mehr da.“
Sie blätterte durch die, auf Bügel hängende Kleidung. Danach bückte sie sich und durchwühlte auf dem Boden stehende Kartons.
„Hier fehlen auch aussortierte Hosen und Pullover von Daniel, die ich zur Kleidersammlung bringen wollte, dann aber vergessen hatte, als er ... nachdem er fortgelaufen war.“
Noch immer kniend drehte sie sich zu dem Kriminalbeamten um. „Was bedeutet das?“
„Vermutlich handelt es sich um Ihre Tracht, in der ihr Ehemann gefunden wurde“, sagte Lars halblaut.
„Um genau festzustellen, ob es sich tatsächlich um das gleiche Kleidungsstück handelt, benötigen wir von Ihnen eine DNS-Probe. Wenn Sie damit einverstanden sind, schicken wir einen Mitarbeiter der Kriminaltechnik vorbei.“
Maria Hagemann nickte träge. Scheinbar in Gedanken stieg sie vor den Beamten die Treppen hinab.
„Geben Sie mir bitte Bescheid, falls Ihnen neue Erkenntnisse vorliegen?“, sagte sie an der Haustür.
Neue Erkenntnisse? Schon wieder diese Ausdrucksweise, wunderte sich Lars erneut.
„Ja, sicher. Und, falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.“
Nicole reichte Maria Hagemann ihre Visitenkarte. „Ach, hätte ich fast vergessen. Welchen Wagen fährt Ihr Mann?“
„Einen alten Citroën. Wieso? Der steht in der Garage.“
Lars schüttelte den Kopf. „Die Garage ist offen, aber kein Auto weit und breit.“
Maria Hagemann stürzte an den Beamten vorbei und aus dem Haus. „Das verstehe ich jetzt nicht. Heinz fuhr immer mit dem Fahrrad zu seinen Vereinsabenden. Aber sein Fahrrad steht hier, neben meinem.“
„Wir veranlassen die Fahndung nach dem Wagen“, versprach Nicole. „Wenn Sie uns Modell und Kennzeichen geben?“
Sobald die Beamten auf der Straße und aus Maria Hagemanns Blickfeld verschwunden waren, holte sie ihr Handy aus der Schürze.
„Die Polizei war gerade hier“, tippte sie auf die Mailbox. „Sie sagten dein Vater ... Heinz wurde ermordet und er hätte meine Seligenstädter Tracht angehabt. Ich kann mir das nicht erklären. Sein Wagen und sein Handy sind auch weg. Die Polizei sucht jetzt danach. Ich verstehe das alles nicht. Du hast doch nichts damit zu tun, oder? Ruf mich bitte an oder schicke mir eine Nachricht, damit ich weiß, dass es dir gut geht.“
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