Kitabı oku: «Die Musik der Zukunft», sayfa 2
Erster Akt: 1913
1.1 Ballast
Am 1. November 2010 war ich bei einer Diskussionsveranstaltung mit Terry Riley im Café Oto in London. Während des langen Gesprächs auf der Bühne beantwortete der Komponist von In C und A Rainbow in Curved Air Fragen zu seinen frühen Arbeiten mit Magnetbändern, seinen Freundschaften zu Musikern wie La Monte Young und Pandit Pran Nath – und nach seiner Lieblingsfarbe.
Gegen Ende der Veranstaltung nahm ich endlich allen Mut zusammen und stellte die Frage, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte. »Man hat sie einen ›visionären‹ Komponisten genannt«, begann ich mit vielen »Hms« und »Ähs«. »Also wie stellen Sie sich die Musik der Zukunft vor?«
Meine Frage rief eine Menge Lacher hervor, die sowohl von der Bühne als auch aus dem Publikum kamen und die mir spöttisch erschienen. »Sie setzen mir die Pistole auf die Brust!«, erwiderte Riley lachend. Ich stellte mir vor, wie er heimlich die Sicherheitsleute heranwinkte.
Doch das tat er natürlich nicht. Jeder, der schon einmal im selben Raum wie Terry Riley gewesen ist, kennt ihn als einen sehr warmherzigen Mann. Er ist die Sorte Mensch, mit dem man gerne Weihnachten verbringen möchte. Man kann ihn sich als jemanden vorstellen, der am Ende eines Films dem Helden auf die Schulter klopft; Gott sei Dank ist alles wieder in Ordnung. »Alles, was ich sagen kann«, antwortete er schließlich, »ist, dass ich hoffe, dass es überhaupt eine Zukunft gibt.« Der Moderator lenkte das Gespräch dann schnell auf andere Themen.
Wer kann es ihm verübeln? Wie lässt sich so eine Frage beantworten? Bereits sie zu stellen war mir peinlich. Doch zugleich machte ich mir Sorgen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schien »die Zukunft der Musik« in aller Munde zu sein. Alle paar Monate erschien ein Buch oder ein Artikel mit diesem oder einem ähnlichen Titel. In den meisten Fällen kamen diese Texte nicht von Musikern. Zumindest wirkte es so. Es schien, als ob die Zukunft der Musik nicht in den Händen von Musikern lag, sondern von Technikern: Entrepreneure aus dem Dot-Com-Milieu, Gurus des Digital Marketing, Social-Media-Ninjas und Dauergäste bei Technik- und Innovationspräsentationen. Selbst wenn sich Musiker einmal zu Wort meldeten, wurde die Diskussion so sehr vom Rauschen aus dem Silicon Valley übertönt, dass ihnen wenig anderes übrigblieb, als zustimmend zu nicken oder als verrückte Maschinenstürmer zu erscheinen, die voller Nostalgie versuchen, den Phonographen zurückzubringen.
Ich versuchte, jemanden mit einer anderen Perspektive zu finden, jemanden, der mehr wusste als wie sich mit Torrents Geld verdienen lässt oder wie man ein YouTube-Imperium aufbaut. Die Musiker selbst schienen mir da eine gute Anlaufstelle.
Immerhin gibt es eine weit zurückreichende, originäre Tradition des Nachdenkens über die Zukunft in der Musik. Lange bevor amerikanische Militäringenieure von der Symbiose aus Mensch und Maschine träumten, stellte sich Hector Berlioz das Orchester als kybernetischen Organismus vor, eine lebende, atmende Fabrik. Und lange bevor sich Hippies auf dem Weg »zurück zur Natur« mit der Welt der profitorientierten Forschung zusammentaten, um den Computer zu einem Werkzeug globaler Kommunikation zu machen, imaginierte Richard Wagner schon eine Vereinigung von Zukunftsmusikern und hielt die Oper für ein Mittel, um sie zu verwirklichen. Tatsächlich galt die Oper lange als das bevorzugte Vehikel in die Zukunft, angefangen beim Wagner’schen Gesamtkunstwerk bis zu den russischen Futuristen. Die Oper versprach eine Welt auf der Bühne, eine Zeit jenseits der Uhr.
Unverzagt setzte ich meine Suche fort und ungefähr fünf Jahre später hatte ich die Möglichkeit, es noch einmal zu versuchen.
Ich verbrachte das Wochenende auf einem Musikfestival namens Borealis in der norwegischen Stadt Bergen. Ich kam am Donnerstagnachmittag an und verbrachte den Rest des Tages damit, mich in den verschlungenen, kopfsteingepflasterten Straßen der Stadt zu verlaufen. Vor allem erinnere ich mich daran, wie ich auf der Suche nach einem Konzerthaus im Hafenviertel, nördlich des Stadtzentrums, orientierungslos und von Nordseewinden geplagt, aufgab – nur um dann direkt in die Halle zu stolpern, den ich gesucht hat. Ich schlüpfte in den hinteren Teil des Veranstaltungsraums und war mitten in einer mucksmäuschenstillen Vorführung des lokalen Kammerorchesters. Später am Abend gelang es mir zum Glück, von jemandem zum Cornerteatret gefahren zu werden, wo die amerikanische Gruppe Object Collection ihre neue Oper It’s all true aufführte.
Ich kam ein bisschen zu früh und merkte schnell, dass es nirgends in der Nähe etwas zu essen gab. Den ganzen Tag war ich ahnungs- und orientierungslos herumgelaufen und hatte verzweifelt versucht, nichts vom Programm zu verpassen und war inzwischen am Verhungern. Meine Möglichkeiten waren beschränkt. Ich bestellte eine Schale Erdnüsse und ein paar Oliven an der Bar. Mit einem Salz-und-Essig-Geschmack im Mund nahm ich meinen Platz ein, sehr unvorbereitet für das, was nun passieren sollte.
It’s all true war das komplette Gegenteil eines Abends in der Semperoper. Die beiden Autoren des Stücks, Kara Feely und Travis Just, hatten ihre Komposition damit begonnen, dass sie sich mehr als 1000 Stunden Amateuraufnahmen der amerikanischen Post-Hardcore-Band Fugazi aus den Jahren 1986 bis 2002 ansahen. Sorgfältig orchestrierten und notierten sie jedes gesprochene, gesungene oder gerufene Wort, jede zufällig oder absichtlich gespielte Note – sie verwendeten alles, außer den eigentlichen Songs der Band. Das Ergebnis, ein Stück für vier elektrische Gitarren, zwei Schlagzeuge und vier Schauspieler-Sänger, ist eine zusammenhangslose Collage aus akkumulierten Outtakes, eine epische Tragikkomödie über eine Band, die sich selbst viel zu ernst nahm, ein lautstarker Angriff auf die Politik im Amerika der Clinton-Bush-Jahre und nicht zuletzt auf die Ohren des Publikums. Es handelt sich um ein kompromissloses Werk, eine Kakophonie aus gleichzeitig ausgeführten Aktionen, die während der gesamten zwei Stunden dasselbe fiebrige Level an Intensität hält. Als das Publikum aufstand, sah es im positiven Sinne verstört aus. Hatte ich Schäden davongetragen? Ich war mir nicht sicher.
In den nächsten Tagen wurde klar, dass das Publikum die Oper äußerst unterschiedlich bewertete. Viele waren begeistert, andere verwirrt oder sogar irritiert. Ich hörte mehrere Leute sagen, dass das Stück zu lang gewesen sei oder dass ihm die Trennung zwischen den Teilen fehlte. Doch in jedem Fall war die Oper das Thema, über das alle sprachen. Besucher, die das Theater geradezu wütend verlassen hatten, diskutierten noch drei Tage später über das Stück und begannen dann ihre eigene Reaktion infrage zu stellen. Erst später habe ich begriffen, wie treu It’s all true sich an die ästhetischen Vorstellungen von Richard Foreman hielt, die er in den frühen 1970er Jahren in seinen »ontologisch-hysterischen« Manifesten niedergelegt hatte.
Foreman, dem sowohl Feely als auch Just bei Produktionen in New York assistiert hatten, wollte die Bühne »zerstören«, aber »vorsichtig, nicht mit Mühe«, wie er sagte, »sondern mit delikaten Manövern«. Foreman hatte Ende der 1950er einen Abschluss an der Brown University gemacht und dort die Theatergruppe The Production Workshop gegründet. Als er in seine Heimatstadt New York zurückkehrte, mischte er sich unter die Experimentalmusiker und Filmemacher wie La Monte Young und Jack Smith, die damals gerade dabei waren, alles Mögliche in ihren jeweiligen Kunstformen über den Haufen werfen.
1967 schließlich begann Foreman das Theater in seiner zeitgenössischen Form für »lächerlich in all seinen Manifestationen« zu halten. Er wollte wieder ein Gefühl für Gefahr auf die Bühne bringen und das Publikum mit einem »Perpetuum mobile« aus gleichzeitigen und doch widersprüchlichen Handlungen konfrontieren. »Die künstlerische Erfahrung«, schrieb er 1971, »muss eine Tortur sein, der man sich unterzieht.« Ja, dachte ich, als ich das las, genau so war It’s all true.
Am Freitagmorgen veranstaltete die Kunsthalle Bergen eine Diskussion über die »große Zukunft der Oper«. Just und Freely saßen mit anderen Teilnehmern des Festivals – Lore Lixenberg, Jennifer Walshe, Lars Petter Hagen – auf dem Podium, um zu diskutieren, »was die Zukunft für die Oper bereithält«. Über weite Strecken unterhielten sich die Sprecher allerdings über die Vergangenheit der Oper, klagten über den »Ballast«, der auf dem Wort laste und ergingen sich in verschiedenen Ausweichstrategien.
»Die Geschichte der Oper«, sagte Lixenberg, »ist in gewisser Weise ein Fluch.« Die berühmte Mezzosopranistin gab zu, dass es manchmal ein »Hindernis« sei, in einem Gespräch auf der Straße die Oper zu erwähnen. »Doch eigentlich ist die Oper immer noch wunderbar, relevant und eine zauberhafte Sache«, fuhr sie fort. »Nehmen wir die Aufführung von Object Collection gestern Abend: Das Spannende war die perfekte Verschmelzung von Bild, Musik und Text und es entstand etwas, das größer ist als die Summe seiner Teile.«
Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde öffneten sie die Diskussion für das Publikum. In Anspielung auf den Titel des Panels fragte ich: »Warum treten die beiden Worte – Oper und Zukunft – zusammen auf? Was ist die Verbindung zwischen Oper und Zukunft?«
Dieses Mal gab es kein Gelächter. Nur Schweigen. Eine schmerzhafte Stille tat sich auf zwischen den Menschen auf dem Podium, sitzend und mit Mikrofon, und mir, im Schneidersitz, schwitzend im Publikum. Schließlich antwortete Travis Just, wenn auch eher kurz.
Gut ein Jahr zuvor hatte Just einen Aufsatz namens »After Opera« im siebten Band der von John Zorn herausgegeben Reihe Arcana geschrieben. Dort stritt Just für eine tiefgreifende Neubewertung des Genres. Jedes Element aus der Standarddefinition der Oper – die Musik, der Text, das Schauspiel –, alles sei inzwischen so oft durcheinandergeworfen worden, dass die Definition eigentlich nutzlos sei. Besser wäre es, nach dem zu streben, was er eine »Antisynthese« quasi-autonomer Elemente nannte, die um ein abwesendes Zentrum kreisen. Die Oper, so argumentierte er, sei ein paradoxes, absolut »unvollständiges Kunstwerk« und gerade deswegen voll von Möglichkeiten. Als ich ihn nach der Verbindung der Oper zur Zukunft fragte, sagte er: »Ich würde gern in der Zeit zurückreisen. Aber das ist keine Option.«
Noch mehr Stille.
Nach dem Vortrag stand ich vor der Kunsthalle und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Mary Miller, die Direktorin der städtischen Oper, trat aus dem Haupteingang. Ich hatte sie während des Vortrages im Publikum gesehen. Im Vorbeigehen warf sie mir einen merkwürdig fragenden Blick zu, aber sie lief trotzdem weiter. Dann, nach ein paar Schritten, hielt sie an und machte kehrt. Als sie zurück an die Stelle kam, wo ich stand, sah sie aus, wie jemand, der angestrengt über etwas nachdenkt. »Das ist wirklich eine interessante Frage«, sagte sie. »Ich meine, nach der Zukunft der Literatur hat noch niemand gefragt…«
Sie hatte recht. Die Veranstaltung, die wir besucht hatten, stand im Kontext einer ganzen Reihe von Artikeln über die Zukunft der Oper, von denen keiner optimistisch war. 2013 hatte die New Yorker Oper Insolvenz angemeldet. Die Hälfte aller Opernhäuser in Italien sind angeblich pleite. Auch der englischen Nationaloper in London ging es nicht besser. »Wer kümmert sich um die Zukunft der Oper?«, fragte The Daily Telegraph am 1. September 2015. Bei dem Battle-of-Ideas-Festival im Barbican Centre einen Monat später hieß ein Panel »Eine sterbende Kunst? Die Zukunft der Oper«.
In vielen anderen Artikeln jener Zeit zeigten sich alle, von der Verwaltung bis zu weltberühmten Tenören, besorgt darüber, ob die »Zukunft der Oper in Gefahr« sei. In den meisten dieser Debatten verbargen sich eine Reihe alter Vorurteile: dass die Oper ein altmodisches, elitäres, steifes, unnatürliches Genre sei, eine Verschwendung von Steuergeldern, verhätschelt und zahnlos, hoffnungslos irrelevant für junge Leute und ohne Verbindung zur modernen Welt. All diese Dinge wurden seit dreihundert Jahren behauptet; und alles wurde widerlegt von der Aufführung von It’s all true am Abend zuvor.
1.2 Tropenfisch-Oper
Bei der Lektüre der Texte, die sich über den Zustand der Oper den Kopf zerbrechen, bekommt man den Eindruck, dass es sich bei der Kunstform um eine geschlossene Welt bizarrer Rituale handelt, als sei sie absichtlich verschlüsselt, damit die von Lore Lixenberg erwähnten einfachen Leute sie nicht verstehen. Das Gegenteil ist der Fall.
»Der Begriff der Oper ist im Moment vollkommen offen«, hatte Lars Peter Hagen irgendwann am Anfang des Gesprächs in Bergen gesagt. Hagen hat selbst eine Reihe faszinierender Opern komponiert, einschließlich einer »Dokumentar-Oper«, die er mit dem Künstlerduo Goksøyr & Martens produziert hat; geschrieben und aufgeführt wurde sie mit Schülern der Barnato Park High School in Johannesburg, basierend auf Materialien aus ihren eigenen Träumen. Seit 2009 ist er außerdem der künstlerische Direktor von Ultima, Norwegens größtem Festival für zeitgenössische Musik.
Im Herbst 2015 hatte ich das Glück, das Festival zu seinem 25. Jubiläum in Oslo zu besuchen. Es war inspirierend, einen solchen Aufwand für die neue Musik zu sehen. In Zusammenarbeit mit Gruppen aus Kulturrat und der Stadtregierung brachte Ultima Künstler aus der ganzen Welt zusammen, um mit den besten Ensembles des Landes zusammenzuarbeiten und neue, experimentelle Stücke in der städtischen Konzerthalle, einigen der besten Musiktheater und sogar dem nationalen Opernhaus aufzuführen. Das Konzert jedoch, das mich am meisten beeindruckte, fand an keinem dieser Orte statt. Aufgeführt wurde es draußen auf der Straße.
Es begann am Mittag auf einem Parkplatz mit acht jungen Männern in schwarzen Jeans, schwarzen Jacken und weißen Ohrstöpseln, die auf einem großen Stahltor trommelten. Mehrere Minuten lang standen sie in einer Reihe und schlugen immer und immer wieder mit Stäben auf das Metall. Jeder der Perkussionisten erhielt jedoch über seinen Kopfhörer seinen eigenen Takt, wodurch die Rhythmen wie Wellen pulsierten, ganz wie in einem der Tonbandstücke von Steve Reich.
Kurz darauf rannten sie los, durch das Tor, die Straße hinauf, schlugen mit ihren Stöcken auf den Asphalt, die Wände, Schilder, was auch immer, den verborgenen Resonanzen der Stadt auf der Spur. Sie rannten durch enge Seitenstraßen und folgten dabei einer gesprochenen Choreographie, die über Mobiltelefone direkt an ihre Kopfhörer übermittelt wurde. Manchmal hielten sie alle bis auf einen Künstler an, der ein paar Takte lang seinen eigenen Rhythmus weiterklopfte, bevor die anderen wieder einstimmten. Je weiter sie in die belebteren Teile der Stadt gelangten, umso mehr schien es, als ob all die Geräusche, die wir hören konnten, zu einem Teil des Konzerts wurden, eingerahmt von einem sich ständig verändernden Rhythmus, verwandelt in Musik: Das Aufheulen eines Autos, das Piepen einer Ampel und das Singen der Vögel in den Bäumen wurden zu Basslinie, Ostinato und Führungsstimme eines polyrhythmischen Stücks.
Irgendwann, nach gut 45 Minuten endete Sound Stencil 0.1 von Koka Nikoladze damit, dass alle acht Trommler auf einem großen Mast in der Mitte der Stadt spielten. Ich weiß nicht, wie sich das Ganze für all die Menschen angefühlt haben muss, die einfach nur einen Samstag verbrachten und hier und da etwas von dem Spektakel mitbekamen. Doch der Reise von Anfang bis Ende zu folgen, erweckte jeden Teil der Stadt zum Leben.
Nikoladzes Komposition brachte fast alle Elemente zusammen, die wir normalerweise mit dem Opernhaus verbinden: Musik, Tanz, ein ausgreifendes Bühnenbild, sogar eine Art Narrativ, insofern als sich die Gruppe von dem jüngst wiederaufgebauten Stadtviertel Grünerløkka im Norden, durch verschiedene Wohn- und Shoppingviertel zu Oslos zentralem Platz bewegte, der nach dem einst reichsten Bewohner der Stadt benannt ist. Mit Blick auf die Definition der Oper als »Möglichkeitshorizont von Wirkungs- und Wahrnehmungsweisen« von dem österreichischen Komponisten Peter Ablinger, eine Bestimmung, die Klanginstallationen, Instrumentaltheater und interaktive Musikformen einschließt, ist Nikoladzes Werk besonders eindrücklich. Was Ablinger über diejenigen zeitgenössischen Opern sagt, denen sein größtes Interesse gilt, gilt auch für Sound Stencil 0.1: Der Zuhörer wird in das Werk gezogen, damit er »sich selbst beim Wahrnehmen wahrnimmt.«
Ablinger gibt zu, dass diese Definition vom »historischen« Verständnis der Oper abweicht. Doch er ist sich auch bewusst, dass es für solche Abweichungen selbst ausreichend historische Beispiele gibt. La Monte Youngs Poem, a Chamber Opera in One Act vom Mai 1960 kombinierte gesprochenen Text mit Einsprengseln von Beethoven, elektronischer Musik, Menschen, die sich sprechend und singend durch das Publikum bewegen und einigen anderen Darstellern, die auf der Bühne ein Frühstück zubereiten.
Bei dem letzten Konzert aus der Sonics-Reihe, das Pauline Oliveros und Ramon Sender 1962 am Konservatorium San Francisco organisierten, wurde eine Smell Opera aufgeführt, bei der Mitglieder der Halprin Dance Company sich durchs Publikum bewegten und Parfümproben versprühten, während dazu ein gesprochenes Religionsdrama aus dem Lautsprechern kam, von einem Tonband, das einer der Komponisten auf der Straße gefunden hatte. Noch am selben Abend wurde bei Senders Tropical Fish Opera ein großes Aquarium auf die Bühne gebracht, um als Partitur für Musik von Sender, Oliveros, Morton Subotnick und Loren Rush zu dienen, wobei die Komposition von den Bewegungen der Fische vorgeben wurde.
Als Laurie Anderson in den späten 1970er Jahren begann, in New York aufzutreten, war sie Teil eines Milieus von Bildhauern, Malern, Performancekünstlern, Komikern und Musikern, die »zu einem bestimmten Zeitpunkt«, wie sie 2010 am Telefon erzählte, »alle an Opern arbeiteten. Wir nannten das so. Und es war wirklich merkwürdig«, fuhr sie fort, »man ging die Straße entlang, traf sich und fragte: Wie läuft Deine Oper? Meine läuft gut, und deine? Jeder machte das und wir hatten keine Ahnung, was das sein sollte.«
1.3 Jeder Strich, Fleck und Klecks
Um die Geschichte der Oper bis zu diesem Punkt zu verstehen, ist es hilfreich, drei aufeinanderfolgende Bemerkungen aus Sol Le Witts »Sätze über konzeptuelle Kunst« zu betrachten. »Alle Ideen sind Kunst, wenn sie sich auf Kunst beziehen und innerhalb der Konventionen von Kunst liegen«, lautet der 17. Satz in dem Manifest des Künstlers von 1969. Der 19. und 20. Satz lauten folgendermaßen: »Die Konventionen von Kunst werden durch Kunstwerke verändert«, und: »Gelungene Kunst verändert unser Verständnis der Konventionen, indem sie unser Erkenntnisvermögen verändert.«
Wie im Falle der Konzeptkunst geht es auch bei der Oper heutzutage nicht um einen bestimmten Inhalt oder eine feststehende Form, sondern um einen beweglichen Punkt in einem dynamischen Kontinuum, dessen Entwicklung bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Jeder Schritt auf dieser Reise, jedes große Werk und jede hitzige Debatte hat die Art und Weise verändert, wie wir die Zukunft der Kunst und ihre Vergangenheit verstehen. Der Versuch, die Oper ein für alle Mal zu definieren und ihre Eigenschaften festzuschreiben, aufgespießt wie eine seltene Schmetterlingsart auf einem Brett, wird unvermeidlich vergebens sein, denn es wird immer jemand auftreten und sagen: Ah! Aber was ist denn mit…?
1956 zum Beispiel veröffentlichte der Musikwissenschaftler Joseph Kerman sein Buch Opera as Drama, das bald vom New Grove Dictionary of Opera als das »einflussreichste Buch über die Oper in der englischsprachigen Welt« gefeiert wurde. Kerman geht es explizit darum, die Oper als »eine musikalische Form des Theaters« neu zu bestimmen. Eine ganz andere Perspektive entwickelte Robert Ashley, der im selben Jahr vom Militär nach Ann Arbor im Bundesstaat Michigan zurückkehrte und begann, in einem Sprachforschungsinstitut der Bell Laboratories zu arbeiten, um die Stimmsynthese und die Ursachen des Stotterns zu erforschen. Im folgenden Jahr trat er mit einem Freund, Gordon Mumma, die Rolle des Hauskomponisten am sogenannten Space Theatre der University of Michigan an, ein hochmodernes Arrangement aus Bildprojektionen und farbigen Lichtern, die zu elektronischer Musik über die Bühne tanzen. Beide Erfahrungen bildeten den Grundstein für eine Reihe von Opern, die Ashley fünf Jahre später mit In Memoriam … Kit Carson begann.
Ashleys Opern – vor allem Perfect Lives, eine siebenteilige »Fernsehoper«, entwickelt in den späten 1970er Jahren in der Galerie The Kitchen in New York, ausgestrahlt von Kanal 4 im Jahr 1983 – enthalten eine Vielzahl widerstrebender Elemente, vielschichtige Geschichten, lebendige Bilder und interessante Musik (letztere wird oft elektronisch hergestellt). Was sie allerdings meist nicht benötigen, ist ein Opernhaus, ein imposantes Bühnenbild, einen Orchestergraben (oder überhaupt ein Orchester), Belcanto-Gesang oder überhaupt so etwas wie Dramatik – im Sinne dessen, was damals darunter verstanden wurde (Kerman hatte mit Verweis auf T.S. Eliot von der »Antwort der Personen im Stück auf die Handlungselemente« gesprochen).
Da das damals vorherrschende Modell der Dramatik, wie zeitgleich auch Richard Foreman zu begreifen begann, zunehmend kitschig wirkte, bevorzugte es Ashley, »die Menschen tun zu lassen, was sie normalerweise tun, nur mit einem anwesenden Publikum.« Heute gilt sein Werk als einer der wichtigsten Beiträge zur Entwicklung der Oper in den letzten 100 Jahren; für die Zeitschrift Fanfare war Perfect Lives »nicht weniger als die erste amerikanische Oper«. Die irische Komponistin Jennifer Walshe, die an jenem Panel in Bergen teilnahm, nannte Ashley »einen der besten Opernkomponisten, den es jemals gegeben hat.«
»Es ist nicht so, als seien wir im Jahr 1905 angekommen und hätten dann einfach 100 Jahre übersprungen«, sagte Travis Just in derselben Diskussion. »Es gibt eine lange und reichhaltige Geschichte von allen möglichen verrückten Dingen.« »Aber wenn es nur darum geht, dass etwas sehr groß ist und wir es deswegen dann Oper nennen«, widersprach eine Stimme aus dem Publikum, »warum nennen wir es dann nicht einfach ›Happening‹?«
»Eine Oper kann etwas sehr Kleines sein«, antwortete Just, während er einen Fuß auf sein Bein legte und an seinen Schnürsenkeln zu ziehen begann. »Ich mache gerade eine hier mit meinen Schnürsenkeln.« Travis Just wollte nicht provozieren. Aber ebenso wenig sollte dieses breite Verständnis von Oper nicht als Zeichen des Verfalls oder einer Anything-goes-Haltung missverstanden werden.
»Es gibt ja Leute, die genau so etwas machen«, sagte Lars Petter Hagen.
»Ich weiß«, antwortete Just.
Was Travis Justs Generation von Musikern wie Laurie Anderson trennt, ist wahrscheinlich, dass sie eben genau wissen, was es ist, das sie da tun. Experimentelle Kunst ist heute selten ein Schuss ins Blaue; viel eher ist sie eine bewusste Auseinandersetzung mit einer detailreichen und oft widersprüchlichen Geschichte. Zeitgenössische Komponisten sind sich dieser Geschichte sehr bewusst. Es ist geradezu schwer, das nicht zu sein. Es gibt so viele Informationen, im Internet oder gedruckt, so viele neu aufgelegte alte Aufnahmen, so viele Videoaufzeichnungen auf YouTube oder UbuWeb, dass die schiere Menge des Materials fast wie ein Ballast wirken kann, wie eine Last, die man auf seinen Schultern trägt. Als Simon Reynolds am Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts sein Buch Retromania schrieb, brachte er darin die Sorge zum Ausdruck, dass diese überwältigende Präsenz der Vergangenheit die »größte Gefahr für die Zukunft unserer Musikkultur« sein könnte.
»Das Verhältnis zur Geschichte ist heute für viele Leute wichtiger denn je«, sagte Lars Petter Hagen auf dem Panel in Bergen. »Der Traum der Moderne, etwas vollkommen Neues zu schaffen – daran glaubt niemand mehr.«
Ich glaube allerdings, dass ständig neue Dinge entstehen. Allein in den wenigen Tagen, die ich in Bergen verbracht habe, konnte ich sehen, wie das amerikanische Kollektiv Ensemble Pamplemousse komplexe, wohl durchdachte Musik mit computergesteuerten Kolbenflöten machte. Ich sah ein Stück des dänischen Komponisten Simon Løffler, bei dem das Publikum auf einen Holzdübel beißen musste, damit es die Musik durch die Zähne spürt. Ich sah die Footwork-Produzentin Jlin, wie sie elektronische Tanzmusik in neue Sphären rhythmischer Komplexität und digitaler Psychedelik trieb, ein Strom von sprudelnden Polyrhythmen, die übereinander stolperten wie auf die Tanzfläche ausgeschüttete Perlen.
Doch zugleich hörte ich in meinem Kopf die Stimme des Autors Owen Hatherly, der über die jüngere Popmusik einmal sagte: »Ein gut informierter Beobachter aus dem Jahr 1976, der sich plötzlich der avanciertesten Musik von 1996 ausgesetzt sieht, hätte etwas vollkommen Fremdes vor sich. Aber ein ebenso gut informierter Zeitgenosse von 1996, der ins Heute reist, würde vielleicht ein paar interessante Entwicklungen feststellen, aber sie wären für ihn eben genau das: mehr oder weniger Verlängerungen eines schon bekannten Feldes. Er müsste gar nicht fragen: Was ist das?«
Ich bin mir nicht sicher, ob ich die These teile, dass das Neue von unserem scheinbar grenzenlosen Zugang zum Alten verschlungen wird. Alle Künstler wissen, wie inspirierend es sein kann, das Werk und die Ideen anderer großer Künstler kennenzulernen. Viele Künstler der Vergangenheit, die wir heute als große Revolutionäre ansehen, waren einfach sehr gut unterrichtet über ihre Vorgänger. Es leuchtet mir einfach nicht ein, dass Originalität durch ein Wissen über die Vergangenheit ausgeschlossen wird. Hat nicht schon George Santayana gesagt: »Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.« Sollte dasselbe nicht auch für die Musik gelten?
Vielleicht ist das Problem gar nicht die Geschichte, sondern die Art und Weise, wie wir uns zu ihr ins Verhältnis setzen. Während ich Retromania las, dachte ich an den Roman Lobgesang auf Leibowitz von Walter M. Miller. Das Buch wurde 1960 veröffentlicht und spielt sechshundert Jahre nach einer Atomkatastrophe. Äußerst scharfsinnig beschreibt es unsere Kultur der Wiederauflage, der Erneuerung und der Liebe zu aufschlagbaren Vinylplatten mit irgendeinem neuen, vergessenen, aber wiederentdeckten Demotape. Es geht um einen Orden in einem einsamen Niemandsland, wo die Mönche geduldig die Einkaufslisten und trivialen Zettel eines längst verstorbenen Elektroingenieurs auf Lammleder übertragen. Millers Protagonist, Bruder Francis, ordnet die Wiedergabe »jedes Strichs, Flecks und Klecks« von seinem heiligen Relikt, einer alten Blaupause, an, ganz so wie Garage-Rock-Fans wie Billy Childish und Jack White ihr Geld für teure Röhrenstudiotechnik verwenden, alte Aufnahmegeräte fetischisieren und »Lo-fi« Produktionen (Mono, analog, live, unbearbeitet etc.) anstreben. Man tendiert dazu, sich ein goldenes Zeitalter vorzustellen und zu versuchen, es bis ins letzte Detail zu kopieren, ignoriert dabei aber die besonderen gesellschaftlichen Bedingungen, die diese großartigen Arbeiten überhaupt erst hervorgebracht haben. Irgendwann bleibt die Bedeutung im Gerangel um Details auf der Strecke. Und während dessen werden auf kanadischen Konferenzen und in kalifornischen Chefetagen Banalitäten über die Zukunft verbreitet.
Um das Gefühl für die Zukunft, über die die heutigen Künstler nicht zu sprechen scheinen wollen, wiederzuerlangen, mag es notwendig sein, hinter die Vorstellungen des Zukünftigen aus unserer Zeit zurückzugehen, zurück hinter die Idee intelligenter Maschinen, Augmented Reality, Long Tail und Datensonifikation und zu versuchen, etwas vom ursprünglichen Futurismus der Musik wiederzuentdecken. Während die Gegenwart gehemmt und zaghaft wird, unsicher, in welche Richtung sie gehen möchte, könnte es sich lohnen, auf eine Zeitreise zu gehen und zur Musik der Zukunft zurückzukehren.